Chirurgie zwischen Ethik und ökonomischem Druck

Reformprozesse finden nicht nur in der Kirche statt. Einen Seitenblick in den Bereich des Gesundheitswesens bietet der Beitrag des niedergelassenen Frankfurter Chirurgen Bernd Hontschik. Es handelt sich um die gekürzte Fassung seines Eröffnungsvortrags auf dem Deutschen Chirurgentag, einer einmal im Jahr stattfindenden gemeinsamen Tagung der chirurgischen Fachgesellschaften und Berufsverbände.


Seit 35 Jahren arbeite ich als Chirurg. Ich habe die ersten knapp 15 Jahre meiner chirurgischen Tätigkeit im Krankenhaus gearbeitet, in Frankfurt-Höchst, einem Krankenhaus der Maximalversorgung mit etwa 1000 Betten im Westen Frankfurts, die letzten beiden Jahre als Oberarzt. 1991 habe ich mich in der Frankfurter Innenstadt niedergelassen, und aus der damals übernommenen kleinen Praxis ist inzwischen eine große Gemeinschaftspraxis mit ambulantem OP-Zentrum geworden. Ich meine also, die chirurgische Arbeit von verschiedensten Seiten her gut zu kennen.

Chirurgie

Die Chirurgie bezieht ihre Identität allein aus ihrer Tätigkeit, aus ihrem Handeln. Wenn es für eine Krankheit oder eine Krankheitsphase eine angemessene operative Therapie gibt, ist diese Krankheit eine chirurgische Krankheit und dieser Patient ein chirurgischer Patient. Wenn nicht, dann nicht. Wer also die Chirurgie verstehen will, muss sich mit dem Handlungskonzept der Chirurgie befassen.

Ich unterteile das Handlungskonzept der Chirurgie in drei Phasen: Indikation, Operation, Restitution. In diesen drei Phasen sind höchst unterschiedliche ärztliche und menschliche Fähigkeiten auf Seiten des Chirurgen gefragt. In der Phase der Indikation gilt es, die bisherige Lebenswirklichkeit des Patienten so weit zu verstehen, dass eine Entscheidung über die Operationsindikation – gemeinsam mit dem Patienten – getroffen werden kann. Es sind kommunikative Fähigkeiten gefragt, auch soziale Empathie. In der Phase der Operation steht hingegen etwas völlig anderes, nämlich das handwerkliche Geschick und die technische Kreativität, im Vordergrund. Diese eine Phase der Operation wird fälschlicherweise mit der Chirurgie gleichgesetzt, aber sie ist nur ein Teil, ein relativer kurzer Abschnitt der Arzt-Patient-Beziehung in der Chirurgie. Es folgt die dritte Phase, die der Restitution, in der es darum geht, dem Patienten bei seinem Leben mit den Operationsfolgen solange beizustehen, bis er diesen Beistand nicht mehr braucht. Das ist bei der Entfernung eines Muttermals nicht weiter der Rede wert, bei einer Wundheilungsstörung schon etwas schwieriger und bei der doch auch möglichen histologischen Diagnose eines malignen Melanoms erfordert die Phase der Restitution unser ganzes ärztliches Können, weit entfernt von jedem Handwerk.

Ethik

Über die Ethik in der Medizin ist so viel gedacht, geschrieben und gesagt worden, dass es ein Einzelner kaum überblicken kann. Ich möchte es kurz machen und den Kollegen Dittrich zitieren, der in seinem Grußwort zum Deutschen Chirurgentag geschrieben hat: »Wir Chirurgen, egal ob in Klinik, Universität oder Ambulanz, sollten uns darauf besinnen, dass es einen Patienten gibt, der sich mit seinem Leiden in unsere Obhut begibt und wir berufen sind, auf der Basis der Mystik des Arzt-Patientenverhältnisses mit dem Ziel der Heilung, Linderung oder Bewahrung vor Sekundärschäden, den Kern des Leidens zu diagnostizieren, konservative und/oder operative Behandlungsmöglichkeiten im Sinne des Patienten abzuwägen und eine adäquate chirurgische Therapie bis zur Genesung durchzuführen bzw. zu gewährleisten.«

Schöner kann man es in dieser Kürze nicht sagen. In einem einzigen Satz ist fast alles auf den Punkt gebracht, was die chirurgische Ethik – wenn es denn eine gibt – ausmacht. Wer sich aber nun selber prüft und einmal ehrlich in sich hineinhört und diese Schablone auf den eigenen Arbeitsalltag legt, egal ob in Klinik, Universität oder Ambulanz, wird vielleicht ebenso wie ich empfinden: Dieser Satz ist inzwischen meilenweit vom chirurgischen Alltag entfernt, und täglich wird der Abstand zwischen Wunsch und Wirklichkeit größer.

Ökonomie

Wenn ich nun zum dritten Teil komme, zum ökonomischen Druck, so wird das Bild richtig düster. Ökonomie im Sinne von wirtschaftlichem Denken und vernünftigem Umgang mit den vorhandenen Ressourcen ist völlig in Ordnung, hat nicht Furchterregendes. Aber was ist eigentlich ökonomischer Druck, wo kommt der Druck her, was soll damit erreicht werden? Zu dieser Frage möchte ich ein wenig ausholen.


Zwei ökonomische Märchen

Es ist inzwischen allgemeiner Konsens, dass unser Gesundheitswesen auf eine Art Zusammenbruch zusteuert. Konsens ist, dass wir mit einer Kostenexplosion konfrontiert sind, und Konsens ist, dass die immer älter werdende Bevölkerung immer höhere Kosten der gesundheitlichen Versorgung verursachen wird. Man kann das aber auch ganz anders sehen. Ich behaupte, dass es keine Kostenexplosion im Gesundheitswesen gibt, und dass es auch noch nie eine gegeben hat. Die Ausgaben für das Gesundheitssystem sind in unserem Land seit Jahrzehnten konstant. Sie betragen 10-12% des Bruttoinlandsprodukts mit minimalen Ausschlägen nach oben oder unten. Die Kostenexplosion wird seit über 30 Jahren als Propagandabegriff benutzt, um Veränderungen im Gesundheitswesen durchzusetzen.

Das zweite Märchen betrifft die Veränderungen der Altersverteilung. Die immer weiter steigende Lebenserwartung bzw. der immer höhere Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung sind Tatsachen. Aber auch diese Tatsachen werden aus meiner Sicht missbraucht. Das steigende Durchschnittsalter verursacht im Gesundheitswesen keine unlösbaren Probleme, sondern hauptsächlich Veränderungen im Krankheitsspektrum. Denn es gibt da noch eine andere Tatsache: Jeder Mensch, über seinen ganzen Lebenszyklus betrachtet, verursacht etwa 70-80% der Kosten im Gesundheitswesen im letzten Jahr seines Lebens. Es ist dabei völlig gleichgültig, ob er mit 40, 60 oder 80 Jahren stirbt. Es ist immer das letzte Lebensjahr das kostenträchtigste, wie gesagt mit etwa 70-80%. Das nennt man den Kompressionseffekt. Es ist sogar so, dass diese Kosten im letzten Lebensjahr bei einem 40jährigen deutlich höher sind als bei einem 80jährigen, da man bei jüngeren Patienten naturgemäß wesentlich radikalere und invasivere, also auch teurere Therapieentscheidungen trifft.

Das steigende Durchschnittsalter der Bevölkerung wird sicher eine Neukonzeption der Pflegeversicherung erzwingen, und es mag auch Verteilungsprobleme zwischen jung und alt in der Rentenversicherung geben, aber im Gesundheitswesen ist nicht mit unlösbaren Problemen zu rechnen. Hätten die Propagandisten der Kostenexplosion und der Altersdemagogie Recht, dann wäre die Krankenversicherung längst zusammengebrochen. Der ökonomische Druck, dem wir uns bei unserer Arbeit inzwischen ausgesetzt sehen, muss also ganz andere Gründe haben als eine Kostenexplosion, die es gar nicht wirklich gibt, und eine Alterslawine, die angeblich auf das Gesundheitswesen zurollt.


Krieg der Schreibtische

Was also hat sich geändert? Als ich vor über 30 Jahren als Assistenzarzt und als Oberarzt in einem großen Krankenhaus gearbeitet habe, war ökonomischer Druck für uns alle ein Fremdwort. Unser Krankenhaus hat Jahr für Jahr ein Millionendefizit produziert, und dieses Millionendefizit hat der städtische Haushalt für das kommunale Krankenhaus Frankfurt-Höchst Jahr für Jahr übernommen und ausgeglichen. Als ich vor einigen Jahren vom Magistrat der Stadt Frankfurt in die Betriebskommission, den dort sogenannten Aufsichtsrat, eben dieses Krankenhauses Höchst berufen wurde, war ich wohl auf große Veränderungen gefasst, die Realität war aber schlimmer. Den Vorsitz und das große Wort hatte der kaufmännische Geschäftsführer. Der Einfluss des ärztlichen Direktors kam über verzweifelte Einwürfe kaum hinaus. Es wurden die DRGs (Diagnosis Related Groups, dt. diagnosebezogene Fallgruppen = Klassifikationssystem zur Leistungsabrechnung) verhandelt, es wurden Personalentscheidungen und das Wohl und Wehe ganzer Abteilungen am Case Mix Index diskutiert und entschieden, und es gab nur ein Ziel: schwarze Zahlen in der Bilanz. Die wirklichen Aufgaben eines Krankenhauses, auch einer chirurgischen Klinik, spielten dabei eine völlig untergeordnete Rolle.

Wie kann man höhere Patientenzahlen generieren, mit welchen Leuchttürmen kann die Klinik in der Öffentlichkeit aufwarten und die Patientenströme zu sich lenken, wie kann man die Kosten senken, welche Abteilungen kann man schließen oder auch mit denen anderer, benachbarter Krankenhäuser zusammenlegen? Wenn dabei überhaupt von Patienten die Rede war, dann nicht im Sinne einer guten Patientenversorgung, sondern einer optimalen Verschlüsselung im DRG-System. Die ständige unausgesprochene Drohung bei diesen Diskussionen, das unsichtbare Menetekel an der Wand lautete: Privatisierung. Wenn es der Klinik nicht gelänge, zu schwarzen Zahlen zu kommen, stünde der Verkauf an einen der privaten Klinikkonzerne bevor.

Die ständig wachsende Controlling-Abteilung im Krankenhaus Höchst beschäftigte 2009 bereits fünf approbierte Ärzte, die den ganzen Tag nichts anderes zur Aufgabe hatten als die optimale Verschlüsselung im ICD bzw. als DRG. Jeder wusste und jeder weiß, dass hier gelogen und betrogen wurde und wird, dass sich die Balken biegen. Den inzwischen schon mehr als fünf approbierten Bürokratie-Ärzten auf Krankenhausseite steht ja eine mindestens genauso große Zahl von approbierten Bürokratie-Ärzten auf der Seite des MDK (medizinischer Dienst der Krankenversicherung) gegenüber, die jede Krankenakte prüfen, Diagnosen streichen oder zerpflücken, und die DRG-Vergütung drücken, wo es nur geht. Das aber ist nicht nur eine enorme Verschwendung und Fehlverwendung von ärztlicher Kompetenz, ein Kampf zwischen Schreibtischen, sondern das hat unmittelbare Auswirkungen auf die Patientenversorgung.

Chirurgen kennen den Begriff der »blutigen Entlassung«, der zwar immer wieder bestritten wird, aber als niedergelassener Chirurg kann ich sagen, dass das inzwischen Teil meines normalen Arbeitsalltags ist. Es kommen postoperativ immer mehr Patienten in einem haarsträubenden Zustand in meine Praxis, die ambulant nur mühsam und extrem aufwändig zu betreuen sind – übrigens ohne jede angemessene Vergütung, denn das geht in unseren lächerlichen Regelleistungsvolumina unter.

Es bedarf doch keines Mathematikstudiums und es ist doch unmittelbar einleuchtend, dass eine Verkürzung der Liegezeit, eine Erhöhung der Fallzahlen, man könnte auch sagen: der Schlagzahlen im OP und auf Station bei gleichzeitiger Streichung von Stellen in der Pflege und bei den Ärzten zu einer anhaltenden Verschlechterung der medizinischen Versorgung führen muss. Im vergangenen Jahr ist in der Kinderchirurgie der präoperative Aufenthaltstag zur OP-Vorbereitung aus dem Vergütungskatalog gestrichen worden. Hintergrund ist, dass die DRG-Vergütung bei einem ein- oder zweitägigen stationären Aufenthalt auf 50% reduziert wird. Die Kinder müssen nun sozusagen direkt von der Straße auf den OP-Tisch springen – ein menschlicher, psychologischer und medizinischer Irrsinn, der gute Chirurgie unmöglich macht. Und damit steigt natürlich auch die Fehleranfälligkeit unserer Arbeit.


Vom Gesundheitswesen zur Gesundheitswirtschaft

Ich hatte zu Anfang ein Verständnis der Chirurgie vorgestellt, deren Handlungskonzept drei Schritte hat: Indikation, Operation und Restitution. Man kann die gegenwärtige Bedrohung der Chirurgie dahingehend konkretisieren, dass die Chirurgie mehr und mehr auf den Schritt der Operation reduziert wird. Die eigentlichen ärztlichen Fähigkeiten, die wirklich ärztlichen Tätigkeiten des Chirurgen in den Phasen der Indikation und der Restitution werden auf ein Mindestmaß reduziert und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Wenn die Chirurgie aber nur noch ein Handwerk ist, dann ist sie keine mehr. Einer meiner Lehrer hat einmal gesagt, dass er die Entfernung einer Gallenblase jedem beibringen könne, der nicht zwei linke Hände hat. Aber ob man sie entfernt und wann man sie entfernt und bei wem man sie entfernt, das sei die ärztliche Kunst. Wir sind in einen deformierenden Prozess, in einen Strudel geraten, in dem die ärztliche Kunst völlig an die Wand gedrückt wird.

Dieser Deformationsprozess hat tiefere Ursachen, die außerhalb des Gesundheitswesens und außerhalb der Humanmedizin gesucht werden müssen und zu finden sind. Er ist Teil einer Umwälzung, von der alle Sozialsysteme in unserer Gesellschaft betroffen sind. Er hat seine gesellschaftlichen Ursachen in einem gewaltigen Paradigmenwechsel im gesamten sozialen Bereich. Das Ergebnis: Nicht mehr der Kranke ist Gegenstand der Medizin, der Heilkunst, sondern die Krankheit wird Gegenstand eines profitablen Wirtschaftsprogramms. Anders gesagt: Wir sind Zeugen der Verwandlung des Gesundheitswesens in eine Gesundheitswirtschaft. Damit meine ich folgendes: In das Gesundheitswesen hat unsere Gesellschaft bislang einen Teil ihres Reichtums investiert, zum Wohle aller. Das Gesundheitswesen war ein wichtiger Teil des Sozialsystems. Nun wird das Gesundheitswesen zu einem Wirtschaftszweig. Ab sofort gelten ganz andere Gesetze als in einem Sozialsystem. Die Gesundheitswirtschaft wird zur Quelle neuen Reichtums für Investoren, die durch so hohe Renditen dorthin gelockt werden, wie sie zurzeit in keinem anderen Wirtschaftszweig auch nur annähernd winken.

Gerade dort, wo Markt und Konkurrenz absolut nichts zu suchen haben, nämlich in der direkten Beziehung zwischen Arzt und Patient, da ziehen sie derzeit mit Macht ein. Ich erwähne als pars pro toto nur die unsäglichen Bonussysteme. Und dort, wo Markt und Konkurrenz für allerbeste Verhältnisse sorgen könnten, nämlich bei der Herstellung und Verteilung von Medikamenten, medizinischen Hilfsmitteln und Geräten, da werden sie durch Korruption, Lobbyismus und globale Winkelzüge an ihrer Entfaltung gehindert und verkehren sich ins Gegenteil, siehe Schweinegrippe.


Manipulation der Leitlinien aus ökonomischen Interessen

Ich möchte das am Beispiel der Leitlinien konkretisieren: Wissenschaftler und akademische Gremien, medizinische Experten und Entscheidungsträger sind Zielobjekte von Einflussnahmen. Insbesondere Pharma-Unternehmen bauen eine Truppe von hoch angesehenen Universitäts-Experten auf, finanzieren Stiftungen, Forschungsprogramme und Lehrstühle und bezahlen medizinische Zentren zur Durchführung klinischer Studien. Auf diese Weise hat in den USA eine Gruppe staatlich bestellter Experten im Mai 2003 die Leitlinien zur Behandlung des Bluthochdrucks neu definiert. 9 der 11 Mitglieder dieser Expertengruppe hatten finanzielle Beziehungen zu Firmen, die von der neuen Leitlinie direkt profitierten. Es lässt sich leicht berechnen, wie viele Millionen Menschen man zusätzlich zu Hochdruck-Kranken erklären kann, wenn man den systolischen Grenzwert nur um 5 oder gar um 10 mm Hg absenkt. Im Juli 2004 wurde von einer ähnlichen Expertengruppe die Leitlinie zur Hypercholesterinämie revidiert. Danach waren mit einem Schlag 8 Mio. US-Bürger zu Patienten geworden, wobei man wissen muss, dass diese Leitlinie schon einige Zeit zuvor »überarbeitet« worden war, womit schon einmal etwa 23 Mio. US-Amerikaner zu behandlungsbedürftigen Patienten geworden waren. Mit der Leitlinien-Medizin ist eine Expertengläubigkeit verbunden, die blind macht für die Abhängigkeit und Auftraggeber dieser Experten.

Auf die Frage, wie es ihm gehe, antwortete Karl Valentin einmal: Mein Magen tut weh, die Leber ist geschwollen, die Füße wollen nicht so recht, das Kopfweh hört auch nicht mehr auf, und wenn ich von mir selber reden darf: Ich fühle mich auch nicht wohl. Wenn ich der behandelnde Arzt von Karl Valentin wäre, hätte ich nun fünf Leitlinien zu Rate zu ziehen: die Leitlinie »Magenschmerzen«, die Leitlinie »Hepatomegalie«, die Leitlinie »Fußschmerzen«, die Leitlinie »Kopfschmerzen«, und eine fünfte Leitlinie, die jetzt aber eigentlich »Karl Valentin« heißen müsste und die es so natürlich nicht gibt, gar nicht geben kann! Die Arzt-Patient-Beziehung ist ein einmaliger und unwiederholbarer Vorgang, sie ist das Zentrum unserer Arbeit. Mit den ersten vier Leitlinien käme jeder Handwerker mit medizinischer Halbbildung zurecht, mit der fünften Leitlinie allerdings nur ein Arzt.


Wenn Unternehmensberater Musik beurteilen …

Damit deutlich wird, um welche tiefen menschlichen Ressourcen es aus meiner Sicht bei dem Widerstand gegen die Zerstörung der Humanmedizin durch die zunehmende, erdrückende Dominanz der Gesundheitswirtschaft geht, möchte ich zum Schluss meiner Ausführungen von der ärztlichen Kunst weg zu einer anderen Kunst hinführen, zur Musik. Ich zitiere dazu ausgerechnet aus einem Lehrbuch über Unternehmensberatung. Es handelt sich um einen Vorschlag, wie Franz Schubert seine »Unvollendete Symphonie« hätte vollenden können:

»Der Generaldirektor eines Großunternehmens erhielt eines Tages eine Gratis-Eintrittskarte für das Konzert von Schuberts Unvollendeter Symphonie. Er konnte das Konzert nicht selbst besuchen und schenkte deshalb die Karte einem befreundeten Unternehmensberater. Nach zwei Tagen erhielt der Unternehmer von seinem Berater ein Memo mit folgenden Konzertkommentaren:

1. Während längerer Zeit waren vier Flötisten nicht beschäftigt. Die Zahl der Bläser sollte deshalb reduziert und die Arbeit auf die übrigen Musiker verteilt werden, um damit eine gerechtere Auslastung zu gewährleisten.

2. Alle zwölf Geiger spielten identische Noten. Dies stellt eine überflüssige Doppelspurigkeit dar. Die Zahl der Geigenspieler sollte deshalb ebenfalls drastisch gekürzt und für intensivere Passagen könnte ein elektronischer Verstärker eingesetzt werden.

3. Es wurde zu viel Mühe zum Spielen von Halbtonschritten aufgebracht. Empfehlung: Nur noch Ganztonschritte spielen! Dadurch können billige Angelernte und Lehrlinge eingesetzt werden.

4. Es hat keinen Sinn, mit Hörnern die gleiche Passage zu wiederholen, die bereits mit Trompeten gespielt worden ist. Empfehlung: Falls alle diese überflüssigen Passagen eliminiert würden, könnte das Konzert von zwei Stunden auf 20 Minuten gekürzt werden.

Hätte sich Schubert an diese Empfehlungen gehalten, hätte seine Symphonie wahrscheinlich vollendet werden können.«1


Anmerkung:

1 Aus Martin Hilb: Integriertes Personalmanagement, Luchterhand München 1995.
 


Anregungen und Texte zu dieser Reihe senden Sie bitte per Mail an [email protected] und an [email protected]

 
 

Über die Autorin / den Autor:

Dr. Bernd Hontschik, Jahrgang 1953, niedergelassener Chirurg in Frankfurt/Main, Vorstandsmitglied der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift »Chirurgische Praxis« und Herausgeber der Suhrkamp-Reihe »medizinHuman«; Publikationen: »Körper, Seele, Mensch«, »Auf der Suche nach der verlorenen Kunst des Heilens«.

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 6/2013

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