Konflikte können in der Kirche ebenso tief reichen wie im alltäglichen Leben oder in Politik, Wirtschaft und Kultur. Jedenfalls werden sie hier wie dort mit unerbittlicher Schärfe ausgetragen. Wilfried Härle stellt, zurückgreifend auf Konfliktkonstellationen kirchlicher Praxis, kein Programm zur Konfliktvermeidung auf, sondern berichtet über Erfahrungen konstruktiver Umgangsformen mit Konflikten.

Wenn unterschiedliche Überzeugungen von einigem Gewicht aufeinander prallen und sich gegeneinander durchzusetzen versuchen, nennt man das einen »Konflikt«. Davon ist das kirchliche Leben bekanntlich nicht frei. Und Konflikte können in den Kirchen ebenso tief reichen wie im alltäglichen Leben oder in Politik, Wirtschaft, Kultur etc. Deshalb werden sie häufig auch mit ebenso großer Schärfe und Erbitterung ausgetragen.

Der folgende Text ist kein Programm zur innerkirchlichen Konfliktvermeidung, sondern ein Erfahrungsbericht über konstruktive Umgangsformen mit Konflikten im kirchlichen Raum. Der Text vertritt folglich keine Theorie, sondern berichtet aus der Praxis, die ich selbst zusammen mit anderen Beteiligten als konstruktiv empfunden habe. Vielleicht lädt das eine oder andere daraus zur Nachahmung oder modifizierten Übernahme ein.

1. »Mit Spannungen leben«

Unter diesem Titel erschien 1996 eine »Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema ›Homosexualität und Kirche‹«, die zwischen 1994 und 1996 von einer vom Rat der EKD eingesetzten »ad-hoc-Kommission ›Homosexualität‹« erarbeitet worden war. Der Kommission gehörten insgesamt zehn Personen an, die unter anderem die Gegensätze der in den Kirchenleitungen vertretenen Auffassungen und Positionen zum Thema »Homosexualität und Kirche« repräsentierten. Das war insofern eine günstige Voraussetzung für die Arbeit der Kommission, als man sich darauf verlassen konnte, dass die umstrittenen Auffassungen alle präsent waren und authentisch vertreten wurden.

Die Beschäftigung mit diesem Thema war dringlich geworden, weil einerseits die kirchenleitenden Auffassungen zwischen (und in) den Gliedkirchen immer deutlicher divergierten, und weil andererseits angesichts dieses Dissenses eine Spaltung der Evang. Kirche in Deutschland drohte. Dabei ging es um folgende vier Themenbereiche:

– theologische Beurteilung praktizierter Homosexualität,
– kirchliche Segnung homosexueller Partnerschaften,
– Ordination von homosexuell lebenden Menschen und
– Zusammenleben homosexueller Partner im Pfarrhaus.

Die Einsetzung der ad-hoc-Kommission diente in dieser Situation dem Ziel, »zu einer sachlichen Klärung zu finden und womöglich zu einem Konsens zu helfen« (a.a.O., 3). Zusätzlich wurde erwartet oder jedenfalls erhofft, dass das Ganze angesichts der bedrohlichen Lage möglichst zügig zu einem Ergebnis gebracht werde. Diese Zielvorgaben wurden von der Kommission ernst genommen. Gesucht wurde folglich ein auf sachlicher Klärung basierender Konsens, kein Kompromiss, und das in möglichst kurzer Zeit.

Die Kommission entwarf in ihrer ersten Sitzung ein Arbeitsprogramm, verteilte die Aufgaben, entschied über einzuladende Gäste, legte die Termine fest und begann dann mit ihrer Arbeit in etwa monatlichem Rhythmus. Was oben als eine »günstige Voraussetzung« benannt wurde, dass nämlich die gegensätzlichen Positionen in der Kommission durch Personen repräsentiert waren, hatte unweigerlich eine Kehrseite, die sich nun auch als Erschwerung der Arbeit erwies: Die Protagonisten beider Seiten (wenn man das einmal so vereinfachen darf) hatten längst ihre Positionen bezogen, sie gründlich durchdacht, gegen Einwände verteidigt und Gegeneinwände gesammelt. Die bei der Erstbegegnung mit einem Thema oft so verheißungsvolle »Offenheit des Anfangs« bestand in dieser Kommission von Anfang an nicht. Das wirkte sich dahingehend aus, dass die Kommission bei der schrittweisen Erledigung ihres Arbeitsprogrammes im ersten Dreivierteljahr keinen Millimeter in Richtung auf einen sachlich fundierten Konsens in den anstehenden Streitfragen vorankam. Das war für alle Beteiligten frustrierend. Allmählich stellte sich die Frage, ob der Kommissions-Auftrag als unerfüllbar zurückgegeben werden müsse.

Da passierte es in einer Sitzung, dass sich in einer Detailfrage eine Einmütigkeit abzeichnete. Der Vorsitzende notierte dieses Detail für sich während der Sitzung in Form einer Aussage. Kurz vor Ende der Sitzung las er diese Aussage vor und fragte, ob darüber tatsächlich in der Kommission voller Konsens bestehe. Alle stimmten zu. Nachdem er angekündigt hatte, dass er diese Frage zu Beginn der folgenden Sitzung (also nach einer einmonatigen Reflexionspause) wiederholen werde, wurde dieser Minimalkonsens im Protokoll festgehalten und – wie angekündigt – am Beginn der folgenden Sitzung noch einmal verlesen. Als er auch da wieder (bzw. immer noch) einhellige Zustimmung fand, wurde er als erstes Konsensergebnis der Kommission (intern) festgehalten.

An dieses erste Konsens-Element schlossen sich in den folgenden Arbeitssitzungen weitere Elemente an, die nach genau demselben Verfahren gewonnen und bestätigt wurden. Die Aufgabe des Vorsitzenden, an der sich aber auch andere Kommissionsmitglieder beteiligen konnten, richtete sich von da an verstärkt darauf, in den Diskussionen Konsens-Elemente zu entdecken und zu formulieren. Meist waren das Erweiterungen zu bereits gewonnenen Konsens-Aussagen, manchmal aber auch neue Einsichten, die mit dem Bisherigen nur entfernt zu tun hatten. Es kam jedenfalls auf diese Weise ein Prozess zustande, in dem diese Konsens-Inseln wuchsen, wobei auch die Wachstumsgeschwindigkeit zunahm. Als der Konsens so groß war, dass sich ein Gesamtbild abzeichnete, wurde der Entwurf für einen Ergebnis-Text verfasst, an dem von da an in der Kommission weitergearbeitet werden konnte.

In der vorletzten Sitzung war der Konsens so weit gediehen, dass es möglich war, in einer zweitägigen, intensiven Abschlusssitzung zu einem Gesamtkonsens zu kommen, der dann auch kurz danach vom Rat der EKD einmütig (also ohne Gegenstimmen) rezipiert wurde.1

2. Die Ökumene-Konzeption der VELKD

Über viele Jahre hin entstanden in der VELKD immer wieder gravierende Konflikte über grundsätzliche und aktuelle ökumenische Fragestellungen. Der Grund dafür lag ganz offensichtlich (auch) darin, dass die VELKD sowohl einen Theologischen als auch einen Ökumenischen Ausschuss hatte, die sich beide mit den theologisch relevanten ökumenischen Fragen beschäftigten. Beide Ausschüsse waren aber von ihrer personellen Besetzung her sehr unterschiedlich ökumenisch ausgerichtet, d.h. sie verfolgten unterschiedliche bis gegensätzliche ökumenische Konzeptionen. Für die Kirchenleitung und die Bischofskonferenz der VELKD ergab sich daraus verständlicherweise eine sehr unersprießliche Situation. Angesichts aller auftauchenden Einzelfragen mussten jedes Mal wieder die Grundfragen mit diskutiert und von Fall zu Fall so oder so entschieden werden. Zusätzlich war die dabei geleistete Doppelarbeit ersichtlich eine beträchtliche Ressourcenverschwendung. So war es naheliegend, dass der Plan entstand, diesen Missstand durch Bildung eines Arbeitsausschusses zu beheben, in den der Theologische und der Ökumenische Ausschuss je gleichviel Mitglieder entsandten. Auftrag dieses Arbeitsausschusses war es, möglichst einen Konsens-Text über die ökumenische Konzeption der VELKD zu erarbeiten, der für künftige Entscheidungen in ökumenischen Fragen als gemeinsame, verbindliche Grundlage dienen könnte.

Nun bestand aber zwischen beiden Ausschüssen genau über diese Frage ein grundlegender Dissens. Wie sollte da ein Konsens gefunden werden? In der Sitzung, die der Planung der Ausschussarbeit diente, war schnell klar, dass das – wenn überhaupt – nur dann gelingen könne, wenn man sich auf eine für diese Entscheidung ergiebige, gemeinsam anerkannte Grundlage verständigen könnte. Darüber konnte erstaunlich schnell Einmütigkeit her- bzw. festgestellt werden. In Frage kam hierfür nur eine für die VELKD sachlich und rechtlich als verbindlich anerkannte Lehrgrundlage, wie sie in Form der Confessio Augustana vorliegt. Dieser Text hatte seine ökumenische Ergiebigkeit und konsensstiftende Kraft bereits bei der Formulierung und Rezeption der Leuenberger Konkordie bewiesen. Von daher war auch klar, welche Artikel der CA hierfür vor allem in Frage kamen: Im Zentrum stand (natürlich) Art. 7, aber der gehört in den Gesamtzusammenhang der CA und ist von ihm aus zu verstehen. Dabei gibt es besonders deutliche Bezüge zu den vorausgehenden und nachfolgenden Artikeln 4, 5, 8, 14 und 28. Sie bilden – zusammen mit Art. 7 – so etwas wie das ekklesiologische Rückgrat der CA.

Die Arbeit des gemeinsamen Ausschusses bestand folglich für mehrere Monate in fast gar nichts anderem als in einer gemeinsamen, genauen Lektüre und Auslegung dieser CA-Artikel. Ich betone das »fast«; denn es erwies sich als nötig und ergiebig, dem die Frage voranzustellen, was mit »Auslegung dieser CA-Artikel« überhaupt gemeint sei. Auf diese hermeneutische Vorfrage verwandte der Arbeitsausschuss zunächst die erforderliche Zeit; denn auch in dieser Frage bestand anfangs keine Einmütigkeit. Diese konnte aber in erstaunlich kurzer Zeit erreicht werden. Und danach begann die gründliche CA-Lektüre und -Interpretation, die nach demselben Muster der Konsens-Bildung (am Ende jeder Sitzung und am Beginn der folgenden) verlief, das sich bereits im erstgenannten Fall bewährt hatte.

Ich habe davor und danach nur wenige so lustvolle und sachlich ertragreiche Arbeitsgespräche geführt, wie es jener text- und sachorientierte Austausch über die CA war.2 Und aus dieser Lektüre und Auslegung entstand dann ebenfalls in kurzer Zeit ein umfassender Konsens-Text, der sowohl im Arbeitsausschuss als auch in der Kirchenleitung der VELKD mehrheitliche Zustimmung fand und rezipiert wurde.3 Wenn ich es recht sehe, hat dieser Text zu einer dauerhaften Konsensbildung und Befriedung geführt.

3. Der Beginn schutzwürdigen menschlichen Lebens

Der Ort des dritten Konfliktes, von dem ich hier berichte, ist die Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, und der Text, um den es geht, ist die »Argumentationshilfe für aktuelle medizin- und bioethische Fragen«, die unter dem Titel »Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen« im Jahr 2002 vom Rat der EKD als ein »Beitrag der Kammer für Öffentliche Verantwortung« veröffentlicht wurde. Schon diese Formulierungen verraten eine gewisse Distanzierung, die auf Probleme der Konsensbildung verweisen: Weder sah der Rat sich in der Lage, den Text als »Denkschrift« oder als »Orientierungshilfe« zu bezeichnen, sondern nur als »Argumentationshilfe«, noch war der Rat willens, diesen Text als seinen eigenen Beitrag zu kennzeichnen, sondern er war nur bereit, ihn als einen Beitrag der Kammer zu veröffentlichen – aber das immerhin.

Das alles erklärt sich letztlich daraus, dass es der Kammer trotz jahrelanger intensiver Arbeit nicht gelungen war, in der entscheidenden Frage nach dem Beginn schutzwürdigen menschlichen Lebens einen Konsens zu erzielen. Am guten Willen fehlte es nicht, aber die Positionen in dieser Frage standen sich unvermittelbar gegenüber. Auch hier stellte sich irgendwann die Frage, ob der erteilte Auftrag als nicht erfüllbar an den Rat der EKD zurückgegeben werden müsse oder sollte, aber die Kammer entschloss sich einmütig, einen anderen Weg zu wählen. In der Argumentationshilfe selbst wird dieser Weg mit folgenden Worten beschrieben:

»Trotz intensiven Bemühens war es ihr [sc. der Kammer für Öffentliche Verantwortung] nicht möglich, zu einer einmütigen, gemeinsam getragenen Position zu kommen. Diesem Dissens trägt die Kammer dadurch Rechnung, dass sie im Folgenden an verschiedenen Punkten unterschiedliche Argumentationslinien nebeneinander darstellt, die in den Diskussionen einander unüberbrückbar gegenüberstanden und sich nicht miteinander verbinden ließen. Dabei bilden die Argumentationslinien insofern idealtypische Konstrukte, als sie jeweils in sich Facetten und Varianten aufweisen, die hier um der Übersichtlichkeit willen allenfalls angedeutet, aber nicht mit gleicher Deutlichkeit ausgeführt werden können wie die Hauptlinien. Es ist auch nicht so, dass sämtliche Kammermitglieder eindeutig und vollständig einer dieser beiden Argumentationslinien zustimmen. – Die Kammer hat diese Form der Darstellung ihrer Arbeitsergebnisse gewählt, um die bestehenden Dissense nicht zu verschleiern, sondern durchsichtig zu machen und um damit einen Beitrag zu einer möglichst offenen argumentativen Auseinandersetzung innerhalb der evangelischen Kirche zu leisten. Wenn am Ende des Textes gleichwohl der Versuch gemacht wird, Gemeinsamkeiten zu benennen, die trotz dieser Dissense bestehen, so dient dies nicht einer sachlich unbegründeten Harmonisierung, sondern dem Aufweis der tatsächlich bestehenden Übereinstimmungen, die weitere Bemühungen um eine gemeinsam getragene Position lohnend erscheinen lassen« (a.a.O., 16).

Man könnte versucht sein, das gewählte Verfahren als konsensuelle Beschreibung der Dissense oder als »Konsens über den Dissens« zu bezeichnen, würde ihm damit aber in zweierlei Hinsicht nicht gerecht: 1. Die unterschiedlichen Argumentationslinien wurden nicht im Konsens von der Kammer dargestellt, sondern durch einzelne Kammermitglieder, die diese Positionen selbst vertraten. Und diese Selbstdarstellungen durften von Mitgliedern einer anderen Auffassung nur insoweit beanstandet werden, als die Darstellung de facto Aussagen auch über andere Positionen machte. Diese Regel wurde von allen Beteiligten strikt eingehalten und hat sich sehr bewährt. 2. Wie aus der Beschreibung des Verfahrens durch die Kammer im obigen längeren Zitat hervorgeht, umfasste die Darstellung auch solche Punkte, an denen trotz der genannten Dissenspunkte sachlicher Konsens bestand. Hier ging es unter der Überschrift »Gemeinsamkeiten« (a.a.O., 42-47) also um eine konsensuelle Beschreibung von Konsensen, und das waren – rein quantitativ betrachtet – wesentlich mehr Punkte als die (beiden) Dissense.

Zu diesen Dissensen gehörte auch die Frage, ob in der Kammer Einmütigkeit in der Bewertung der Dissense bestehe. Das war nicht der Fall: »Während es sich für manche Kammermitglieder um einen ethischen Fundamentaldissens handelt, der die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens berührt, sehen andere Kammermitglieder diesen Dissens als Ausdruck eines Pluralismus der Auffassungen, wie er sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft gut akzeptiert werden kann, ohne dass damit Grundlagen des Zusammenlebens in Frage gestellt werden« (a.a.O., 42). Diese Aussage muss man wohl als den tiefsten und gewichtigsten Dissens bezeichnen, der in der Kammer bestand.

Die Reaktion auf diese Argumentationshilfe in der kirchlichen und nicht-kirchlichen Öffentlichkeit war ebenso zwiespältig wie ihr Inhalt. Während teilweise die – »typisch evangelische« – Uneindeutigkeit in medizinethischen Grundfragen bedauert oder beklagt wurde, rühmten andere die Offenheit und Durchsichtigkeit der Argumentationshilfe, die keine faulen oder bloß formelhaften Kompromisse vorlege, sondern auch zu den unüberwindbaren Dissensen stehe und sie benenne. Vermutlich stehen hinter diesen unterschiedlichen Reaktionen auch grundsätzlich unterschiedliche Erwartungen an solche kirchlichen Texte: Wer von ihnen primär eine möglichst klare, verstehbare und nachvollziehbare Darstellung der Position der Evangelischen Kirche erwartet, findet diese in einem solchen Text nicht dargestellt. Wer hingegen von solchen Texten primär eine Hilfe zur eigenen Urteilsbildung durch Gegenüberstellung unterschiedlicher Argumentationslinien sucht, findet das in einem solchen Text in sehr durchsichtiger Form.

4. Geht es im Glauben um Wahrheit?

Der vierte und letzte Konflikt, dessen »Überwindung« ich hier darstellen will, unterscheidet sich von den drei erstgenannten dadurch, dass er nicht ein komplettes kirchliches Gremium betraf, sondern sich eher am Rande eines kirchlichen Ausschusses abspielte und nur eine andere Person und mich betraf. Wir gehörten allerdings beide diesem Ausschuss an und kreuzten dort auch immer wieder die Klingen miteinander. Warum ich das Wort »Überwindung« oben in Anführungszeichen gesetzt habe, wird sich am Ende meines kurzen Berichtes sehr deutlich ergeben.

Der Konflikt, der uns beschäftigte und den wir beide zu beheben versuchten, zog sich über etwa ein Jahrzehnt hin. Dabei könnte man vermuten, dass hinter einem solchen langwierigen Konflikt Spannungen oder Rivalitäten persönlicher Art stecken müssten, die durch Klärung der Sachfragen nicht überwunden werden könnten. Aber wir waren uns beide keiner solchen persönlichen Spannungen bewusst und spürten auch am wechselseitigen respektvollen, fast freundschaftlichen Umgang miteinander, dass da nichts Trennendes war, und trotzdem kamen wir über viele Jahre lang nicht voran.

Nun ist es an sich nichts Verwunderliches, wenn zwei Personen in grundlegenden Fragen unterschiedliche oder gar gegensätzliche Auffassungen haben und sich wechselseitig nicht überzeugen können. Das für mich Verwunderliche und Irritierende an diesem Konflikt bestand darin, dass mein Gegenüber sich immer wieder – mündlich und schriftlich – kritisch mit meiner Position auseinandersetzte, ich mich dabei aber nie von seiner Darstellung meiner Auffassung richtig verstanden fühlte. Das irritierte mich, da ich mich möglichst verständlich zu äußern versuche, und es löste bei mir die Frage aus, ob ich denn seine Auffassung richtig verstanden hätte. Um mich dessen zu vergewissern, praktizierte ich mehrfach folgendes Verfahren: War in einer Sitzung oder durch Veröffentlichungen eine Konfliktsituation zwischen uns entstanden, die in der direkten Begegnung nicht bereinigt werden konnte, schrieb ich anschließend an ihn eine e-Mail, in der ich erstens seine Position, so wie ich sie verstanden hatte, in meinen Worten wiedergab. Zweitens fragte ich, ob bzw. inwieweit diese meine Darstellung seiner Position aus seiner Sicht zutreffend sei. Drittens gab ich wieder, welche Darstellung meiner Position ich bei ihm wahrgenommen hatte. Viertens fragte ich, ob bzw. inwieweit er sich darin richtig wiedergegeben fühle. Fünftens nahm ich zu seiner und meiner (von ihm dargestellten) Position Stellung und teilte ihm mit, was ich an seiner Position für zustimmungsfähig hielt und was nicht und inwieweit mich seine Kritik an meiner Position überzeugt hätte und inwieweit nicht. Zu alledem erbat ich von ihm eine Stellungnahme, die gerne weitgehend den Charakter von »Ja-« bzw. »Nein-Antworten« haben könne.

Ich hielt (und halte noch heute) dieses Verfahren für sehr durchsichtig. Es ist allerdings auch (jedenfalls für mich) ziemlich aufwändig und wurde von mir deshalb bisher nur in ganz wenigen Fällen angewandt. Da ich aber in diesem Fall das Gefühl hatte, von meinem Gegenüber nicht richtig verstanden zu werden, mir aber an einer Verständigung lag, wählte ich ausnahmsweise dieses aufwändige Verfahren – mit einem erstaunlichen Effekt: Ich erhielt auf keine dieser e-Mails jemals eine Antwort von meinem Gesprächspartner. Wohl aber erschien nach einiger Zeit ein neuer Text von ihm, in dem er seine und meine Position erneut einander gegenüberstellte und den er mir – ohne jegliche Bezugnahme auf meine vorangegangenen Schreiben – zugänglich machte. Ich nahm anfangs an, meine e-Mails seien bei ihm (äußerlich oder innerlich) verloren gegangen und wiederholte mein briefliches Stellungnahmeverfahren, bis ich das nach dem dritten oder vierten resonanzlosen Versuch aufgab.

Und dann schied ich auf meinen Wunsch hin (der nichts mit unserem Konflikt zu tun hatte) aus jenem Ausschuss aus, während er weiterhin Mitglied blieb. Es gab eine Verabschiedungssitzung, nach deren Ende wir noch in einem Lokal beisammen saßen, und wir kamen dabei nebeneinander zu sitzen. Ich sagte ihm, dass ich mit einer unbeantworteten Frage aus diesem Ausschuss scheide, warum er nämlich über die Jahre hin auf meine brieflichen Versuche, Licht in das (von mir empfundene) Dunkel unseres Konflikts zu bringen, nie reagiert habe. Auf diese Frage reagierte er nun völlig überrascht: Das sei ihm überhaupt nicht bewusst, und er könne mir deshalb auch keine Gründe für sein diesbezügliches Verhalten nennen. Und nun passierte etwas Überraschendes: Bereits am folgenden Tag erhielt ich von ihm eine ausführliche e-Mail, in der er versuchte, den Konflikt zwischen uns so darzustellen, wie er ihn wahrnehme bzw. vermute. Ich antwortete prompt, indem ich ihm mitteilte, dass (und warum) ich mich durch seine Beschreibung meiner Positionen und unseres Gegensatzes nicht verstanden fühlte. Darauf erhielt ich in dichter Folge insgesamt sechs e-Mails innerhalb von knapp vier Wochen, in denen wir gewissermaßen das nachholten, was wir über Jahre hin versäumt hatten. Er bot mir immer wieder neue Beschreibungen der zwischen uns bestehenden Differenz an: es gehe um Narrationen statt Behauptungen, um Wahrnehmungsurteile statt Tatsachenurteile, um einen subjektiven statt einen objektiven Standpunkt, um Emotionen statt Deskriptionen, um Glauben statt Wissen. Und ich konnte immer nur sagen: Nein, darin besteht zwischen uns kein Gegensatz, und ich begründete auch, warum das m.E. nicht der Fall war.

Schließlich erhielt ich von ihm eine e-Mail, die mit dem Satz begann: »Ich denke, wir haben den Punkt gefunden, der uns in theologischer Hinsicht trennt, und zwar aus meiner Sicht in fundamentaler Weise trennt«. Und meine Antwortmail begann mit den Sätzen: »Ja, das ist der Differenzpunkt. Es gibt zwar noch schönere Erfahrungen als das Finden von Differenzen, aber es ist doch auch ein Gewinn an Klarheit. Damit kann und will ich nun auch vorerst meinen Frieden machen; denn ich sehe überhaupt nicht, wie wir über diesen Graben hinwegkommen sollten.« Seine abschließende e-Mail enthielt dann dreimal den Satz: »Lassen wir es dabei.«

Was hatten wir als (vorerst) unüberwindliche Differenz zwischen uns gefunden? Dass für mich Glaubensaussagen wahrheitsfähige Aussagen sind, also Aussagen, die wahr oder falsch sein können (bzw. sind), während das für ihn nicht gilt. Sondern? Ich gebe die Antwort auf diese Frage in seinen eigenen Worten wieder, um sie nicht durch meine Interpretation zu verzerren. Er schrieb: »Wer im Gottesdienst ausruft ›Herr ist Christus!‹, der beansprucht, dass Christus Herr ist, nicht aber ›Die Aussage „Herr ist Christus“ ist wahr‹. Er formuliert also kein Urteil. Dasselbe gilt für die Äußerung ›Christus ist wahrhaft auferstanden!‹ oder ›Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst usw. usw.«

Ich will nicht leugnen, dass die Alternative zur Wahrheitsfähigkeit von Glaubensaussagen für mich in ihrem positiven Gehalt dunkel und unverständlich ist. Ich vermute, dass damit gemeint ist: Sie sind Ausdruck einer Einstellung oder Haltung, vielleicht auch eines Gefühls. Möglicherweise ähneln sie Geschmacksäußerungen oder Willensvorsätzen, aber das ist nur meine interpretierende Vermutung. Eines sind sie nach Meinung meines Gesprächspartners jedenfalls nicht: wahre oder falsche Aussagen.

Dieser Gegensatz ist – nach unser beider Meinung – darum so tiefgreifend und argumentativ nicht überwindbar, weil das Argumentieren ja die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Aussagen und die Folgerungen aus ihnen voraussetzen würde. Aber auf diese Ebene konnte und wollte sich mein Gegenüber nicht einlassen, sofern es sich um Glaubensaussagen handelt. Und solange das so ist, kann man sich nur im Respekt voneinander verabschieden (ähnlich wie Abraham und Lot) und vielleicht noch auf künftige neue Einsichten hoffen, die eine Annäherung bewirken.

Ich habe diese Erfahrung inzwischen in der Auseinandersetzung mit mehreren Theologen gemacht, die in der Wahrheitsfrage eine ähnliche Auffassung vertreten wie mein damaliger Gesprächspartner, und habe dabei gemerkt: Ohne Anerkennung einer realistischen Wahrheitsauffassung4 (sei es unter dem Namen Korrespondenztheorie oder Adäquanztheorie oder Konvergenztheorie oder semantische Theorie oder Erfüllungstheorie) ist eine argumentative Verständigung über theologische Inhalte nicht möglich. Und das gilt nicht nur für den radikalen Fall der Bestreitung der Wahrheitsfähigkeit von Glaubensaussagen, sondern ebenso (nur weniger auffällig) für Kohärenz-, Konsequenz- oder Diskurstheorien der Wahrheit. Die Trennungslinie verläuft zwischen Positionen, die anerkennen, dass auch Glaubensaussagen kritisch geprüft werden müssen anhand der Sache, von der sie reden, und Positionen, die dies bestreiten.

Als ich an meinen Gesprächspartner schrieb: »Es gibt zwar noch schönere Erfahrungen als das Finden von Differenzen, aber es ist doch auch ein Gewinn an Klarheit«, da habe ich eher unter- als übertrieben. Das Auffinden dieser Differenz hat mich dreifach beglückt: Wir konnten uns erstens über das Vorhandensein dieser Differenz im Konsens verständigen, wir konnten damit zweitens weitere Bemühungen um eine Verständigung in der Sache als aussichtslos einstellen, und ich konnte das Kommunikationsverhalten meines Gesprächspartners rückblickend (besser) verstehen. Aus dieser Erfahrung habe ich gelernt, dass selbst die Feststellung eines Fundamentaldissenses etwas sehr Konstruktives sein kann.

 

Anmerkungen:

1 Der damit in Kommission und Rat erreichte Konsens »hielt« in den Folgejahren – mit einer Ausnahme. Diese betraf einen Konsenspunkt, bei dessen Erarbeitung eines der Kommissionsmitglieder gefehlt hatte und an den es sich daher später (ohne das während der Kommissionsarbeit jemals angekündigt zu haben) nicht gebunden fühlte. Die persönliche Beteiligung an allen Phasen der Konsensfindung scheint demnach ein wesentliches Element zu sein (s. dazu auch u. Anm. 3).

2 Ich habe daraus die Konsequenz gezogen, in den Studienkursen, die der Vorbereitung auf ein kirchenleitendes Amt dienen, jedes Mal eine Arbeitseinheit über die genannten CA-Artikel durchzuführen, und seit ich das tue, waren und sind es diese Arbeitseinheiten, die vor Ort und im Rückblick die besten Rückmeldungen bekommen.

3 Der Text wurde veröffentlicht unter der Überschrift: Ökumene nach evangelisch-lutherischem Verständnis. Positionspaper der Kirchenleitung der VELKD, in: Texte aus der VELKD 123/2004. Ich spreche hier nur von mehrheitlicher Zustimmung und nicht von einmütiger Zustimmung, weil ein Mitglied des Arbeitsausschusses dem Text nachträglich nicht zustimmte. Wieder war es das eine Mitglied, das bei der entscheidenden Sitzung, in der die Endabstimmung erfolgte, gefehlt hatte. Und auch in diesem Fall war die Abweichung vorher nicht angekündigt worden. Das unterstreicht die in Anm. 1 geäußerte Vermutung.

4 Wer sich auf leicht verständliche Weise über diese Wahrheitstheorien informieren will, sei verwiesen auf W. Härle, Systematische Philosophie, München (1982) 19872, 169-187, und ders., Das christliche Verständnis der Wahrheit, in: Marburger Jahrbuch Theologie 21/2009, bes. 63-70.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2013

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