Von August 2012 bis Oktober 2013 erschienen 15 Beiträge unterschiedlicher Autoren verschiedener Landeskirchen in der Reihe »Fragen und Probleme rund um kirchliche Reformprozesse«. Unklarheiten, Fragen, Verwirrung um Reformprozesse waren Motivation zu dieser Serie; das Ziel: Durchblicke zu ermöglichen; der Ansatz: die kirchlichen oder vergleichbaren Prozesse aus vielen unterschiedlichen Perspektiven und auch Positionen zu sichten, zu bewerten, zu interpretieren.1 Friedhelm Schneider zieht ein Fazit und gibt einen ­Ausblick: Die eigentlichen Probleme scheinen nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft zu liegen.


1. »Eine Kirchenreform, die wohl zum Scheitern verurteilt sein dürfte«2

Die sog. Reformprozesse verlaufen ab einem bestimmten Zeitpunkt in ökumenischer Harmonie. Übereinstimmung herrscht daher ebenfalls auf Seiten der Kritik. Von katholischer Seite warnte Paul Zulehner schon früh: »Das mit dem Einsparen und ›kleiner werden‹ verbundene ›downsizing‹ hat zwei fatale Nebenwirkungen: Das Personal wird depressiv, zugleich bleibt die innere Erneuerung aufgrund einer Sanierungserschöpfung der Gremien auf der Strecke.«3 Genau dies ließ nicht lange auf sich warten: Die Reformprozesse lösen »bei den verantwortlichen Leitungspersonen und den von Veränderungen betroffenen Menschen Gefühle der Unsicherheit, Angst, Ohnmacht, Trauer und Wut aus. Krankenstand und Personalfluktuation steigen an«4 – so Christoph Meyns/Nordkirche5.

Den Sachverhalt aus einer weiteren Kirche mit Implementationshintergund bestätigt Ingrid Schneider/EKiR und fragt: »Wundert es, dass Symptome wie langwierige Krankheiten, Burn-out, Rückzug auf den kleinen Bereich, Mühe Presbyter für dieses Amt zu gewinnen, geschweige denn wirklich Wahlen abzuhalten, zunehmen?«6 Die Sache hat noch eine ökonomische Kehrseite: Es ist »fast tragisch zu nennen, dass in der EKD wichtige Ressourcen für eine Kirchenreform verbraucht werden, die wohl zum Scheitern verurteilt sein dürfte«7, meint Christian Grethlein. Kosten entstanden in Milliardenhöhe8 sind aber, nirgendwo in einer Vollkostenrechnung detailliert nachvollziehbar aufgelistet. Also z.B. für die Kosten der Implementationsprozesse der Doppik, Kosten der Fusionen, nicht zu vergessen Mehrkosten für den laufenden Betrieb (z.B. Doppik, Finanzanlagen) etc. Empirisch ist das bei Experten evident. Christoph Bergner/EKHN: »Insgesamt hat es keine Einsparungen gegeben, sondern Umschichtungen von unten nach oben. Verlierer sind die Gemeinden und der Pfarrdienst. Die Sprache der Reform klingt ökonomisch. Doch die ökonomischen Ergebnisse sind dürftig. Die tatsächlichen Kosten sind hoch.«9 Und werden hoch bleiben. Denn »die Strukturveränderung an sich ist zum Prinzip kirchenleitenden Handelns geworden. Die Anlage dieses Prozesses löst ständig neue Reformen aus. Die Reform ist zur Dauerbeschäftigung geworden«.10

Insgesamt entstanden und entstehen Kosten, die sich niemals werden amortisieren können, selbst wenn dereinst wenigstens ein bescheidener Nutzen sichtbar werden sollte. Eine Opportunitätsbetrachtung würde aufzeigen, was man mit den Unsummen, die in diese Prozesse geflossen sind, an positiven Wirkungen hätte erzeugen können. Vielen LeserInnen werden Projekte einfallen, bei denen mit oft bescheidenem Mitteleinsatz viel hätte bewegt werden können. Schon hier kann man festhalten: die zurückliegende Dekade ist für die Kirchen, die sich der Umsetzung voll gewidmet haben, ein verlorenes Jahrzehnt. Die Ergebnisse werden ebenfalls durch einen Blick auf die Veränderung der statistische Werte von Austritten (ab 2006 wieder steigend) und Eintritten (ab 2006 wieder sinkend) bestätigt (Quelle: idea).



Angesichts der Lage ist Schadensbegrenzung angesagt. Thies Gundlach bemüht die biblische Metapher der Wüste11. Sie impliziert – unausgesprochen – eine lange Durststrecke und eine vage Hoffnung auf blühende Landschaften. Allerdings kann man es auch als durchsichtigen Versuch werten, von der Verantwortung für das Resultat abzulenken. Denn »wo immer eine Organisation schlechte Leistungen erbringt, ist mit ihrem Management (der Führung, Anm. F.S.) etwas nicht in Ordnung«12. Der das schreibt, Prof. Fredmund Malik, St. Gallen, gilt als Doyen der verantwortungsethischen, realwirtschaftlichen Managementlehre.

Was lief schief im Management? Das ist also die Frage. Und wir betrachten mit dieser kleinen Studie die Resultate des bisherigen Reformprozesses gemäß den Kriterien der Akteure – den Kriterien des Managements selbst. Gerade so könnte am Ende die Theologie neu zu ihrem Recht kommen.


2. Eine Annäherung: Reform oder Umbauprozess?

Neu sind seit den 90er Jahren betriebswirtschaftliche Reformansätze. Damit ursprünglich verfolgte Ziele sind ursprünglich noch der demokratisch-emanzipativen Tradition verpflichtet und lauten Transparenz, Partizipation und Nachhaltigkeit13. Doch schon damals positionierte sich auch McKinsey mit einem »pro bono«-Projekt in München. Und landete mit seinem angebotsorientierten Konzept einen ersten Flopp14. Das Impulspapier »Kirche der Freiheit« 2006 zeigte dann, dass diese letztgenannte Richtung den Prozess der Reformen usurpiert hatte. Erstes Indiz: Grethlein weist darauf hin, dass frühere Reformen der evangelischen Kirche stets von den Rändern ausgingen (Wichern, Sulze). Bis in die 90er Jahre, wie partielle Reformen der Nachkriegszeit belegen und von Matthias Hartmann/ELKB, am Beispiel der Kirchenmusik exemplarisch deutlich wurde15. Selbst die betriebswirtschaftlichen Ansätze kamen zuerst eher von kirchlichen Rändern, wie die heterogene Teilnehmerschaft und Orte entsprechender Studientage, etwa die Akademie Bad Boll16, belegen.

Auffällig am Impulsprozess »Kirche der Freiheit« ist demgegenüber laut Grethlein, dass er »geradezu aus der Mitte«, also dem Zentrum der Kirche bzw. von »oben«, ent­springt17. Und siehe da: Ab 2007 wurden kirchliche Tagungen zur Reform für Verwaltungs- und Führungskräfte nicht nur zentralisiert, sondern in ökumenischer Harmonie unter dem Bistum Mainz vereinigt. Bei diesen sog. »KVI«-Kongressen handelte es sich mehr um eine Art Promotion-Veranstaltung für Anbieter und bei dem zugehörigen Fachmagazin »Im Dialog« um einem nach dem Geschäftsmodell der Apotheken-Rundschau18 konzipierten Periodikum.


3. Die Finanzlage – nüchtern betrachtet

Der Prozess »Kirche der Freiheit« 2006 setzte ein mit »Krisenalarmismus«19. »Auslöser für die als erforderlich angesehenen Reformen … (stellen) eindeutig die finanziellen Engpässe dar«20. Die Argumentation ist notorisch: »Auf eine einfache Formel gebracht lautet die Zukunftsperspektive: Die evangelische Kirche wird im Jahr 2030 ein Drittel weniger Mitglieder als 2002 haben und nur noch über die Hälfte ihrer Finanzkraft verfügen.«21 Dieses Schema taufte man in der EKiR von offizieller Seite sehr erhellend und treffend »einfache Formel«. Ein terminus technicus, den wir gerne aufgreifen und zur allgemeinen Verwendung empfehlen22.

Seit 30 Jahren Finanzkrise? So viel ist klar: das Thema stand im Raum und ab 2006 herrschte Alarm. Sicher ist zunächst nur, dass durch litaneiartige Wiederholung bis in die jüngste Zeit23 die »einfache Formel« die kirchlichen Denkkategorien so geprägt hat, dass sie mittlerweile tief im kollektiven kirchlichen (Unter-)Bewusstsein verankert ist. Aber deckt sich das mit der Realität? Die offizielle EKD-Statistik der Netto-Kirchensteuer weist im Zeitraum ab 1985, in dem mit der »einfachen Formel« gearbeitet wird, eine Steigung der nominalen – also in den Haushaltsplänen stehenden – Werte von ca. 2,9 Mrd. € (1985) auf ca. 4,77 Mrd. € (2012)24, also +64%, aus. Gemäß den Prognosen von 1985 müsste anteilmäßig ein Minus von 35% eingetreten sein. Die Differenz zwischen der Prognose und der Realität beträgt also innerhalb von knapp 30 Jahren 100%.


Die Einnahmen stiegen, die Ausgaben für Personal wurden ab 2000 deutlich heruntergefahren: Stellen gestrichen, die Löhne über Jahre hin eingefroren, das Weihnachtsgeld gestrichen, die Durchstufungen nach A 14 zeitlich gestreckt, div. Kosten (nicht nur beim Thema Wohnen) auf die PfarrerInnen abgewälzt.

Die Einnahmen stiegen, die Überzeugungskraft des Alarms sank und die Argumentation wurde modifiziert. Seit einigen Jahren gelten nicht mehr die Nominalwerte, sondern die inflationsbereinigten »Real«werte als Problem. EKD-Vizepräsident Winterhoff z.B. argumentiert global: »Seit 1994 Kirchsteueraufkommen 9% Zunahme, Kaufkraftverlust in der gleichen Zeit 30%«25. Hier werden nicht Zahlen und ausgewählter Betrachtungszeitraum selbst überprüft. Auch das wäre interessant. Entscheidend ist eine andere Frage: Welche Bedeutung hat der Kaufkraftverlust des statistischen Warenkorbes des Otto-Normalverbrauchers für die EKD? Dieser Warenkorb und nichts anderes steht nämlich hinter der Inflationsberechnung und damit der Realwertstatistik. Was bedeutet es also für die EKD, wenn die Kosten für Karotten, Kaffee, für PKW, die Urlaubsreise o.ä. steigen? Es ist ja nicht zu bestreiten, dass Realwerte bei differenzierter Anwendung einen dann differenzierten Informationsgehalt liefern. Kirche hängt von fremden Leistungen etwa von Energie ab. Allerdings mit einem geringen, nicht relevanten Haushaushaltsanteil von 3-4%. Hingegen werden ca. 75% der Ausgaben im eigenen Haus erbracht, sind also keine Fremdleistungen. Diese Ausgaben z.B. für Personal wurden aber über einen langen Zeitraum hin gar nicht erhöht (s.o.) und führen damit zum Realgewinn für den Arbeitgeber.

Das eigentliche Problem der Realwertstatistiken sei am Beispiel zweier Realwertkurven derselben (!) Nominalwertstatistik veranschaulicht. Die Kurven von 2011 stammen aus der EKHN und zwar aus zwei aufeinander folgenden Folien (!) eines Papiers der Kirchenleitung zur Pfarrstellenbemessung. Zu beachten ist, dass die Statistik nur den Zeitraum 2000-2010 betrifft (ab 2011 aus damaliger Sicht Prognosen).


Um nicht falsch verstanden zu werden: beide Kurven sind rechnerisch richtig! Die Unterschiede rühren allein vom unterschiedlichen Startpunkt – einmal 1991, einmal 2000. Beide Kurven weisen aber einen stellenweise um 50-70 Mio. € differierenden Betrag aus. (vgl. die Jahre 2004-2007). Will sagen: je nach Ausgangspunkt der Betrachtung kann man die Kurven genau so passend erzeugen, wie sie für die je eigene Argumentation aktuell taugen! Eben diesen Sachverhalt bestätigte der Finanzdezernent der EKHN, Thomas Striegler, seinem Publikum bei einem Vortrag26 auf Nachfrage. Realwertstatistiken und mehr noch davon extrapolierte Realwertprognosen zeigen keinesfalls »objektive« Werte. Ganz im Gegenteil: die Realwertstatistik drückt die aktuelle subjektive Sicht seines Erstellers, seine erkenntnisleitendes Interesse, aus. Das ist zwar auch erhellend – aber das Gegenteil dessen, was normalerweise an »alternativloser Wahrheit« suggeriert wird. Weitere Informationen dazu unter www.wort-meldungen.de.

Ein Drittes: Bei einer aktuellen Darstellung der EKHN27 liegt der letzte verfügbare Realwert von 2012 sogar über der Ausgangsbetrachtung von 1992 und mit 330 Mio. auch mehr als 10% über der Prognose des o.g. Diagramms.28 Das heißt erstens: Null Realwertverlust! Zweitens: Finanzprognosen weisen schon im Nahbereich von nur zwei Jahren erhebliche Unschärfen auf! Man rechne die Abweichungen auf 20 oder 30 Jahre hoch, dann ist das Ergebnis nicht genauer als Kaffesatzleserei.

Damit noch nicht genug. Die Landeskirchen haben in den zurückliegenden Jahren steigende Einnahmen, bisweilen Überschüsse – aber letztlich keine Verluste29. So weist z.B. die EKHN offiziell innerhalb der letzten 7 Jahre fünfmal Haushaltsüberschüsse in Höhe von 40 Mio. bis 70 Mio. € aus30. Zum Vergleich: Der Ansatz für den Gemeindepfarrdienst liegt im selben Zeitraum in der EKHN bei ca. 60 Mio. €. Die Finanzrücklagen allein der EKHN liegen bei 2,2 Mrd. € (Buchwert)31, EKD-weit bei 30 Mrd.32. Erwähnenswert wäre z.B. noch der Grundbesitz: »Die EKD ist mit 330.000 ha der größte Landeigentümer in Deutschland.«33 Wer redete da von Finanzkrise? Umgekehrt wird ein Schuh draus: die Zentralkassen der Landeskirchen wurden mit Überschüssen angefüllt. Die Kirchen befinden sich längst auf dem Weg von der Kirchensteuerfinanzierung hin zu einer kapitalbasierten Finanzierung. Was allerdings – erste Voraussetzung – nur mit erheblichen »Anstrengungen«, mit einem weiterhin erheblichen bzw. noch ansteigenden Abzug von Mitteln bei den Arbeitsfeldern an der Basis realisiert werden könnte. In der EKiR scheut man in einem aktuell neuen Prozess des »Kleiner-Setzens« auch vor derartigen massiven Personaleinschnitten und Entlassungen wohl nicht zurück. Die Synode im Januar 2014 wird Klarheit schaffen. Die zweite Voraussetzung eines solchen kapitalbasierten Systems liegt außerhalb der Kirche: die Kapitalanlagen müssten auch angesichts fraktaler Märkte sicher und ertragsfähig sein. Das setzt starken Glauben voraus – in die Märkte … Profitieren werden auf jeden Fall Consultants, Banken und Fondsmanager. Verlierer sind die Menschen, zu denen die Kirche doch eigentlich (vgl. Mt. 28) gesandt ist.


4. Der Hintergrund des ökonomischen Drucks auf die Arbeitsfelder

Die »einfache Formel« hat innerkirchlich eine wichtige Funktion. Sie liefert die Begründung für innerkirchlichen ökonomischen Druck auf das Personal, auf Gemeinden und Dienste/Funktionen, dient also der Umsetzung des Ziels der Reduktion der Gemeinden um 50% von 2007 bis 2030 gemäß Impulspapier. Wird dies mit (prognostizierten) ökonomischen Zwängen begründet, erscheinen solche Zwänge offensichtlich – wie in der Politik auch – als »alternativlos«. Die Opfer fügen sich in ihr Schicksal. Reduktionen von Zuweisungen und Personal folgen. Und weil diese Argumentationsweise gut funktioniert, wird gleich ein weiteres Instrument hinzugefügt: die Doppik/NKF. Sie entzieht den Rechtsträgern in der Gegenwart die Mittel. Dieses Ressourcenverbrauchskonzept ist zum Teil richtig, wird aber dann zum Zwangsregime, wenn Mittel in Größenordnungen entzogen werden, die in der Zukunft real gar nicht benötigt werden. Als Beispiel diene die EKiR. Sie bildet Rücklagen für Gebäude gleich doppelt (!) – einmal als Abschreibung und ein weiteres mal als sog. Substanzerhaltungspauschale. Ein Superintendent hat das auf der Synode in Hilden zu Recht beanstandet. Hier wird ökonomischer Druck erzeugt durch rechnerische (!) Verarmungen.

Dabei zeigt das Beispiel des Instruments der Doppik sehr eindrücklich Veränderungen der Zielsetzung, die sich die im Laufe des Prozesses ergeben haben. Waren dies zu Beginn in den 90er Jahren im Prozess »Wirtschaftliches Handeln« der Württ. Landeskirche noch Transparenz, Partizipation, Nachhaltigkeit, so mutiert das Ziel wie im o.g. Beispiel augenfällig ungenannt zum Zwangsregime, das der Basis die Mittel für die Arbeit an und mit den Menschen entzieht. Und eben diese Verschiebung markiert den eigentlichen Dreh- und Wendepunkt vom Reform- zum Umbauprozess.


5. Die Problematik von Strategie und Struktur des Umbauprozesses

Dazu ein paar wenige Blitzlichter. Strategie: »Eine gute Strategie ist unabhängig von der Möglichkeit, Prognosen zu machen … Das ist eine der wichtigsten Prinzipien der Architektur einer Strategie – dies deshalb, weil die Zukunft nicht prognostizierbar ist – sie war es nie34. Und sie wird es nie sein.«35 Man vergleiche nur die erheblichen Unschärfen von Prognosen schon im Nahbereich als Anschauungsmaterial. Um jetzt keine falsche Abwehrreaktion zu erzeugen: Der Autor relativiert die Aussage. Auch ich arbeite im Bereich des Immobilienmanagements36 mit Szenarien37. Das darf aber nicht von der Kernaussage ablenken, die zu Recht lautet: Eine gute Strategie braucht zunächst keine Prognose. Dabei ist der Begriff nicht umgangssprachlich zu verwenden, sondern im Sinne einer langfristigen Orientierungsgröße. Das gilt dann selbstredend auch für eine gute kirchliche Strategie. Kirchliche Mitarbeiter bestätigen dies immer wieder.

Fazit: Eine Strategie, die wie die »einfache Formel« zentral auf einer Prognose basiert, ist schon deswegen obsolet. Schlimmer noch, denn es gibt eine folgenschwere Abhängigkeit der Struktur von der Strategie: »Structure follows Strategy«38. Eine falsche Strategie, abgeleitet von falschen Orientierungsgrößen, führt dann auch zwangsläufig zu falschen Strukturreformen.

Überhaupt Strukturen! Liegt in deren Reform das Heil der Kirche?39 Bei der Fülle von Maßnahmen des Umbauprozesses kann man den Eindruck gewinnen. Leider gibt es aber »keine guten Organisationen«. Eingriffe in die Strukturen sind aufs absolut Nötigste zu reduzieren, gelten diese doch immer als problematisch: »Organisatorische Veränderungen sind bildlich gesprochen vergleichbar mit chirurgischen Eingriffen in einen Organismus – in einen lebenden Organismus ohne Betäubung … Die guten Chirurgen haben gelernt, dass man nicht ohne Not schneidet.« Solche guten Chirurgen mit Konzepten minimal-invasiver Eingriffe, sprich systemisch angelegten Reformen, hätte die Kirche durchaus gebraucht. Die gab es: Viele Autoren der Artikelserie sind sich genau an dieser Stelle einig! Nur ein Beispiel: das Rechnungswesen. Die Erweiterung der Kameralistik durch Kosten-Leistungs-Rechnung (KLR) in speziellen Bereichen, etwa der Administration oder dem Immobilienmanagement, das wäre durchaus sinnvoll gewesen. Realisierbar mit finanziell bescheidenem Aufwand, ohne das Personal nennenswert zu belasten und die Gremien durch eine Verkomplizierung letztlich einfacher Sachverhalte mit der Doppik zu entmündigen. Kleine Schnitte waren nötig! Der Impulsprozess lieferte hingegen große Operationen! Viele große Operationen, bei denen allein schon eine einzige als Jahrhundertwerk40 gilt. Zu viele Großoperationen, zu hohe Kosten bei geringen Aussichten auf Verbesserung – das ist das Problem der Strukturreformen.


6. Erkenntnisgewinn, Rätsel, Aufklärung

Erste Erkenntnis: Das Papier »Kirche der Freiheit« hat keine Reform angestoßen, sondern einen grundlegenden Umbauprozess initiiert.

Reformen sind auf Kontinuität bedacht und wollen den Traditionsabbruch vermeiden41. Ursprünglich war dies von einem Teil der Reformbewegung beabsichtigt. Auch heute wird Kontinuität noch verbal beteuert und beschworen, insbesondere von Seiten der Umbauaktivisten. De facto wurde ein realwirtschaftlicher Managementansatz durch einen Aktionärsansatz abgelöst. Im Zentrum steht dann nicht mehr der Mensch, sondern das Kapital. Der Übergang von der Reform zum Umbau wurde exemplarisch am Beispiel des Funktionswandels der Doppik im Prozess verdeutlicht. Die ursprünglichen Ziele von Transparenz, Partizipation, Nachhaltigkeit wichen dem (vorwiegenden) Ziel des Finanzmittelentzugs bei der Basis, also bei der Arbeit am Menschen.

Zweite Erkenntnis: Die Orientierungsgröße bzw. Strategie bildet die »einfache Formel« als Langfristprognose der Kirchensteuerentwicklung.

Sie entpuppte sich empirisch als Kaffeesatzleserei und aus der Managementtheorie als unhaltbar. Das trifft etwas modifiziert auch auf Realwertstatistiken und Prognosen zu, bei denen in erster Linie die Information über das erkenntnisleitende Interesse des Erstellers von Belang ist.

Dritte Erkenntnis: Der Umbauprozess wird nicht von den Landeskirchen und den Synoden, sondern zentral von der EKD gesteuert.

»Nicht nur freundlich sagte denn auch EKD-Ratsfrau und Vertreterin der Deutschen Bank Marlehn Thieme an Rekowski gewandt bei der Einführung der neuen Kirchenleitung: ›Zwei Ihrer Vorgänger haben der EKD ihre Erfahrung und Kraft der Moderation und Integration zur Verfügung gestellt, indem sie den Ratsvorsitz übernahmen. Dies sichert ­Ihnen wohlwollende Begleitung und Beobachtung der EKD und ihrer Gliedkirchen zu!‹«42, 43

Vierte Erkenntnis: Grundlegende Managementprinzipien realwirtschaftlichen Managements werden nicht eingehalten:

–  analytisch: extrem unsichere Langfristprognosen der Kirchenfinanzen dienen als Fundament und man konstatiert »systematische Unklarheiten«44

–  methodisch: die fehlende Lernstruktur macht stutzig: Megaprojekte werden implementiert ohne Pilotprojekte und Evaluationen; Promotion-Veranstaltungen ersetzen einen ernsthaften wissenschaftlichen Diskurs und eine fundierte Weiterbildung

– strategisch: die zentrale Strategie basiert auf bzw. ist identisch mit langfristigen Finanzprognosen (einfache Formel), also auf Kaffeesatzleserei

–  strukturell: keine kleinen Schnitte, sondern massive Eingriffe wie Zentralisierung (mittlere Ebene), Fusionen etc. verändern die Struktur radikal – ohne Aussicht auf nennenswerte Erfolge, denn Strukturen können nie gut, schon gar nicht ideal sein

– kulturell: die Stärken der Organisationskultur flacher Hierarchien und intrinsischer Motivation werden massiv beschädigt; emergente Eigenschaften gehen verloren; die Integrität leidet zunehmend45; das Potential des Vertrauens wird verspielt; die Mitarbeiterschaft wird durch die Fülle parallel verlaufender Prozesse (Fusionen, Finanzwesen, Doppik, etc.) verschlissen oder in die innere Emigration getrieben

– ökonomisch: Unsummen werden in Milliardenhöhe bei einem extrem schlechten Kosten- Nutzen Verhältnis verschleudert. Die wenigen positiven Effekte sind reformunabhängig oder hätten mit einem erheblich geringerem Aufwand und ggf. mit minimalen Schnitten erreicht werden können.

Fünfte Erkenntnis: Die theologische Fundamentierung weicht einer Dogmatik der Finanzwirtschaft und des Sharehoder-value.

Die theologische Fundamentierung in Gott, im Glauben, wird durch eine Dogmatik ersetzt, die auf nicht belastbaren Finanzprognosen, Interesse geleiteten Rechenalgorithmen und fraktalen Märkten aufbaut.

Der Prozess wirft Rätsel auf. Gegen Rätsel hilft allein Aufklärung. Aufklärung – der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Aufklärung in der Kirche beginnt mit dem Ausgang des Pfarrers und der Pfarrerin aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Was müsste noch passieren? Wie soll es weiter gehen? Angesichts der deprimierenden Resultate der Umbauprozesse in den Kirchen, die Erfahrung mit der Implementation haben, ist ein Moratorium zwingend. Die Kirche muss stehen bleiben, inne halten. Nur eine schonungslose, offene und transparente Bestandsaufnahme des aktuellen Status in den Kirchen mit Implementationshintergrund kann Schlimmeres, kann einen Selbstzerstörungsprozess verhindern. Ist die Kirche, ist dazu z.B. die EKiR auf der bevorstehenden Synode in der Lage? Oder hat man sich schon verrannt, gilt nur das »Augen-zu-und-durch«? Das ist selten eine gute Lösung und bringt selten Besserung. Im Gegenteil: dann droht ernsthafte Gefahr. Denn das ist der Weg, der nur noch tiefer in die Wüste führt. Und dem beschworenen Exodus könnte der Exitus folgen.


Anmerkungen:

1 Dazu betreiben einige aus dem Autorenkreis weiterhin eine Webseite unter www.wort-meldungen.de.

2 Christian Grethlein, Problem hinter den Bemühungen um Kirchenreform, in: Praktische Theologie 1/2013, 41.

3 Paul Zulehner, »Kirche umbauen, nicht totsparen«, in: Kirchenreform strategisch!, Hg.: Wolfgang Nethöfel und Dieter Grunwald, Glashütten, 2007, 534.

4 Christoph Meyns, DPfBl: www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php?a=show&id=3412.

5 Im Folgenden sind Autoren der »Serie« jeweils mit einer lokalen Angabe gekennzeichnet.

6 Ingrid Schneider, DPfBl: www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php?a=show&id=3303.

7 Christian Grethlein, Problem hinter den Bemühungen um Kirchenreform, in: Praktische Theologie 1/2013, 41.

8 Ein Vergleich mit der Einführung der Doppik im Bundesland Baden-Württemberg (nicht in den Kommunen!) mit ca. 550 Mio. €, lässt eine Schätzung für die Einführung in sämtlichen Landeskirchen in Milliardenhöhe als wahrscheinlich erscheinen; vgl. www.wort-meldungen.de/?p=2039.

9 Christoph Bergner, DPfBl: www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php?a=show&id=3233; vgl. Christoph Bergner, Die Kirche und das liebe Geld, Stuttgart, 2009.

10 Christoph Bergner, DPfBl: www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php?a=show&id=3233.

11 Autorisiertes Protokoll von Katharina Dang: www.wort-meldungen.de/?p=2259.

12 Fredmund Malik, Management, Frankfurt/New York, 65.

13 So z.B. in dem in die 90er Jahre zurückreichenden Projekt »Wirtschaftliches Handeln« der Württ. Landeskirche, vgl. www.wort-meldungen.de/?p= 4482.

14 Peter Barrrenstein, Erfahrungen mit dem eMp, in: epd, Aus Fehlern lernen? Scheiternde Projekte in einer lernenden Kirche, 31.

15 Vgl. für die Kirche das Beispiel der Kirchenmusik, Matthias Hartmann, DPfBl: www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php?a=show&id=3251.

16 Tagungen Kirchliches Finanzmanagement ab 1996 und Facility Management ab 2002.

17 Christian Grethlein, Problem hinter den Bemühungen um Kirchenreform, in: Praktische Theologie 1/2013, 36f.

18 Z.B. mit käuflichen, hochpreisigen »Erfolgsstorys«, ausgedehnten Sponsoring-Systemen etc.

19 Günther Thomas, 11 Klippen auf dem Reformkurs der EKD, in: EvTh 2007, 361-387.

20 Franz-Xaver Kaufmann und Detlef Pollack, Kirchliche Reformbemühungen in soziologischer Perspektive, Ev. Theologie 1/2013, 154.

21 Hans-Jürgen Volk, DPfBl: www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php?a=show&id=3466.

22 Vgl. www.wort-meldungen.de, Suchfunktion »einfache Formel«.

23 So erst jüngst Bischof Hein/EKKW: »gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (dazu gehört der Rückgang der Gemeindeglieder und damit der finanziellen Ressourcen)«, in: Hess. PfrBl 5/2013, 115.

24 Wert 2012 vgl. https://www.ekd.de/statistik/finanzen.html; Statistik ab 1953 bei: www.steuer-forum-kirche.de/aufkommen-ev-1953ff.pdf.

25 Quelle: www.wort-meldungen.de/?p=4914.

26 Vortrag im »Offenen Haus«, Darmstadt, Februar 2013.

27 EKHN Jahresbericht 2012/2013, 6.

28 Achtung: 2012 war der letzte statistische Wert. Die folgenden, sinkenden Werte sind Prognose. Die rote Trendline zeigt die subjektive Sicht des Erstellers; vgl. Text.

29 Wir sehen hier von Finanzskandalen wie der bbz-Affäre einmal ab.

30 EKHN Jahresbericht 2012/2013, 7.

31 Drucksache zur Synode, vgl. www.wort-meldungen.de/?p=4779.

32 Finanzdezernent Thomas Striegler, Vortrag im »Offenen Haus«, Darmstadt.

33 Kirchenland in Bauernhand. Interview mit Steffen Herbst, Präses der Synode der EKM, in: Publik Forum 23/2013, 24.

34 Vgl. o. 2. Ergebnis einer Finanzprognose im Nahbereich.

35 Fredmund Malik, Management, Frankfurt/New York, 183.

36 Friedhelm Schneider, Kirchliches Immobilienmanagement, Darmstadt 2004.

37 Bitte beachten Sie auch die Differenzierung zwischen Prognose und Szenario!

38 Fredmund Malik, Management, Frankfurt/New York, 215.

39 In der kirchlichen Diskussion wird der Begriff Reformen nahezu synonym mit dem der Strukturreformen verwendet, vgl. https://www.ekd.de/download/zahlen_und_fakten_2013.pdf; dort 6ff.

40 So Werner Scheler, Vors. Rechnungsprüfungsausschuss Bayern, vgl. www.wort-meldungen.de/?p= 1897.

41 A. Baumgartner/O. Fuchs, LthK 8, 3/1999, 927.

42 Nachzulesen auf http://www.ekir.de/www/downloads/20130302_PT_Marlehn_Thieme_Grusswort.pdf.

43 Hans-Jürgen Volk, DPfBl: www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php?a=show&id=3466.

44 Günter Thomas, 11 Klippen auf dem Reformkurs der EKD, in: EvTh 2007.

45 Friedhelm Schneider, DPfBl 8/2012, 461ff.


 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer Friedhelm Schneider, Pfarrer, Immobilienfachwirt, Software-Entwickler, Geschäftsführer Kompetenzzentrum Integriertes Management GmbH; www.k-im.org.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2014

1 Kommentar zu diesem Artikel
02.01.2015 Ein Kommentar von Jürgen Schäfer Ihr Ausführungen sind sehr hilfreich und helfen mir zu verstehen, in welches Dilemma das derzeitige kirchenleitende Handeln läuft. Bin westfälischer Pfarrer und staune über die in Gang gesetzte Reformwut. Die Arbeitsbelastung nimmt stetig zu durch kircheninterne Vorgaben und Überlastung der bestehenden Verwaltungsstrukturen. Nochmals: Danke!
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