Anfang des Jahres erschienen im Rahmen der Reihe „Fragen und Probleme rund um kirchliche Reformprozesse“ zwei kontroverse Beiträge zum Strukturwandel in der Evang. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) (vgl. DPfBl 2/2013). Im Anschluss an die daraufhin entbrannte Debatte (vgl. DPfBl 3 und 4/2013) hat der Bischof der EKBO, ­Markus Dröge, einen klärenden Beitrag aus kirchenleitender Sicht verfasst, der nun hier veröffentlicht wird.1

I. Christus – das Haupt der Gemeinde

»Lasst uns … wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus, von dem aus der ganze Leib zusammengefügt ist.« (Eph. 4,15f) Christus ist das Haupt, auf den hin der ganze Leib zusammengefügt ist. Manche Ausleger haben dieses Bild aus dem Eph. als Gegenentwurf zu dem Bild von dem einen Leib und den vielen Gliedern gedeutet, das Paulus in 1. Kor. so anschaulich entworfen hat: »Es sind viele Glieder, aber nur ein Leib.« Stehe im Kor. die Vielfalt der Glieder und ihrer Funktionen im Vordergrund, so versuche der Eph. die Vielfalt an das eine Haupt zu binden, an Christus, der den Leib lenkt und bestimmt, belebt und erneuert. Eph. sei an der Hierarchie interessiert, während Paulus an der gleichberechtigten Vielfalt interessiert sei.

Als Gegenentwurf zum Kor. würde ich den Eph. nicht bezeichnen. Es geht vielmehr um unterschiedliche Perspektiven auf den einen Leib Christi. Denn in einem ist sich das gesamte NT einig: Die geistliche Herrschaft Christi ist keine Hierarchie im weltlichen Sinne. Wo Christus herrscht, da werden die Menschen zu Schwestern und Brüdern, die sich auf Augenhöhe begegnen. Und deshalb hat die Barmer Theologische Erklärung, die entstanden ist in Abwehr zur Nazi-Ideologie und ihrem strammen hierarchischen Denken, mit den genannten Versen aus dem Eph. die Kirche als die Gemeinschaft der Schwestern und Brüder beschrieben, in denen es keine Herrschaft der einen über die anderen gibt.

Welche Kirche wir morgen sein werden, diese Frage ist deshalb keine Frage, die von oben nach unten in einer Einbahnstraße geklärt werden könnte, erst recht nicht in einer Kirche wie der EKBO, die eine sehr vielfältige Kirche ist, mit ganz unterschiedlichen Regionen und unterschiedlichen Herausforderungen. Es gibt nicht die eine gleiche Antwort für alle. Und doch sind wir in Jesus Christus eine Kirche. Dies ist nicht nur so daher gesagt, sondern kann und soll auch gelebt werden. Vielfalt und Einheit brauchen in unserer Kirche ihren Platz. Die Liebe, in der wir wachsen sollen, wie der Eph. sagt, respektiert den Anderen. Der Andere ist ihr nicht egal. Ganz im Gegenteil: Die Liebe schafft Verbindung und Gemeinsamkeit, gerade unter der Bedingung, verschieden zu sein.

Aus diesem Grund steht das geistliche Leben an erster Stelle in den Orientierungspunkten, die unter dem Titel »Welche Kirche morgen?«2 erschienen sind. Das Kapitel »Geistlich leben« (S. 15ff) beginnt mit den genannten Versen aus dem Eph. und beschreibt, dass es bei den Reformen in unserer Kirche vor allem darauf ankommt, das geistliche Leben unserer Kirche zu stärken, damit unser Zeugnis für Jesus Christus erkennbar ist und bleibt. Wo diese Einsicht ernst genommen wird, wo Christus als Herr anerkannt wird, da gibt es kein Oben und Unten mehr, da löst sich die Frage auf, ob Kirchenreformen von oben oder unten angeregt werden. Denn dann geht es darum, gemeinsam den Weg zu finden. Und dazu sollen die Orientierungspunkte dienen.

Bereits bei der Formulierung des Papiers »Welche Kirche morgen?« wurden viele beteiligt: die Steuerungsgruppe und der Lenkungsausschuss des Reformprozesses, das Konsistorium, die Kirchenleitung und die Landessynode. Sie hat das Papier bewusst noch nicht endgültig beschlossen. Denn erst sollen die Diskussionen in der Breite der Kirche erfolgen. Erst wenn die Thesen breit in unserer Kirche diskutiert worden sind, wird die Landessynode im Frühjahr 2014 ein neu formuliertes Papier beschließen, in das die Rückmeldungen eingearbeitet sind.

Ich möchte, bevor ich näher auf den Inhalt des Papiers eingehe, etwas über die Lage der EKBO und über das theologische Grundverständnis unserer presbyterial-synodal strukturierten Kirche ausführen. Aus beidem wird deutlich werden, warum gerade jetzt ein solcher Beratungsprozess wichtig und notwendig ist.


II. Zur Lage in der EKBO

Die Orientierungspunkte erinnern zu Beginn an die Geschichte unserer Kirche (S. 8). Sie tun dies, weil unsere Kirche eine besondere Geschichte hat: Unsere Kirche – damals noch die Evang. Kirche Berlin-Brandenburg – war die erste EKD-Kirche, die nach dem Fall der Mauer Ost und West verbunden hat, und sie ist bis heute die Kirche, die große – innerhalb der EKD vielleicht sogar die größten – Gegensätze zu vereinen hat: die Metropole Berlin, Brandenburg und die schlesische Oberlausitz. Die Gemeindewirklichkeit ist sehr unterschiedlich: Wer aus der Stadtmitte von Berlin kommt, erlebt unsere Kirche ganz anders als der, der aus der Uckermark oder der Prignitz kommt; wer im Speckgürtel lebt, anders als die, die aus der Niederschlesischen Oberlausitz kommen. Im Gebiet der ehemaligen DDR leben wir mit der Herausforderung, dass diese Landstriche zu denjenigen Gebieten weltweit zählen, in denen prozentual am wenigsten Menschen ein religiöses Selbstverständnis haben. Gleichzeitig aber haben wir reiche geistliche Traditionen und können mit Stolz sagen, dass evangelische Kirchengemeinden in der friedlichen Revolution eine bedeutende Rolle gespielt haben. Als dies ist ein Erbe, das uns stark macht und uns ermutigt, nun auch weiter mit offenen Augen das Evangelium in die Welt zu tragen.


Was in den zurückliegenden Jahren geleistet wurde

In unserer Kirche ist seit dem Fall der Mauer viel geleistet worden. Ich nenne nur einige Stichworte:

1. Der Religionsunterricht in Brandenburg hat sich in den letzten 8 Jahren sehr positiv entwickelt: von 23.000 Schülerinnen und Schüler auf 33.000, d.h. von 9% der Schüler auf 16%.

2. Wir haben ein beachtliches evangelisches Schulwesen seit dem Fall der Mauer aufgebaut.

3. Wir erhalten erfolgreich unsere Kirchen: vor 20 Jahren war die Hälfte unserer 1600 Dorfkirchen (also 800) Kirchen in der baulichen Substanz bedroht, heute sind es nur noch 200. Weniger als 20 Kirchen mussten aufgegeben werden, weniger als 10 Kirchen wurden verkauft.

4. Unser Engagement gegen den Rechtsextremismus hat in Brandenburg ein hohes Ansehen. Man vertraut uns als kompetentem und überparteilichem Partner, der in der Lage ist, auch unterschiedliche Gruppen zum Engagement zusammenzuführen. Unseren leitenden Geistlichen wird gerne der Vorsitz im »Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Brandenburg« anvertraut.

5. In Berlin setzen wir uns stark für den interreligiösen Dialog ein, der ein wesentlicher Mosaikstein ist für das Gelingen der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund.

6. Die Diakonie hat bei denen, die ihre Leistungen in Anspruch nehmen, ein hohes Ansehen, wenn auch zurzeit in der öffentlichen Diskussion eher Kritik geübt wird.

Ich plädiere für ein nachhaltig unaufgeregtes evangelisches Selbstbewusstsein, zu dem wir begründet Anlass haben: zum einen wegen der guten Botschaft, die wir zu vertreten haben und die unser Selbstbewusstsein begründet und stärkt, und zum anderen wegen der vergleichsweise vielen Ressourcen und Möglichkeiten, die wir haben. Wir tun in der Kirche viel für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und dafür, dass die Menschenwürde in unserem Land geachtet wird.3


Herausforderungen, die bestehen bleiben

Gleichzeitig haben wir mit immensen Herausforderungen zu kämpfen:

1. Wir leben in einer religiös sehr gemäßigten Zone, im weltweiten Vergleich.

2. Wir haben mit dem demographischen Wandel zu kämpfen, verlieren darüber hinaus Mitglieder durch Abwanderung und Kirchenaustritt. Allerdings zeigt sich beim Thema Abwanderung auch schon ein zarter Silberstreif am Horizont: Es gibt zunehmend Menschen mittleren Alters, die aus Brandenburg stammen, in westlichen Bundesländern studiert haben und denen dort der Berufseinstieg gelungen ist und die dann neu versuchen, in Brandenburg Fuß zu fassen.

3. Obwohl sich das Verhältnis zwischen Pfarrstellen und Gemeindegliedern in den letzten 20 Jahren nicht wesentlich geändert hat (wir haben bleibend im Durchschnitt ca. 1600 Gemeindemitglieder pro Pfarrstelle, wobei die Zahlen in Berlin etwa bei 3000 liegen und in ländlichen Gebieten zum Teil bei unter 850), ist der Dienst der Pfarrerinnen und Pfarrer, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den strukturschwachen Bereichen doch sehr viel aufreibender geworden, da die gleiche Anzahl der Gemeindeglieder jetzt über einen größeren Bereich verteilt, in mehr Gemeinden mit mehr Kirchen und mehr öffentlichen Ansprechpartnern (Bürgermeister etc.) leben.

4. Die sehr ausgedehnten, strukturschwachen Regionen erfordern deshalb neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Gemeinden; kleine und kleinste Gemeinden gibt es überproportional viele in der EKBO: 206 Gemeinden haben weniger als 50 und 604 Gemeinden haben zwischen 50 und 300 Gemeindemitglieder. Unter dem Strich haben 810 Gemeinden von insgesamt ca. 1300 Gemeinden weniger als 300 Gemeindeglieder. Das bedeutet, dass wir Gemeinden zusammenfassen müssen, aber doch so, dass den kleinen Gemeinden vor Ort eine eigene Identität so weit wie möglich erhalten bleibt.

5. Die Berliner Situation kennt andere Heraus­for­derungen: die Gesellschaft wird multireligiöser, christlicher Glaube muss sich argumentativ behaupten.

In dieser Situation können wir uns nicht mehr viele Reibungsverluste erlauben. Um es mit dem Bild des Eph. zu sagen: Die Glieder des Leibes müssen möglichst gut und reibungslos zusammenarbeiten. Wir müssen unsere Kräfte bündeln, Ziele miteinander vereinbaren, nicht die Gemeinden gegen die Kirchenkreise und die Basis gegen die Kirchenleitung ausspielen, sondern die wesentlichen Ziele gemeinsam vereinbaren: Welche Kirche morgen? – Das kann nicht beliebig, sondern das muss eine gemeinsame Überzeugung sein.

Wir haben ein hohes Gut. Nämlich ein Kirchenverständnis, das sehr solidarisch ist. Wir entscheiden in Gremien, nachdem wir miteinander um den besten Weg gerungen haben. Dieses presbyterial-synodale Prinzip ist wertvoll. In dieses Prinzip integriert ist ein solidarisches System der Lastenverteilung, das durch einen Finanzausgleich sowohl innerhalb der EKD als auch innerhalb unserer Kirche gestaltet wird, um die Schwächeren zu stärken. Innerhalb der EKBO finanzieren die reicheren Kirchenkreise vor allem in und um Berlin die ärmeren in den strukturschwachen Regionen mit. Gäbe es diesen doppelten Ausgleich nicht, wäre Gemeindearbeit in strukturschwachen Gebieten noch wesentlich schwerer zu gestalten.

Die große Zahl an Pfarrerinnen und Pfarrern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und an Ehrenamtlichen ist ein immenser Schatz. Welche andere Institution schafft es außer uns überhaupt, ein solches Netz von Mitarbeitenden in Stadt und Land vorzuhalten? Wie schwer es dagegen z.B. die röm.-kath. Kirche hat, zeigen die Zahlen des Bistums Berlin: Dort werden gemäß den Strukturplänen für die Gemeindearbeit für 396.000 Gemeindeglieder nur noch 30 Pfarrstellen zur Verfügung stehen, das sind 13.000 Gemeindeglieder pro Pfarrstelle im Vergleich mit unseren 1600. Wir sollten also die Dankbarkeit für das, was uns gegeben ist und was wir durch unser solidarisches System leisten können, bei allen Schwierigkeiten nicht vergessen.

In dieser herausfordernden Situation müssen wir eine gemeinsame Vorstellung davon entwickeln, wo der Weg unserer Kirche hingehen soll. Und deswegen sind die Orientierungspunkte »Welche Kirche morgen?« und der ausführliche Konsultationsprozess so wichtig.


III. Volkskirche sein und bleiben

Das Hauptthema, das sich wie ein roter Faden durch die Broschüre »Welche Kirche morgen?« zieht, ist folgendes: Das Bild der Kirche für die Zukunft ist das Bild einer »Volkskirche im Wandel«. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir uns weiter als Volkskirche verstehen. Denn Volkskirche in dem Sinne, dass wir die Mehrheit des Volkes als Mitglieder haben, sind wir natürlich nicht mehr. Aber wir können uns, auch wenn wir kleiner werden, weiterhin als »Volkskirche« im Sinne einer gesellschaftlich engagierten Kirche verstehen, die ihre Botschaft »an alles Volk« ausrichtet (Barmen VI).

Das heißt: Wir wollen weiter eine Kirche bleiben, die die guten Möglichkeiten wahrnimmt, die wir in unserem Staat haben: in der Bildungsarbeit, mit dem Religionsunterricht, in der Diakonie, in der Kinder- und Jugendarbeit, in der Kindertagesstättenarbeit, mit kirchlichen Schulen, mit Öffentlichkeitsarbeit und öffentlichen Stellungnahmen und vielem mehr. Wir wollen zeigen, dass diese Form von Kirche-Sein möglich ist, auch wenn wir eine kleinere Kirche werden. Andere evangelische Kirchen in Europa zeigen das auf ihre Weise: in Tschechien, in Polen, in Italien. Volkskirche ist Kirche für das Volk, oder wie es moderner heißt: gesellschaftlich engagierte Kirche.

Um dieses Kirche-Sein auch zukünftig leben zu können, müssen wir die Kräfte bündeln und nicht mehr nur im Horizont der eigenen Ortsgemeinde denken. Denn wo es uns gelingt, Kooperationen in der Region oder im Kirchenkreis zu verabreden, da können wir die Dienste einer offenen und öffentlichen Volkskirche auch weiter anbieten.


IV. Vom Wesen der presbyterial-synodalen Ordnung

Im Kirchenkreis Wittstock-Ruppin wurde ein Modell entwickelt, in dem die Kirchenkreis-Ebene stärkere Verantwortung übernimmt. Diejenigen, die sich darauf eingelassen haben, haben neue, ermutigende Erfahrungen gemacht. Es gibt aber auch grundsätzliche Kritik. Manche behaupten, dass diese Form von Kirche-Sein nicht mehr dem Wesen unserer Kirche entspräche, die »von unten nach oben« aufgebaut sei. Ich muss deshalb historisch etwas ausholen, um deutlich zu machen, warum regionale Modelle sehr wohl – und in unseren aktuellen Herausforderungen gerade besonders – dem Wesen unserer Kirche entsprechen.

»Presbyterial« bedeutet: die Gemeinde wird von Ältesten (griech. presbyteroi) geleitet. Diese Form der Leitung ist Ausdruck des Priestertums aller. Dadurch ist gewährleistet, dass das Gemeindeleben sich ausrichtet an der Lebenswirklichkeit der Gemeinde, dass Entscheidungen ortsnah gefällt werden und die unmittelbare Verantwortlichkeit personal sichtbar ist. Der Begriff »synodal« macht gleichzeitig deutlich, dass die Gemeinde immer in eine größere Verantwortungs- und Entscheidungsgemeinschaft eingebunden ist, in eine geistliche Solidargemeinschaft. Geist und Wesen dieses Kirchenverständnisses werden deutlich, wenn wir die historischen Ursprünge betrachten4:

Das presbyterial-synodale Kirchenverständnis geht zurück auf die Zeit der hugenottischen Untergrundkirche im Frankreich des 16. Jh. Damals musste eine Ordnung ohne Beteiligung der weltlichen Herrschaft entworfen werden, da bekanntlich die französische Krone die Reformation nach Kräften zu unterdrücken bemüht war. Überzeugt vom Priestertum aller Gläubigen entstand die von der Basis her aufgebaute Struktur der Kirchenleitung: das Konsistorium (»consistoire«, heute: Presbyterium oder Gemeindekirchenrat) auf Gemeindeebene – die Provinzialsynode (heute: Kirchenkreis) für die Region – die Generalsynode (heute: Landessynode) für die Gesamtkirche.

In Deutschland wurde die presbyterial-synodale Ordnung im 16. und 17. Jh. von niederländischen Flüchtlingsgemeinden am Niederrhein praktiziert. 1568 trafen sich Vertreter dieser Gemeinden in Wesel (der sog. Weseler Konvent) und formulierten die Grundpfeiler einer gemeinsamen presbyterial-synodalen Ordnung. Dabei fällt auf, wie deutlich diese Gemeinden die kirchliche Verantwortungsgemeinschaft betonen: Das Wahlrecht bei der Pfarrwahl wird bei der Klassensynode (Kreissynode) angesiedelt, mindestens aber der Beratung mehrerer Gemeinden übertragen. Von Bestrebungen, die die ­völlige Gemeindeautonomie postulierten, distanzierte sich der Weseler Konvent ausdrücklich.

1571 nimmt die Emder Synode diese Grundgedanken auf. Auch in der Emder Ordnung nimmt der Kirchenkreis in dem nun vierstufigen Aufbau (Ortsgemeinde – Klassis/Kirchenkreis – Provinz – Nation) eine zentrale Stellung ein. Die Aufsicht über die Ortsgemeinden liegt bei den Kirchenkreiskonventen. Die Prediger werden zwar von den Gemeindekonsistorien gewählt, doch nur »mit Urteil und Zustimmung der Klassis oder zweier oder dreier benachbarter Pastoren«. Innerhalb dieser ursprünglichen und makellosen presbyterial-synodalen Ordnung wird also die regionale Solidargemeinschaft sehr stark betont. Die Einbindung der Ortsgemeinde in die regionale Gemeinschaft kommt auch in einer anderen Bestimmung der Emder Ordnung zum Ausdruck: »Ist die Armut einer Gemeinde so groß, daß sie den berufenen Prediger nicht ernähren kann, so soll die Klassis erwägen, ob nicht mehrere benachbarte Gemeinden miteinander verbunden werden können.«

Die Regelungen der Emder Ordnung haben dann über die niederländischen Gemeinden hinaus in deutschen Gemeinden zunächst am Niederrhein gewirkt. Dieses presbyterial-synodale System hat sich schließlich durch die Erkenntnisse des Kirchenkampfes, wie sie in der Barmer Theologischen Erklärung festgehalten wurden, in den Evangelischen Kirchen durchgesetzt und prägt heute die Verfassungen der Landeskirchen der EKD.


V. Überregionale Strukturen im presbyterial-synodalen System heute

Für uns heute bringt dieser historische Rückblick zwei wesentliche Erkenntnisse: 1. Die presbyterial-synodale Verfasstheit unserer Kirche zeigt sich heute in einer umfassenden Solidargemeinschaft, die weit über die Einzelgemeinde hinausgeht. 2. Diese Solidargemeinschaft ist auf gemeindeübergreifende Entscheidungsstrukturen angewiesen.

Zum ersten Punkt: Durch die umfassende Solidargemeinschaft innerhalb der Institution »Evangelische Kirche« profitiert jede einzelne Gemeinde vielfältig. So garantiert die große Gemeinschaft die Möglichkeit, bis in die Einzelgemeinde eine öffentlich-rechtliche Gestalt der Kirche zu verwirklichen. Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche kann wirkungsvoll gegenüber der Politik und der Zivilgesellschaft gelebt werden. Jede Einzelgemeinde profitiert von den Ausbildungsmöglichkeiten für die kirchlichen Berufe.

Zum Zweiten: Dieses Solidarsystem kann aber nur bewahrt werden, wenn auch die Entscheidungsstrukturen presbyterial-synodal gestaltet sind. Ein Beharren auf autonomen Gemeindeentscheidungen, auch dort, wo Gemeinden gar nicht allein in der Lage sind, ihre Mitarbeiter aus den eigenen Ressourcen zu versorgen, widerspricht dem Geist der Solidargemeinschaft und versucht ein sog. »kongregationalistisches Kirchenverständnis« in unsere Kirche systemwidrig einzuführen. In einem kongregationalistischen Kirchenverständnis ist die Gemeinde wesentlich autonomer. Das kann man sich natürlich wünschen. Dann aber muss die Gemeinde auch von ihren eigenen Ressourcen leben können. So ist es z.B. bei unseren kongregationalistischen Partnerkirchen in den USA. Wenn dort eine Gemeinde nicht mehr in der Lage ist, sich personell und finanziell alleine zu tragen, gibt es ein zeitlich knapp bemessenes Unterstützungsprogramm der Gesamtkirche. Wenn dann nicht nach kurzer Zeit die Gemeinde wächst und finanziell stärker wird, wird sie aufgelöst.

In unserer Situation in der EKBO und besonders in strukturschwachen Gebieten, dürfen wir die Augen nicht vor der schlichten Tatsache verschließen, dass man nicht beides haben kann: Man kann nicht von der Solidarität eines presbyterial-synodalen System profitieren und dennoch als Gemeinde in den Entscheidungen völlig selbständig sein wollen. Wenn wir zurzeit neue regionale Kooperationsformen erproben, dann geschieht dies ganz im Geiste unserer presbyterial-synodalen Verfasstheit, auch und gerade dann, wenn wir den Pfarrdienst überregional organisieren. Wenn wir die übergemeindliche Gemeinschaft, z.B. einer Region oder eines Kirchenkreises, stärker als bisher betonen und die entsprechenden übergemeindlichen Gremien, wie etwa die Kreissynoden, als geistliche Entscheidungsebenen ernst nehmen, dann entspricht dies genau dem Wesen unserer presbyterial-synodal verfassten Kirche.

Die Entwicklung von regionalen Strukturen ist auch deshalb so dringend, weil es zunehmend schwer fällt, Pfarrstellen zu besetzen, wenn mögliche Bewerberinnen und Bewerber nicht erkennen können, dass sie in ihrem Dienst durch regionale Strukturen unterstützt werden. Insofern drängt die Zeit. Die nachwachsende Generation von Pfarrerinnen und Pfarrern erwartet die Bereitschaft, neue regionale und kreiskirchliche Strukturen zu etablieren, um den Dienst im Pfarramt sinnvoll gestalten zu können und nicht in ungeklärten Strukturen zwischen verschiedenen Gemeinden und ihren Partikularinteressen zerrieben zu werden.

Wir verstehen im biblischen Sinn die Kirche als den Leib Christi. Ein Leib – viele Glieder, mit dem Haupt Jesus Christus. In diesem Verständnis ist der Kirchenkreis die »Gemeinschaft der Gemeinden und Regionen« und fügt sie als Glieder zusammen. Wenn wir die übergemeindlichen Einheiten als geistlichen Lebensraum entdecken, dann erschließen wir uns neue Freiräume. Wir entdecken, dass Kirche-Sein nicht nur in der Einzelgemeinde passiert. Kirche-Sein geschieht in der Region, im Kirchenkreis, in der Landeskirche, in der weltweiten Ökumene.


VI. Die Orientierungspunkte »Welche Kirche morgen?«

Das Orientierungspapier geht von diesem Kirchenbild aus: Wir sind und bleiben »Volkskirche« im Sinne einer offenen und öffentlichen Kirche. Und wir können dies auch in Zukunft leben, wenn wir es schaffen, über den Tellerrand der kleinen Gemeinden hinauszusehen, Regionen und Kirchenkreise in einer sinnvollen und dauerhaft lebensfähigen Größe zu gestalten. Das Papier beschreibt in vier »Orientierungspunkten« Grundhaltungen, die wir in unserer Kirche brauchen und gemeinsam stärken müssen.


1. Geistlich leben

Wir sind im atheistischen Umfeld in einer besonders herausfordernden Situation. Umso mehr gilt es, das geistliche Leben zu stärken, damit unser Zeugnis für Jesus Christus erkennbar ist und bleibt. Dabei müssen wir unsere Spiritualität nicht erfinden. Die EKBO hat vielfältige geistliche Traditionen. Sie bieten eine hervorragende Grundlage: historische Orte spirituellen Lebens und neue geistliche Gemeinschaften. Wir bauen ein »Netzwerk Spiritualität« auf und haben eine Beauftragte für Spiritualität. Aber wir haben unsere Potentiale noch nicht ausgeschöpft, Menschen die nach Spiritualität suchen mit dem Evangelium zu erreichen. Gerade die volkskirchliche Ausrichtung mit ihrer großen Vielfalt unterschiedlicher spiritueller Traditionen bietet Möglichkeiten, Menschen verschiedener Milieus anzusprechen.

Konkrete Ziele sind auf der S. 17 des Papiers formuliert: Wir wollen unser geistliches Leben weiter aktiv gestalten, unser evangelisches Verständnis von Spiritualität weiter entwickeln und unsere geistlichen Traditionen für die Gegenwart neu erschließen. Wir sorgen für verlässliche Gottesdienstangebote, halten nach Möglichkeit unsere Kirchen offen, pflegen die persönliche Frömmigkeit und die Andachts- und Gottesdienstkultur in allen Bereichen der kirchlichen Arbeit.


2. Missionarisch handeln

»Mission« bedeutet für uns Glaubensvermittlung, aber auch: versöhnendes Handeln im Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Deshalb begrüßen wir es, dass wir uns als Kirche im Rahmen der Möglichkeiten unseres staatlichen Religionsrechtes in die Gesellschaft einbringen können. Wir nehmen gerne soziale, kulturelle und bildende Aufgaben für den Staat wahr (Subsidiaritätsprinzip). Dieses Engagement (speziell die Kindertagesstätten, die konfessionellen Schulen sowie die professionelle Diakonie) prägt stark das Bild der Kirche. Die Kirchenmusik und die Renovierung zahlreicher Brandenburger Dorfkirchen sind weitere Eckpfeiler der öffentlichen Präsenz. Sie bilden Brückenköpfe bis weit hinein in den säkularisierten Teil der Gesellschaft.

Konkrete Ziele sind auf den S. 24 und 25 formuliert: Wir bleiben weiterhin in Politik und Gesellschaft durch Diakonie, Bildung und Kulturarbeit präsent. Wir verstärken unser Engagement durch vernetzte, konzertierte Aktionen; nutzen stärker die neuen sozialen Medien; achten darauf, dass all unser Tun und Verhalten so gestaltet wird, dass Außenstehende angesprochen werden und behalten das Ziel vor Augen, Menschen zu gewinnen, Mitglieder unserer Kirche zu werden oder wieder zu werden.



3. Zielorientiert planen

Unsere Kirche lebt davon, dass wir unbedingt darauf vertrauen, dass Gott selbst die Kirche erhält. Dieses Grundvertrauen schließt aber aktives Planen und Gestalten nicht aus; im Gegenteil: eine Kirche, die sich um das Vorletzte verantwortlich kümmert, bereitet Gott den Weg, damit er das Letzte bewirken kann (Dietrich Bonhoeffer).

Die Entwicklung der Mitgliederzahlen lässt es notwendig erscheinen, Schwerpunktsetzung statt Vollständigkeit anzustreben. Dazu brauchen wir die Bereitschaft, miteinander Ziele zu entwickeln und zu verfolgen. Nach dem Selbstverständnis der EKBO als presbyterial-synodale Kirche kann die Zielentwicklung nur transparent und partizipativ erfolgen. Die Zielvorstellungen der verantwortlich Handelnden müssen deswegen bekannt sein und die Folgen ihres Handelns regelmäßig in einem geschwisterlich-kollegialen Miteinander überprüft werden. Dabei tragen die in der Grundordnung als Entscheidungsgremien bestimmten Instanzen die letzte Verantwortung.

Konkrete Ziele finden sich auf den S. 29-31. Ich nenne nur einige als Beispiele: Wir üben zielorientiertes Handeln ein und entwickeln dafür Kriterien; wir setzen Schwerpunkte; wir entdecken die Region als gemeinsamen Gestaltungsraum mehrerer Gemeinden.


4. Verantwortlich haushalten

Die Grundordnung der EKBO verpflichtet uns zum Engagement für die Bewahrung der Schöpfung (Grundartikel 11). Unsere schöpfungsethische Überzeugung verpflichtet uns, in sämtlichen Bereichen unserer Arbeit den eigenen Energieverbrauch möglichst gering zu halten. Eine vergleichbare Ethik der Genügsamkeit gilt für den verantwortungsvollen Umgang mit den vorhandenen finanziellen Mitteln. Die nachfolgenden Generationen müssen – trotz Mitgliederverlust aufgrund des demographischen Wandels – weiterhin die Möglichkeit haben, kirchliches Leben in Vielfalt zu erhalten und zu gestalten.

Ein tragender Pfeiler kirchlicher Finanzierung bleibt die Erhebung der Kirchensteuer, die wir in der Organisationsform als Körperschaft öffentlichen Rechts als Dienstleistung von den Finanzämtern einkaufen können. Die Kirchensteuer ist dabei für die subsidiäre Erfüllung der vielfältigen gesellschaftlichen Aufgaben bleibend notwendig. Dafür müssen wir in der gesellschaftlichen Diskussion geschlossen eintreten. Auch historisch gewachsene Staatszuwendungen sind, unabhängig von notwendigen Diskussionen über Einzelfragen, nicht per se verwerflich, sondern Ausdruck der christlichen Prägung unserer Gesellschaft.

Parallel dazu müssen wir die verstärkte Einbeziehung alternativer Finanzierungsmöglichkeiten, so z.B. Spenden, Sponsoring und Fundraising, vorantreiben, ohne die Möglichkeiten auf dem heiß umkämpften Spendenmarkt zu überschätzen.

Die konkreten Ziele sind auf den S. 36 und 37 zu finden: Wir intensiveren unseren öffentlichen Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung, treten gemeinsam für die verlässliche Form der Kirchenfinanzierung durch Kirchensteuer ein, aber ergänzen diese durch das Einwerben von zusätzlichen Mitteln; wir bewahren auch in finanziell angespannten Situationen die Solidarität.


Drei Handlungsfelder werden in den Orientierungspunkten im weiteren Verlauf behandelt: Bildung, Diakonie und Ökumene. Darauf kann ich hier im Einzelnen nicht mehr eingehen. Ich lade dazu ein, im Konsultationsprozess das zum Ausdruck zu bringen, was aus den einzelnen Erfahrungs- und Verantwortungsbereichen heraus wichtig ist, damit bei der Überarbeitung des Papiers tatsächlich das zur Geltung kommt, was in unserer Kirche von Bedeutung ist: Wir sind Teil der Kirche Jesu Christi, die in vielfältiger Weise die Botschaft des Evangeliums bezeugt und lebt. Und wir vertrauen darauf, dass der auferstandene Christus seine Kirche begleitet und erhält, er, der gesagt hat: »Ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende.«


Anmerkungen:

1 Vortrag auf der Kreissynode des Kirchenkreises Wittstock-Ruppin, 9.3.2013.

2 Welche Kirche morgen? Orientierungspunkte für den Reformprozess. Ein Diskussionspapier. Herausgegeben vom Reformbüro der EKBO, Februar 2013. Textfassung auch über www.reformprozess.ekbo.de.

3 Vgl. jetzt auch die Erkenntnisse des Religionsmonitors der Bertelsmannstiftung, mit dem Fazit: »Insbesondere das Christentum leistet einen bedeutenden Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft.« Detlef Pollack/Olaf Müller, Religionsmonitor. Verstehen, was verbindet. Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland. Bertelsmann, 56 (www.religionsmonitor.de).

4 Ich beziehe mich im Folgenden, zum Teil wörtlich, auf: Hellmut Zschoch, Die presbyterial-synodale Ordnung – Prinzip und Wandel, in: Hellmut Zschoch (Hg.), Kirche – dem Evangelium Strukturen geben, Neukirchen-Vluyn 2009, 220-238.

 

Über die Autorin / den Autor:

Bischof Dr. Dr. h.c. Markus Dröge, seit November 2009 Bischof der EKBO, 2004-2009 Superintendent des Kirchenkreises Koblenz, 1999 Promotion (»Kirche in der Vielfalt des Geistes«) bei Michael Welker, Heidelberg; Systemischer Berater.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2013

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