Justizvollzugsanstalten sind Räume des Freiheitsentzugs, Kirchen und Kapellen hingegen sind Räume besonderer Freiheitserfahrung. Was dieser Befund für die Funktion und Gestaltung von Gefängniskapellen bedeutet, reflektiert Thomas Erne unter Rückgriff auf Michel Foucaults Konzept der »Heterotopie« und schließt erste konkrete raumästhetische Über­legungen an.


I. Präludium

1. Heterotopien zweiter Ordnung

Blickt man auf Fotos von Kirchen, Kapellen und religiös genutzten Multifunktionsräumen in den Justizvollzugsanstalten von Mannheim, Bruchsal, Heimsheim, Freiburg oder Schwäbisch Gmünd1 wird auch dem Kenner des Kirchenbaus nichts auffallen. Die Religionsräume im Gefängnis unterscheiden sich, auch in ihrer Unwirtlichkeit, nicht von Räumen außerhalb des Gefängnisses. Der besondere Kontext liefert keinen Anlass für besondere Formen. Das mag äußerliche Gründe haben: kein Geld oder kein Interesse. Trotzdem irritiert der Mangel an spezifischer Gestaltung in einem Gebäudekomplex, der sonst äußerst sorgfältig gestaltet und bis ins kleinste Detail auf die Situation des Freiheitsentzuges abgestimmt ist. Müssten nicht auch religiöse Räume im Gefängnis auf die Situation der Haft reagieren?

Wie könnte der spezifische Typus einer solchen Gefängniskapelle aussehen? Dazu müsste man wissen, welche kulturelle Bedeutung das Gefängnis in einer freiheitlichen Gesellschaft hat und welche Funktion die Religion im modernen Strafvollzug erfüllt. Immerhin schränkt der Staat zwar weitgehend die Selbstbestimmungsrechte der Inhaftierten ein, nicht aber ihre Religionsfreiheit. Zwei Fragen also: Zum einen, was ist die kulturelle Bedeutung des Gefängnisses, und zum anderen, welche Rolle spielen innerhalb der Gefängnismauern die religiösen Räume der Transzendenz?

Meine Hypothese lautet, dass es sich bei religiösen Räumen im Gefängnis um eine Variante einer situativen Ekklesiologie handelt, um einen der »Gottesdienst-Orte«2, die durch ihren Kontext bestimmt sind. Kapellen und Kirchen im Gefängnis sind sogar ein paradigmatischer Fall einer solchen situativen Ekklesiologie, weil an keinem anderen Ort der Kontext so nachhaltig ins Bewusstsein tritt wie im Gefängnis. Man könnte mit Foucault sagen, es handelt sich bei der Kirche im Gefängnis um eine Heterotopie zweiter Ordnung, um eine Gegenwelt in einer Gegenwelt, um einen Ort religiöser Freiheit an einem Ort des weitgehenden Freiheitsentzuges. Menschen in einem »eng begrenzten Raume« festzuhalten, ist rechtlich gesehen das »Tatbestandsmerkmal des staatlichen Freiheitsentzugs«3.

Methodisch orientiere ich mich in dem unbearbeiteten Feld der religiösen Räume im Gefängnis eher an einigen kategorialen Bestimmungen. Soweit ich sehe, gibt es weder quantitative noch qualitative Untersuchungen zu religiösen Räumen in Vollzugsanstalten. Worauf ich mich jedoch beziehen kann, sind das Bildmaterial und die Texte von Gefängnisseelsorgern zu den Konzepten, die ihren religiösen Räumen zugrunde liegen. An die Überlegungen zu Kirchen in JVAs als Heterotopien zweiter Ordnung schließe ich einige Überlegungen zu »Gestaltungsfragen« an: Wie kann sich die Religion als Heterotopie zweiter Ordnung im Gefängnis angemessen Ausdruck verleihen in den Räumen, die ihr zur Verfügung stehen? Was wäre eine spezifische Gestaltung religiöser Räume im Gefängnis?


2. Zum Forschungsstand

Der Entwurfsatlas Sakralbau von Rudolf Steger bietet eine gediegene Typologie religiöser Bauwerke: Zentrums- und Achsenkirchen, Synagogen, Moscheen, Krematorien und Aussegnungshallen4. Kirchen in Gefängnissen kommen nicht vor. Sabine Kraft analysiert religiöse Räume im Kontext ihrer Nutzung5. Sie rubriziert die unterschiedlichen Kontexte der Nutzung mit Stichworten wie »Pflege und Abschied« oder »Reisen und Rasten«6. Auch hier fehlt das Gefängnis als Nutzungskontext religiöser Räume, vermutlich schon deshalb, weil eine Rubrik wie »Verwahren und Verändern« ein tiefes Unbehagen auslöst. Erst ein spektakulärer Neubau wie die JVA Gelsenkirchen mit zwei eigenen Baukörpern für eine Männer- und eine Frauenkapelle erregt die Aufmerksamkeit der Fachwelt7.

Soweit ich die Literatur zum modernen Kirchenbau überblicke, spielen Kapellen und Kirchen im Gefängnis keine Rolle, selbst da nicht, wo das Thema der Sache nach verhandelt wird, etwa in Wolfgang Hubers programmatischer Rede auf dem Evang. Kirchbautag in Stuttgart 2005. In seinem Vortrag schlägt Huber vor, die Kirchenräume als Schutzräume des Gottesfriedens, der Treuga Dei, zu verstehen, »räumliche Inseln des Friedens, geschützte Oasen, in denen Streit und Gewalt aufhören mussten«8. Im Kapitel über die explizit diakonischen Formen des Kirchenbaus in Albert Gerhards Theologie des Kirchenraums9 werden religiöse Räume im Gefängnis (vgl. Mt. 25,43) nicht behandelt. Auch die Gesamtdarstellung aller Kirchen und Gemeindezentren, die seit 1945 von der bayrischen Evang.-luth. Landeskirche10 gebaut wurden, oder die umfassende Bestandsaufnahme der Kirchenbauten seit 1945 im katholischen Bistum Trier11 führen Kapellen in Vollzugsanstalten nicht auf. Das mag verschiedene Gründe haben. Ich nenne einige: das Material, Fotos, Grundrisse etc. ist nicht leicht zugänglich; die Öffentlichkeit ist stark eingeschränkt; verantwortlich für die Räume sind in der Regel nicht die Kirchen, sondern der Staat; die psychologische Schwelle, sich mit Gefängnissen zu beschäftigen, ist sehr hoch und der ästhetische Reiz eher gering.

Eine Analyse der Gefängniskapellen wird durch den Umstand erschwert, dass das Gefängnis kulturtheoretisch eher ein Randthema ist. In seiner breit angelegten Leibphilosophie widmet sich Hermann Schmitz durchaus elementaren Phänomen des leiblichen Erlebens, etwa der Enge und der Weite12. Beide Erfahrungsdimensionen sind für die Situation des Gefangenseins charakteristisch. Bei den Bauformen, die diese Gefühle evozieren, kommen bei Schmitz zwar Kirchen, nicht aber Kirchen im Gefängnis vor. Auch Gernot Böhme13 kennt in seiner weit ausgefächerten Phänomenologie leiblichen Spürens zwar die Atmosphäre von Kirchen, Plätzen, Parkhäuser, Bars, der Rheinschifffahrt, eines Ballsaals, der Sahara, von Paris – aber nicht die Atmosphäre im Gefängnis. Dabei kann man Enge als Erfahrung und Weite als Sehnsucht an kaum einem anderen Ort so intensiv leiblich spüren wie im Gefängnis.

Eine Ausnahme ist Michel Foucault. Will man die Funktion der Kirchenräume im Gefängnis verstehen, kommt man an seiner Analyse des Gefängnisses nicht vorbei. Als eine kategoriale Bestimmung der kulturellen Bedeutung von Gegenwelten rekapituliere ich kurz Foucaults Theorie der Heterotopie14. Diese knappe Skizze ist viel diskutiert und sicher nicht neu. Einen Neuigkeitswert bekommt der Begriff der Heterotopie, wenn er auf religiöse Räume in Gefängnissen angewendet wird und man die Kirche in der Vollzugsanstalt als Heterotopie einer Heterotopie interpretiert, einen Ander-Ort an einem anderen Ort. Foucault selber denkt Heterotopien als Gegenorte zur Gesellschaft, nicht als Gegenorte von Gegenorten. Soweit ich sehe, steht in seinem Theorievorschlag einer solchen Erweiterung des Begriffs der Heterotopie grundsätzlich nichts im Wege. Außerdem finden sich interessante Hinweise auf die religiösen Wurzeln der Reformgefängnisse in den USA im 19. Jh. im Standardwerk zur Gefängnisarchitektur von Andrea Seelich15.

Die Alternative zum Verständnis des Kirchenraums als Gegenwelt in einer Gegenwelt bestünde darin, statt Differenz und Kontrast, die Einheit und Zugehörigkeit der Kirche zum Gesamtensemble Gefängnis zu betonen. Statt heterotopisch vom Kirchenraum zu reden als einem »Freiraum für Leib und Seele« der »exterritorial für den Machtanspruch des Staates« ist und wie aus einer »anderen Welt« wirkt – das sind Formulierungen aus Beschreibungen von Gefängnisseelsorgern für die Kapellen in Rothenburg und Mannheim16 –, müsste man, gewissermaßen homotopisch, den Kirchenraum als integralen Bestandteil eines funktional ausdifferenzierten Strafvollzugs begreifen. Wie der Raum für Sport oder der Raum für die Arbeit würde in diesem Konzept der Raum der Religion einen funktional wichtigen Beitrag zum Gelingen des modernen Strafvollzugs leisten.


II. Topologisches Denken

1. Spatial Turn

Foucaults Kategorie der Heterotopie gehört in den Zusammenhang einer Wiederentdeckung des Raumes, eines »spatial turn«17 in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Programmatisch geht Foucault von einer neuen Epoche des Raumes aus, einer »Epoche des Simultanen«18, in der die Dinge immer weniger als zeitliches Nacheinander erlebt werden – Entwicklung ist eine Obsession des Geschichtsdenkens –, sondern als ein räumliches Nebeneinander, eine Parataxe verschiedener sich widersprechender Tendenzen und Dimensionen19. Man denke nur an die Simultanität globaler und lokaler Räume in unserer Alltags-Kommunikation. Die face-to-face-Kommunikation wird ständig überlagert von Kontakten über Handy oder das Internet. »Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt.«20


Die Kapelle der Justizvollzugsanstalt in Schwäbisch Gmünd


2. Heterotopien – Orte der Exklusion

Was Foucault an diesem postmodernen Weltbild, einem Beziehungsnetz von räumlichen Platzierungen, die durch keine übergeordnete Instanz mehr zu einer Einheit koordiniert werden, besonders interessiert, sind Exklusionen. Durchaus »im Gegensatz zur klassischen Frage der Soziologie, was eine Gesellschaft zusammenhält«21, fragt Foucault, welche Ausgrenzungen nötig sind, damit eine solche Netzwerk-Gesellschaft funktioniert. Welches sind die »Räume, die mit allen anderen in Verbindung stehen und dennoch ­allen anderen Plazierungen widersprechen«22? Orte, die in die »Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen als Gegenplacierungen oder Widerlager« und wo Relationen innerhalb der Kultur »gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie [im Gegensatz zu den Utopien] tatsächlich geortet werden können«23.

3. Exklusion und Religion

Diese exkludierenden Orte, die innerhalb der Gesellschaft außerhalb sind, nennt Foucault andere Orte, Heterotopien. Eine dieser Heterotopien ist das Gefängnis. Von diesem Heterotopos behauptet Foucault, sein Zweck sei eine »Umformung der Individuen«24. Eine andere Heterotopie ist der religiöse Raum, der Tempel, das Fanum, der ausgegrenzte heilige Bezirk, wo, abgesondert vom Alltag, die Dinge dem menschlichen Gebrauch entzogen sind.

Welche verwandtschaftlichen Beziehungen unterhalten Gefängnis und Kirche, wenn beide Heterotopien sind? Angenommen die These des italienischen Philosophen Giorgio Agamben hat etwas für sich, dass »es nicht nur keine Religion gibt ohne Aussonderung, sondern jede Aussonderung in sich einen genuin religiösen Kern enthält oder bewahrt«25. Sind dann die Kirchen im Gefängnis eine Erinnerung an einen genuin religiösen Kern des Gefängnisses als eines Ortes der Aussonderung?


4. Krisen- und Abweichungsheterotopien

Keine Gesellschaft kann ohne Exklusionen auskommen. Das ist Foucaults provokante kulturtheoretische Generalthese. Aber wie diese unverzichtbare Funktion der Aussonderung erfüllt wird, nimmt in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedliche Formen an. Foucault unterscheidet zwei Grundtypen: Krisen- und Abweichungsheterotopien.

Jede Gesellschaft braucht offenbar in irgendeiner Form Orte für Menschen, die an biographischen Wendepunkten aus der gesellschaftlichen Ordnung fallen. Ein solcher Heterotopos zur Bewältigung von Krisen ist beispielsweise die Kirche. Sie ist ein Ort für Krisenrituale wie den Kasualien, die an biographischen Wendepunkten, der Taufe, Hochzeit, Bestattung, Konfirmation etc. eine religiöse Begleitung in lebensgeschichtlich bedeutsamen Übergängen anbietet26. Und es braucht Orte, Foucault nennt ausdrücklich Gefängnisse, psychiatrische Krankenhäuser und Altersheime, in die »man Individuen steckt, deren Verhalten abweichend ist im Verhältnis zur Norm«27. Vermutlich gibt es fließende Übergänge zwischen beiden Grundtypen. Jedenfalls hat man den Eindruck, dass sich das moderne Gefängnis als eine hybride Form entwickelt auf dem Weg vom »Verwahrungsvollzug zum … Behandlungsvollzug«28. Der moderne Strafvollzug scheint beide Grundtypen zu überlagern, die Foucault herausarbeitet, die Abweichungsheterotopie, die abweichendes Verhalten unterbindet, und die Krisenheterotopie, die es therapiert.


5. Religionsorte als Heterotopie des Gefängnisses

Eine Heterotopie ist kein in sich einheitlicher, homogener Gegenort der Gesellschaft. Auch das Gefängnis vereint in seinen Mauern an sich Unvereinbares, Räume der Arbeit, der Bildung, des Sports, der Unterhaltung, der Religion. Zu einem Heterotopos, einer Gegenwelt innerhalb der Gegenwelt Gefängnis wird einer dieser Räume aber erst dann, wenn er in der Lage ist, den Mikrokosmos Gefängnis als Ganzes zu thematisieren – und auch zu dementieren. Nur wenn der Kirchenraum im Gefängnis »mit allen anderen in Verbindung stehen und dennoch allen anderen Plazierungen widersprechen«29 kann, ist er nach Foucaults Definition eine eigene Welt in der Welt des Gefängnisses.

Das ist jedoch genau die Leistung, die Religion, etwa im Unterschied zum Sport, für sich in Anspruch nimmt – und nehmen muss. Sie ist eine universalisierende Einstellung, in der alles, was ist, in ein eine neues Licht getaucht und in einen anderen Horizont gerückt wird. Ich zitiere eine besonders prägnante Formel für diese umfassende Perspektive der Religion, die es ihr erlaubt, die ganze Welt – und nicht nur einzelne Momente in ihr – aufzugreifen und zu verwandeln, und zwar aus Friedrich Schleiermachers »Reden über die Religion«: »… und so alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion«30. Im Prinzip ist diese umfassende Perspektive der Religion nicht lokalisierbar. Sie ist überall und auf alles anwendbar. Aber da die Religion die Beziehung des Endlichen auf die Unendlichkeit in Raum und Zeit zur Darstellung bringen will, entstehen spezifisch religiöse Räume, die an einem bestimmten Ort die Perspektive, die an keinen Ort gebunden ist, präsent halten. Kirchen sind eine »wunderbare Vereinigung von Lokalität und Überörtlichkeit«31. Kein Wunder also, dass Kirchen im Gefängnis als Gegenorte fungieren, denn sie machen am Ort einer extremen Beschränkung die maximale Gegenrechnung auf. Sie sind der Ort einer religiösen Freiheit, die an keine Beschränkung und an keine Orte gebunden ist.



Die Frauenkapelle der Justizvollzugsanstalt in Gelsenkirchen
LWL-Medienzentrum für Westfalen


6. Funktionen religiöser Heterotopie im Gefängnis

Ordnung

Was wäre folglich die Funktion des religiösen Raumes als Gegenort im Gefängnis? Foucault nennt zwei Extremwerte für heterotope Funktionen. Auf der einen Seite die Imagination, auf der anderen Seite die Ordnung. Die Heterotopie als Illusionsraum – Foucaults Beispiel sind berühmte Bordelle – evoziert gegenüber der Welt die überschießenden Möglichkeiten, die innerhalb der Grenzen der Gesellschaft nicht realisiert werden können und die doch zu ihr gehören. Der Kompensationsraum dagegen thematisiert die Ordnung der Gesellschaft, nicht das, was über die Ordnung hinausgeht, sondern was an ihr noch nicht in Ordnung ist. Kompensationsheterotopien sind Räume einer vollkommeneren Ordnung, ein »anderer wirklicher Raum, der so vollkommen, so sorgfältig, so wohlgeordnet ist wie der unsrige ungeordnet, missraten und wirr ist«32. Foucaults Beispiele für vollkommene geordnete Räume sind christliche Gründungen, die puritanischen Neugründungen in New England und die Jesuitenkolonien in Südamerika. Foucault attestiert diesen religiös inspirierten Gegenwelten, dass es »absolut geregelte Kolonien [waren], in denen die menschliche Vollkommenheit tatsächlich erreicht war«33.


Imagination

Die Beispiele zeigen, dass eine einseitige Zuordnung der Religion zur Funktion, Möglichkeiten zu imaginieren, nicht aufgeht. Die Gegenwelt der Religion hat es immer auch mit Ordnung zu tun. Treuga Dei, die von Wolfgang Huber als Beschreibung des Kirchenraumes in Spiel gebrachte mittelalterliche Vorstellung34, meint keinen rechtsfreien, sondern einen gewaltfreien Raum, die Antizipation einer Situation, wo der Löwe mit dem Lamm nach Regeln friedlich beisammen liegt. Die Funktion religiöser Räume als Gegenwelt und Widerlager der Gefängnisse bewegt sich folglich zwischen zwei Polen, der überschießenden Imagination einerseits – große Erzählungen und weitende Symbole der Bibel, die den beschränkten Gefängnisalltag in den Horizont des Unendlichen stellen – und der Antizipation einer Ordnung, die im Gefängnis so nicht, oder noch nicht existiert, einen Schutzraum des Friedens, der Gleichheit aller und der Gewaltlosigkeit.


III. Räumliche Konfigurationen

Nun muss sich die religiöse Freiheit am Ort des rechtlichen Freiheitsentzuges auch räumlich darstellen lassen, sonst ist die Gefängniskapelle keine Heterotopie, ein »wirklicher Ort, wirksamer Ort«35, sondern sie bleibt Utopie, eine ortlose Idee. Hier also erste Gestaltungsvorschläge, in welche Richtung sich ein eigener Typus der Gefängniskapelle entwickeln könnte.


1. Sitzordnung

Mein erster Gestaltungsvorschlag gehört in die Kategorie der Ordnung und ist Teil eines »ästhetischen Notfallkoffers«, denn der Vorschlag lässt sich ohne großen Aufwand realisieren. Die christliche Religion hat eine gediegene Tradition egalitärer Gemeinschaftsformen anzubieten, die sich über Sitzordnungen erschließen. Die Hausgemeinden der frühen Christen inszenierten die Entdramatisierung sozialer Differenzen in der Tischgemeinschaft des Abendmahls36. Diese Provokation war schon für die Antike maximal. Gegen alle gesellschaftlichen Konventionen saßen beim Abendmahl Arme und Reiche, Sklaven und Herren, Juden und Christen, Frauen und Männer gleichberechtigt an einem Tisch. Paulus liefert dazu das christologische Argument: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau: denn ihr seid allesamt sind einer in Christus« (Gal. 3,28). Auch Reformation ist räumlich zunächst nur ein Ereignis der Möblierung vorhandener Kirchen. Sie greift mit dem Recht eines jeden auf freien Zugang zum Altar und auf einen eigenen Sitzplatz die egalitäre Gemeinschaft der frühen Hausgemeinden auf. Sitzordnungen sind eine einfache Form, den religiösen Raum als Gegenwelt und Ort der Freiheit zu inszenieren, in dem die Hierarchien und sozialen Unterschiede im Gefängnis durchquert werden.


Das Meeting House der Quäker in Houston/Texas    VG-Bild

2. Tor und Tür

Auch mein zweiter Vorschlag betrifft die Ordnung des religiösen Raumes, die Bedeutung seiner Schwellen37. Für viele moderne Menschen, im Gefängnis wie außerhalb, ist zwar Religion ein Thema. Ob sie sich mit diesem Bedürfnis aber auch in den Räumen der Religion wohl fühlen, bleibt für sie eine offene Frage. Deshalb wird die Schwelle als realer Ort wie als räumliche Metapher so wichtig, weil damit eine Übergangszone in der sozialen Kommunikation beschreiben wird, in der es noch nicht zu einer Festlegung auf einen sozialen Status, etwa die Frage Mitglied oder Nicht-Mitglied gekommen ist und Gemeinschaft nicht schon besteht, »sondern überhaupt erst entsteht in den vielfältigen Begegnungen«38.

Eine andere räumliche Metapher für diesen Zwischenraum, einen »third space« in der sozialen Kommunikation, findet sich bei dem Kulturwissenschaftler Homi K. Bhabha: »Das Treppenhaus als Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen … das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung und der Übergang in der Zeit, die es gestattet, verhindern, dass sich Identitäten an seinem oberen und unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene Hierarchie gibt.«39

Nun sind weder das Treppenhaus noch die Schwelle »für einen Daueraufenthalt geeignet«40. Ich würde daher vorschlagen, topologisch nicht den Kirchenraum als Zwischenraum zu verstehen, sondern den Weg dorthin, die Schwelle, die Tür oder das Tor. Es wäre ein besondere gestalterische Aufgabe im Gefängnis, wo Türen und Tore eine so wichtige Rolle spielen, die Eingangssituation zu den religiösen Räume bewusst als freie Schwellenorte zu konzipieren, eine Freiheit der Nicht-Festlegung auf einen sozialen Status, der Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit, die im Gefängnis dadurch einen dramatischen Akzent gewinnt, dass die Tür zur Kapelle die einzige Tür ist, die der Inhaftierter nach eigenem Gutdünken öffnen oder schließen kann.


3. Atmosphäre

Mein dritter Vorschlag betrifft den religiösen Raum als Ort der Imagination. Kirchen spielen in der Leibphilosophie von Hermann Schmitz eine hervorgehobene Rolle, denn Kirchen sind Stimmungsräume, die ein Gefühl der Entgrenzung, der Weitung hervorrufen. Eine »ins Unendliche führende Kraft der Weitung des Leibes ist ihre Bedeutung für das religiöse Bewusstsein«41. Zwei berühmte Beispiele für solche Weitungen im Kirchenraum: Für Augustinus ist es die Akustik in St. Ambrosius in Mailand. Dort lernt er bei seiner Taufe (387) den gregorianischen Gesang kennen. Beim Klang der einstimmigen Musik, die in der Weite des Raumes zu verschweben scheint, ist es ihm, als wäre die Musik ein Vorspiel des Paradieses – praeludium vitaea eternae –, das seinen Geist über die Schwelle vom Endlichen ins Unendliche führt42. Und Abt Suger, der Erbauer der Kathedrale in St. Denis, beschreibt, ebenfalls neuplatonisch inspiriert, die Bewegung vom Materiellen zum Immateriellen als Wirkung des Lichtes, das durch die farbig gefassten Chorfenster in den Chor von St. Denis in Paris fällt. »Die vielfarbige Schönheit der Steine … veranlasste mich, im Übertragen ihrer verschiedenen heiligen Eigenschaften von materiellen Dingen zu immateriellen zu verharren.«43

Weitungen des Lebensgefühls müsste für die Atmosphäre in Gefängniskapellen charakteristisch sein. In der JVA Gelsenkirchen wirkt die Frauenkapelle wie eine Schutzhütte, die sich nach oben öffnet und so den Blick weitet. Mit den modernen Mitteln des künstlichen Lichtes erzeugt James Turrell in Houston/Texas in einem Meeting House der Quäker ein entgrenzendes Gefühl der Weite. Es geht aber auch mit minimalem Aufwand. Sehr eindrücklich ist der informelle Gebrauch einer Bank am Fenster der Kapelle in der JVA Rothenburg, die zu einem quasi-litur­gischen Prinzipalstück geworden ist, weil die Inhaftierten auf diese Bank stehen und aus dem Fenster auf das Tal und die Stadt blicken können.


4. Bilder

Kapellen im Gefängnis müssten anregend sein, ein Ort der Träume, der Geschichten und Bilder, die über den Gefängnisalltag hinausweisen. Werner Mally hat die Kapelle in der JVA Frankfurt-Preungesheim als ein »schaukelndes Stück Raum« gestaltet, ein Schiff im Gefängnis, weil in einem Gefängnis ohne Schiff die Träume versiegen. Das Beispiel für einen Imaginationsort ist auch bei Foucault das Schiff: »Wenn man daran denkt, dass das Schiff ein schaukelndes Stück Raum ist, ein Ort ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres aufgeliefert ist … dann versteht man, warum das Schiff bis in unsere Tage … das größte Imaginationsarsenal [ist]. Das Schiff, das ist die Heterotopie schlechthin. In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume«44.

Bedenkt man die Schlüsselrolle, die die Einbildungskraft als Organ religiöser Erfahrung in der Moderne gewonnen hat – »ursprünglich ist die Bildkraft der Religion«45 –, dann ist es keine Unaufmerksamkeit gegenüber der religiösen Andacht, wenn ein Inhaftierter die Fenster in der Kapelle der JVA Mannheim meditiert und nicht dem Gottesdienst folgt: »Ich komme nicht nur wegen Ihres Gottesdienstes, aber das Fenster ist so schön.«46 Was sich in der Schönheit erschließt, ist die Welt als eine Einheit, die allen Unterscheidungen voraus liegt, auch den rechtlichen, die den Betrachter schmerzhaft betreffen, von Taten, die strafbar sind und solchen, die es nicht sind. Bilder in einer Gefängniskapelle oder auch die Kapelle als ein räumliches Bild sind daher mehr als eine freundliche Geste. In Bildern der Religion wird auch der Betrachter sich selber als eine Wirklichkeit erschlossen, die allen seinen sozialen und rechtlichen Zuschreibungen voraus liegt. In der JVA Kempten hat Werner Mally mit den Inhaftierten zusammen die Wände der Gefängniskapelle bearbeitet. Es sind Aureolen oder Gloriolen entstanden, Ovale in die Wände eingegraben, so dass die Gefangene sich beim Sitzen, Stehen gegenseitig wahrnehmen wie von einem Heiligenschein umgeben.


IV. Fazit

Mit den Kirchen und Kapellen im Gefängnis verbindet sich eine noch nicht eingelöste Gestaltungsaufgabe. Die Räume der Transzendenz müssen im Gefängnis erst noch zu dem werden, was sie nach ihrem Kontext sein könnten: Der räumliche Ausdruck einer spezifischen Akzentuierung, vielleicht auch Dramatisierung religiöser Freiheit, die am Ort eines umfassenden Entzuges von Freiheit eine andere räumliche (und liturgische) Gestalt annehmen müsste als in anderen Kontexten. Wo diese Gestaltung gelingt – etwa in der Kapelle, die Werner Mally in der Vollzugsanstalt in Frankfurt entworfen hat –, da wird der inhaltliche Reichtum christlicher Freiheit in konkreten Lebensumständen greifbar, nicht nur für die Inhaftierten im Gefängnis.


Anmerkungen:

1 Vortrag bei der Tagung der Bundeskonferenz der Evang. Gefängnisseelsorge in Freiburg vom 22.-25. April 2012 zum Thema: »ZwischenRäume – Architektur und Geist im Gefängnis«.

2 Vgl. G. Kaszó, Gefängnis, in: G. Fermor/G. Schäfer/H. Schroeter-Wittke/S. Wolf-Withöft (Hg.), Gottesdienst-Orte. Handbuch Liturgischer Topologie, Leipzig 2007. Kaszó geht es allerdings nur um den liturgischen Topos, um Gottesdienste am (Un-)Ort Gefängnis, nicht um den Gottesdienst-Ort, den Raum, in denen im Gefängnis Gottesdienst gefeiert wird.

3 H. Drier/F. Wittreck, Rechtswissenschaft, in: St. Günzel (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt 2009, 338-353; 346.

4 R. Stegers, Entwurfsatlas Sakralbau, Basel 2010, 6-7.

5 S. Kraft, Räume der Stille, Marburg 2007, 8ff.

6 A.a.O., 4f.

7 St. von Wiese, Gesetz und Chaos. Meditationsräume in der JVA-Gelsenkirchen, kuki 2/2000, 103-105.

8 W. Huber, Kirchen – Orte des Gottesfriedens, in: H. Adolphsen/A. Nohr (Hg.), Glauben sichtbar machen. Herausforderungen an Kirche, Kunst und Kirchenbau, Hamburg 2006, 29-46; 31.

9 Vgl. A. Gerhards, Wo Gott und die Welt sich begegnen. Kirchenräume verstehen, Kevelaer 2011, 182-185.

10 H.-P. Hübner/H. Braun (Hg.), Evangelischer Kirchenbau in Bayern seit 1945, Berlin/München 2010.

11 B. Hammerschmidt, Der Kirchenbau des 20. Jahrhunderts im rheinland-pfälzischen Teil des Bistums Trier, Trier 2006.

12 Vgl. H. Schmitz, System der Philosophie. Der Leib II/1 §48, Bonn 1965, 73-89.

13 Vgl. G. Böhme, Atmosphäre, Frankfurt 1995; ders., Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern 1998.

14 M. Foucault, Andere Räume, in: K. Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer andere Ästhetik, Leipzig 1992, 34-46; ders., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1974, 295ff.

15 A. Seelich, Handbuch Strafvollzugsarchitektur. Parameter zeitgemäßer Gefängnisplanung, Wien/New York 2009, 34.

16 P. Knauf/Th. Wagner, Konzept für die Kirche in der JVA Rothenburg; G. Ding, Beschreibung der Kirche in der JVA Mannheim.

17 Vgl. J. Döring/T. Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008.

18 Foucault, Andere Räume, 34.

19 Anders dagegen A. Giddens (Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/M. 1995, 28-33), der bei den grundlegenden Veränderungen der Raum-Zeit-Verhältnisse in der Moderne von einem kausalen Vorrang der Zeit ausgeht.

20 Foucault, Andere Räume, 34.

21 M. Schroer, Räume, Orte, Grenzen, Frankfurt 2006, 150, Anm. 63.

22 Foucault, Andere Räume, 38.

23 A.a.O., 39.

24 Foucault, Überwachen, 297.

25 G. Agamben, Profanierungen, Frankf./M. 2005, 71.

26 Vgl. U. Wagner-Rau, Segensraum. Kasualpraxis in der modernen Gesellschaft, Stuttgart 22008, 182-185.

27 Foucault, Andere Räume, 40.

28 A. Seelich, Forum, Bauliches Erbe – was nun? Die Auswirkungen der fehlenden Kontinuität in der Strafvollzugsarchitektur, Forum Strafvollzug 4/2011, 207-214, 212.

29 Foucault, Andere Räume, 38.

30 F.D.E. Schleiermacher, Reden über die Religion, II. Rede: Über das Wesen der Religion, hrsg. v. H.-J. Rothert, Hamburg 1958, 32.

31 G. Simmel, Soziologie, Frankfurt/M. 1992, 715.

32 Foucault, Andere Räume, 45.

33 Ebd.

34 Huber, Kirchen – Orte des Gottesfriedens, 29-46.

35 Foucault, Andere Räume, 39.

36 Vgl. M. Ebner (Hg.), Herrenmahl und Gruppenidentität, Freiburg 2007, 258.

37 U. Wagner-Rau, Auf der Schwelle. Das Pfarramt im Prozess kirchlichen Wandels, Stuttgart 2009, 97.

38 A.a.O., 98.

39 H.K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, 5.

40 Wagner-Rau, Auf der Schwelle, 119.

41 Schmitz, System der Philosophie, 78.

42 Augustinus, De musica, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Frank Hentschel, Hamburg 2003, 69.

43 Suger von Saint Denis, De Administratione, ausgewählte Schriften, hrsg. von Günter Binding und Andreas Speer, Darmstadt 2000, 345.

44 Foucault, Andere Räume, 46.

45 Vgl. H. Deuser, Religionsphilosophie, §16: Imagination, Berlin 2008, 427-446.

46 Das Zitat stammt aus der Erläuterung zur Kapelle in der JVA Mannheim von R. Ding.

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Thomas Erne, Jahrgang 1956, Studium der Evang. Theologie an der Universität Tübingen und der Schulmusik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, 1993 Dissertation, 2002 Habilitation, Pfarrer der württ. Landeskirche, seit 2007 Professor an der Universität Marburg und Direktor des EKD-Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart Marburg.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2013

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