Ein systemisch-integraler Blick auf die Reformen in der EKiR

Wer sich die Reformdiskussionen in der EKD und ihren Landeskirchen anschaut, wird bemerken: Der Trend geht hin zu größeren Einheiten – bei Landeskirchen, Kirchenkreisen oder Dekanaten, in Gemeinden oder auch Verwaltungseinheiten und Einrichtungen. Größer, weiter, schneller, effizienter, komplexer, unübersichtlicher, zunehmend losgelöst von Menschen vor Ort – ein Muster, das alltäglich erlebbar ist in unserer Gesellschaft. Die Reformbemühungen innerhalb der rheinischen Kirche – so Ingrid Schneider – weisen ebensolche Tendenzen zu größeren Einheiten und übergeordneten Strukturen auf: ein Weg, der jedoch in die falsche Richtung weist.

Durch Zusammenlegung von Kapazitäten sollen neue Handlungsspielräume eröffnet, eine größere Professionalität durch Spezifizierung ermöglicht, ein einheitliches und gleichbleibend für Qualität sorgendes Bild nach außen erreicht und zugleich die Steuerbarkeit in komplexen Systemen erhöht werden. Unter diesen Gesichtspunkten sind viele der Maßnahmen, die (auch) in der rheinischen Kirche in den letzten Jahren auf den Weg gebracht wurden, gut verständlich und angemessen. Wenn hier im Folgenden dennoch ein Plädoyer gehalten wird, auf diesem Wege in der rheinischen Kirche nicht konsequent fortzufahren, dann hängt das mit einem systemisch-integralen Blickwinkel zusammen. Aus ihm heraus stellen sich die entwickelten Lösungen noch einmal in einem anderen Licht dar. Dann erscheinen fast alle Reformanstrengungen als Lösungen, die aus dem Paradigma der Moderne stammen. Doch wir tun nicht gut daran, dem im Raum Kirche das Feld so weitgehend zu überlassen. So verlockend es auch erscheint, weil es scheinbar in der Lage ist, die strukturellen und finanziellen Probleme zu lösen, es bietet keine nachhaltigen Lösungen. In längeren Zeiträumen gedacht vermag es keine Prozesse in Gang zu setzen, die Kirche in der Gesellschaft einen guten Platz verschaffen. Und dies liegt an mehreren Faktoren: Zum einen ist der zu zahlende Preis für kurz- und mittelfristige Entlastung insbesondere im finanziellen Bereich viel zu hoch. Funktionierende Strukturen werden zerstört und die presbyterial-synodale Identität gefährdet. Darüber hinaus ist es ein Paradigma, das den tradierten Werten von Kirche an vielen Stellen widerspricht. In seiner extremen Ausprägung wird es oft genug in kirchlichen Verlautbarungen zu Recht angegriffen, weil Menschlichkeit und Menschenwürde nachrangig angesehen werden gegenüber dem finanziellen Gewinn. Was muten wir uns selber zu, wenn wir hier das Feld komplett öffnen? Drittens wird eine Unterordnung unter dieses Paradigma der Verschiedenheit der Menschen in den Gemeinden und der Gesellschaft nicht gerecht. Im Gegenteil, all jene Menschen, die sich durch diese mit solchem Handeln verbundenen Werte nicht vertreten fühlen – und derer gibt es eine Menge im Raum Kirche – werden sich mehr und mehr abwenden.

Warum überhaupt Reformen?

Eine Vielzahl von Reformen sind in der rheinischen Kirche in den letzen sechs Jahren angestoßen worden. Sie sind der Versuch, auf Themen zu reagieren, die in »Kirche der Freiheit« als Beobachtungen für gesellschaftliche Veränderungen beschrieben worden sind. Es sind genau jene Veränderungen, die im Rahmen des integralen Blickwinkels als Verschiebungen in Entwicklungsstufen von einer traditionellen über die moderne hin zur postmodernen Haltung beschrieben werden können. Hierzu gehören die Veränderung der Finanzmittel genauso wie eine andere Beziehung der Menschen zur Kirche, die Rückgänge der Gemeindegliederzahlen im Schnitt um 1% pro Jahr (und das über viele Jahre hinweg) ebenso wie andere Erwartungshaltungen der Menschen an die Kirche oder eine neue Suche nach dem Religiösen. Viele Themen beschäftigen die Gemeinden, die Kreissynoden und die Landeskirche seit Jahren. Und so war und ist es konsequent, dass versucht wurde und wird, mit Reformen eine Anpassung an die veränderten Lebens- und Aktionsbedingungen der Kirche herzustellen. Welche klug arbeitende Organisation macht das nicht?

Was ist in der EKiR in den vergangenen Jahren geschehen?

Seit 2006 entstand eine ganze Reihe von Reformprojekten, welche für die rheinische Kirche ein Novum darstellen. Für Gemeinden und Kirchenkreise, tief verwurzelt in einer presbyterial-synodalen Tradition (und das zum Teil seit Jahrhunderten), sollten auf einmal verbindliche Regeln gelten, die zum Teil die Entscheidungshoheit der Gemeinden zumindest im Bereich Finanzen und Personal betreffen. Ziemlich am Anfang stand die Aktion, den Zugang zum Pfarramt durch ein Bewerbungsverfahren zu reglementieren. Zudem gab es Veränderungen für einen großen Teil der Wartestandspfarrer, welche sich seit nunmehr einigen Jahren einem Assessmentcenter unterziehen müssen, um sich auf eine Pfarrstelle mit besonderem Auftrag bewerben zu können. Es war ein Musterbruch sondergleichen, war doch etliche Jahre lang das Verfahren von Beschäftigungsaufträgen oder von Sonderdiensten gang und gäbe gewesen, Pfarrstellen also, die keine regulären, unbefristeten Pfarrstellen waren sondern zeitlich befristete. Aber eben in der Regel so viele, dass die meisten der in Frage kommenden Personen dennoch eine Stelle im kirchlichen Dienst fanden bzw. ihnen dieser zugewiesen wurde. Nachdem lange kirchenpolitisch eine Beschäftigung mit dem Thema Personalplanung bei Pfarrstellen nicht gewollt war, hieß es jetzt auf einmal für manche nach 5 oder 10 oder noch mehr Jahren Arbeit in der Kirche: Stellt eure Befähigung unter Beweis! Das traditionelle Fürsorgedenken wurde hier zumindest erweitert um Aspekte eines modernen Leistungsdenkens, das in der Folge mehr und mehr ausgeweitet wurde.

So entstand im Zusammenhang der Personalplanung ein Rahmenkonzept für den Pfarrdienst in den Kirchenkreisen, welches nun noch verknüpft wird mit einem Rahmenkonzept für alle kirchlichen Arbeitsfelder. Um der Tendenz von mehr und mehr reduzierten Arbeitsverhältnissen zu begegnen, sollen Gemeinden über die Gemeindegrenzen hinweg qualifiziertes Personal in unterschiedlichen Bereichen anstellen. Der Gedanke dahinter ist ein Stellenmix und die Auskömmlichkeit von unterschiedlichen Professionen in der Kirche. Im Paradigma der Moderne formuliert klingt das so: größere Einheiten, mehr Effizienz, erhöhte Steuerbarkeit, bessere Qualität der Leistung, mehr Professionalität und Wirkung. Diese Gedanken haben vieles für sich. Aber gleichzeitig ist das eben nur eine von mehreren Sichtweisen auf dieses Thema!

Was Gemeinden erleben ist ein Hineingedrängt-Werden in größere Zusammenschlüsse, welche zugleich Finanzen aus den Gemeinden abziehen sowie die individuelle Beweglichkeit der Entscheidungen und die Entscheidungskompetenzen erheblich einschränken. Von landeskirchlicher Seite aus wird betont: »In der Weiterentwicklung unserer presbyterial-synodalen Ordnung brauchen wir daher eine neue Bestimmung von Verbindlichkeit in der Zusammenarbeit der verschiedenen Ebenen: Gemeinde, Kirchenkreis und Landeskirche. Wir brauchen regionale Absprachen über konzeptionelle Schwerpunkte, Personalbedarf und Beteiligungsstrukturen, die immer wieder den Kontakt zur Gemeindebasis sicher stellen. In allen Reformprozessen wird es darum gehen, dass regional zusammengefasste Dienste die Leitung vor Ort – im Sinne des Eph4-Modells – unterstützen. Die Gemeinde soll durch Entlastung gestärkt werden«.1 Wenn der große Bereich des Personals das einzige Thema der Veränderung gewesen wäre, würde vielleicht mehr Ruhe in den Gemeinden herrschen, auch wenn alleine bei dieser Thematik die Wogen hochgehen und der Entlastungsgedanke nicht wirklich ankommt.

Doch bei einem Reformkomplex blieb es nicht. Auf den Weg gebracht, halb gescheitert, neu angestoßen wurde die Umstellung zum Neuen Kirchlichen Finanzwesen (NKF). Nicht genug, dass der erste Versuch der Einführung viel Vertrauen zerstört hat. Hinzu kommt, dass das, was damit für die Gemeinden und Verwaltungen verbunden ist und an Kraftaufwand in Zeiten der Umstellung erfordert, schlicht gesagt etliche Presbyterien und Verwaltungsämter frustriert oder überfordert, jedenfalls unter den gegebenen Rahmenbedingungen. Frustration und Überforderung aber führen in den meisten Fällen entweder zu Rückzug/Verweigerung oder zum Angriff auf »den Feind von außen«. Beides keine guten Alternativen, um sich mit klarem Blick den komplexen Anforderungen zu nähern.

Einführung von Mitarbeitendengesprächen; Qualitätsentwicklung; Regionalisierung und Fusionierung von Einrichtungen, Gemeinden und Kirchenkreisen; Verwaltungsstrukturreform; missionarisch Volkskirche sein – es sind Stichworte weiterer Reformschritte, die die Gemeinden und Kirchenkreise stemmen sollen, stemmen mussten und die an sie herangetragen wurden.

Wundert es, dass Symptome wie langwierige Krankheiten, Burn-out, Rückzug auf den kleinen Bereich, Mühe, Presbyter für dieses Amt zu gewinnen, geschweige denn wirklich Wahlen abzuhalten, zunehmen? Welche Ehrenamtlichen sind gewillt und bereit und in der Lage, sich mit einer solchen Fülle an Themen zu beschäftigen, die in den meisten Fällen von übergeordneter Ebene an sie herangetragen wurden? Welche Hauptamtlichen schaffen das neben einer Arbeit, die in den 80er und 90er Jahren auf Grund der Liberalisierung und Differenzierung in der Gesellschaft schon Ausmaße erreicht hatte, die an sich für viele nicht gerade gesundheitsförderlich ist? Welche Menschen in der Leitungsverantwortung auf den verschiedensten kirchlichen Ebenen überblicken noch die Fülle und Komplexität der Veränderungen, die sich hier gerade abspielen? Und wer schafft es, bei eigener Betroffenheit von den Veränderungen dennoch zielorientiert und zugunsten des großen Ganzen zu arbeiten? Die Erwartungen an die Menschen in Leitungsverantwortung auf allen Ebenen sind immens! Denn es geht hier nicht allein um ein paar Strukturveränderungen. Es geht auch um die vorhandenen Fähigkeiten bei den verschiedensten Beteiligten, den unterschiedlichen Anforderungen gerecht zu werden. Es geht um die kognitive Kompetenz, die Komplexität zu erfassen und abzuschätzen, welche Folgen welches Handeln für die Zukunft haben wird2. Es geht um eine nötige Flexibilität und kritische Selbstwahrnehmung, damit Differenzen nicht zu kontinuierlichen Reibungsverlusten führen. Und es stehen zumindest traditionelle Wertesysteme auf dem Spiel, wie wir in Kirche miteinander umgehen, wie viel Abgrenzung oder Zusammenarbeit wir leben, welche Erwartungen wir aneinander haben, welche Kommunikationskultur wir pflegen, in welcher Rolle Leitung sich selber sieht und von anderen wahrgenommen wird. Es geht um eine vierfache Abhängigkeit unterschiedlichster Komponenten, die das integrale Modell beschreibt. Und das gepaart mit den verschiedensten Antworten, die Menschen aus ihrer je persönlichen Entwicklungsstufe geben.

Das integrale Denkmodell als Grundlage für eine systemisch-integrale Betrachtungsweise

Ausgehend vom Grundmodell der integralen Theorie, welches von Ken Wilber aus einer Zusammenschau unterschiedlichster Beschreibungen von Wirklichkeiten formuliert wurde, heißt ein Blick auf das, was wir wahrnehmen: es gibt eine innere Abhängigkeit und gegenseitige Beeinflussung von vier verschiedenen Bereichen, welche sowohl individuelle als auch systemische, sichtbare und unsichtbare Aspekte umfassen. Sie zusammen repräsentieren insgesamt erst ein vollständiges Ganzes. Diese vier Teile, die man sich je als Viertel eines großen Feldes vorstellen kann, umfassen

a. das sichtbare individuelle Handeln und die Kompetenzen der Einzelnen

b. sichtbare Strukturen eines Gesamtsystems sowie das dazu gehörende Umfeld, in dem sich die Menschen bewegen

c. die innere Systemkultur mit ihren mehr oder weniger offen gepflegten Werten einschließlich ihren ideellen Leitvorstellungen für das Ganze

d. die individuellen Grundüberzeugungen der Einzelnen davon, was gut und richtig ist.

Allein diese unterschiedlichen Perspektiven auf eine Sache sorgen vielfach schon für lebhafte Diskussionen und führen oftmals dazu, dass Menschen scheinbar aneinander vorbei reden, wenn sie versuchen, sich auf ein gemeinsames Handeln zu verständigen. Konflikte in der Auseinandersetzung kommen dann hinzu, wenn die Perspektiven zugleich noch von unterschiedlichen Wertesystemen geprägt sind. Denn die Füllungen dieser vier Bereiche sind keine statischen Größen, sondern wandeln sich im Laufe der Zeit. Dies ist abhängig davon, was Menschen in Anpassung an sich verändernde Lebensbedingungen als Idealvorstellung und Handlungsmöglichkeiten für diese verschiedenen Perspektiven in sich tragen.

Dem Entwicklungspychologen Clare Graves ist das grundlegende Theoriemodell dieser sich verändernden Entwicklung zu verdanken3. Er »konnte auf der Basis von jahrelangen sozialpsychologischen Studien nachweisen, dass weltweit und kulturübergreifend immer die gleichen typischen Entwicklungsstufen erscheinen. Sie bauen aufeinander auf und bilden Wertesysteme«4, welche immer auch eine spezifische Kultur menschlicher Zusammenarbeit ausprägen. Diese stehen, weil es bislang acht solcher bekannten Entwicklungsstufen gibt, auch in Konkurrenz zueinander und geben sehr unterschiedliche Antworten auf die Frage, welches Handeln denn in welcher Situation angezeigt ist. Die in unserer Gesellschaft am stärksten ausgeprägten Entwicklungsstufen werden als traditionelle, moderne und postmoderne Denk- und Verhaltensweisen wahrgenommen. Wer 40 Jahre zurück denkt, wird wahrnehmen, wie sehr sich in Deutschland die Dominanz dieser Werte in dieser Zeit verschoben hat. Das hat spürbare Konsequenzen für alle Bereiche des täglichen Lebens und Auswirkungen auf die Entwicklungen im Raum Kirche.

Die Reformen in der EKiR offenbaren bei einer solchen, integralen Betrachtungsweise mehrere Schwierigkeiten. Sie betreffen zumindest die Bereiche der inneren Systemkultur, hier insbesondere die Frage der Kultur der Kommunikation, und die sichtbar zu schaffenden Strukturen in ihren Auswirkungen auf die sich dort bewegenden Menschen.

Die Kultur der Kommunikation und des Selbstverständnisses

Die Reformen bringen immer wieder eine Menge Unmut an die Oberfläche. Natürlich ist dieses der landeskirchlichen Ebene nicht verborgen geblieben. So sah sich Präses Schneider im Bericht vor der Landessynode 2012 genötigt, Folgendes auszuführen: »Kreis- und landessynodale Entscheidungen sind deshalb repräsentative Selbstleitung der Gemeinden; der Kirchenkreis ist die Gemeinschaft der Gemeinden, in dessen Leitungsorgan alle Presbyterien präsent sind. In der Landessynode sind alle Kreissynoden präsent, die Superintendenten und Superintendentinnen sind aus ihrem Amt heraus Mitglieder der Landessynode. Umfassende Repräsentanz der Gemeinden und der Kirchenkreise als Gemeinschaft der Gemeinden kennzeichnet die Zusammensetzung unserer Landessynode. Deren Beschlüsse binden Kirchenkreise und Gemeinden deshalb nicht als Ausdruck von Zwang und Gehorsam, sondern als Ausdruck repräsentativer Selbstleitung!«5

Wer davon ausgeht, dass das synodale System per se durch die Delegation schon als repräsentativ gedeutet wird, verkennt den Einfluss der modernen Kommunikationsmöglichkeiten auf das Denken von Menschen. Wahlen alleine sind für viele keineswegs mehr wie noch vor 20 Jahren Ausdruck von demokratischen Strukturen, die möglichst große Beteiligung und Repräsentanz gewährleisten. Partizipatorische Ansätze über alle legitimen Ämter hinweg sind inzwischen unumgänglich, soll etwas als demokratischer Prozess wahrgenommen werden. Die aufgebrochene kirchliche Unzufriedenheit hinsichtlich der Reformen ist Spiegelbild dessen, was wir aus dem öffentlichen Raum seit etlichen Jahren kennen. So wie sich dort Bürger dagegen wehren, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird, so wollen auch Menschen aus den Ortsgemeinden an Entscheidungen, die ihre ureigenste Zukunft der Gemeindearbeit betreffen, aktiver beteiligt werden. Denn hier geht es nicht nur darum, gehört und wahrgenommen zu werden mit den je unterschiedlichen Bedürfnissen. Die vielen partizipatorischen Ansätze, die in Wirtschaft und im öffentlichen Raum heutzutage schon gelebt werden, machen deutlich, dass mit der Beteiligung der Betroffenen die Qualität der Ergebnisse steigt und zugleich passgenauere Lösungen entstehen – allerdings regional oder sogar lokal sehr verschiedene.

Voraussetzung für eine solche andere Art der Lösungsentwicklung ist eine Haltung der Offenheit für die Kompetenzen der jeweils anderen und ein Selbstverständnis von Leitung, das sich selber in den eigenen Grenzen kritisch wahrnimmt. Es stellt nicht Ämter und noch so legitime Strukturen in den Vordergrund, sondern sieht sich vielmehr in der Rolle des Dienstleisters oder Ermöglichers. Delegation und Ausschussarbeit kann die Qualität der Lösungen und Intensität der Gespräche, die durch die partizipativen Methoden erreicht werden, nur selten leisten, denn die Begrenzung des eigenen Blickwinkels und der eigenen Interessen verhindern solche von vielen getragenen Lösungen. Vielfältige Erfahrungen aus dem Bereich der Gemeindeberatung insbesondere in komplexen Veränderungsprozessen zeugen davon, dass es hierzu keine Alternative in unserer Gesellschaft, wie sie sich derzeit darstellt, gibt.

Wie sehr sich durch eine solche Änderung des eigenen Leitungsverständnisses die Arbeit verändert, zeigen Beispiele aus dem öffentlichen Leben. Nur zwei Beispiele seien genannt: Die Weltbank geht mehr und mehr dazu über, mit den Impulsen der Menschen vor Ort und einer dialogischen Projektentwicklung Fördergelder anders zu investieren; das Land Vorarlberg in Österreich nutzt partizipative Prozesse aktiv, um eine von den Bürgern als attraktiv empfundene Zukunft der Regionen zu entwickeln. Entscheidender Faktor für die Beschlüsse ist das, was vor Ort als hilfreich und unterstützend erlebt wird. Am grünen Tisch ausgehandelte Einheitslösungen widersprechen diesen Bedürfnissen lokaler Passung.

Schwachstellen des eingeschlagenen Reformweges

Das Paradigma, das die gegenwärtigen Reformbemühungen in der EKiR kennzeichnet, entspricht an sehr vielen Stellen dem Paradigma der Moderne im Sinne der Gravesschen Entwicklungsstufen. Ob Qualitätsverbesserung, NKF, Verwaltungsstrukturreform, Personalplanung, Fusion oder Mitarbeitendengespräche, immer geht es um eine Vielzahl von Handlungen, die darauf gerichtet sind, zielgerichteter mit den vorhandenen Ressourcen umzugehen, eindeutiger vorher definierte Ziele zu erreichen, eine bessere Steuerbarkeit zu erlangen, qualitätvolle Leistungen anzubieten und über Interventionen Einfluss nehmen zu können. Es macht viel Sinn, dass Menschen in der rheinischen Kirche sich diesen gesellschaftlich anerkannten Werten stellen und fragen, was sie hiervon für ihr eigenes Handeln lernen können. Und es ist sogar unvermeidbar, dass Gemeinden und kirchliche Ebenen sich daraus erwachsene Kompetenzen aneignen, wollen sie auch in Zukunft Zugang zu den Lebenswirklichkeiten und mentalen Denkmustern von einem Teil der Kirchenmitglieder haben. Diese Werte aber für das Non-plus-ultra zu halten und sie als die Lösung für kirchliche Fragen zum Thema Stabilisierung von Mitgliedschaft und interner Organisation anzusehen, entspricht derselben Falle, der das Paradigma der Moderne ständig unterliegt und dessen Folgen wir in der Wirtschaft tagtäglich beobachten können. Dieses Paradigma unterliegt der Illusion, es gäbe tatsächlich die eine beste Lösung für bestimmte Probleme, und diese Lösung würde überall funktionieren. Dahinter scheint eine zweite Illusion auf, welche von einer grundsätzlichen Steuerbarkeit im Sinne eines linear-kausalen, deterministischen Modells menschlichen Handelns ausgeht, als ob Menschen Maschinen wären. Und dieses bringt ein drittes Problem an die Oberfläche, welches mit den Stichworten »kurzfristige Ziele«, »ständige Optimierung« und »Nachsteuerung« umrissen werden kann.

An ein paar Beispielen sei hier auf die Grenzen dieses modernen Denk- und Handlungsmodells im Kontext der rheinischen Reformen eingegangen:

Systeme mit ehrenamtlich engagierten Menschen arbeiten langsamer

Der im System angelegte Zwang, durch kurzfristige Ziele zu ständiger Optimierung und Nachsteuerung gezwungen zu sein, ist in einem System, das auf die Kontinuität ehrenamtlicher Arbeit angewiesen ist, mehr als fragwürdig. Jeder weiß, dass Systeme mit ehrenamtlich engagierten Menschen langsamer in der Umsetzung von Veränderungen sind als straff durchorganisierte Organisationen, in denen von oben eine Veränderung verordnet werden kann. Welche Form der Veränderung nachhaltiger ist, steht dabei auf einem anderen Blatt. Doch wenn das presbyterial-synodale Prinzip nicht völlig ausgehöhlt werden soll, dann müssen die Strukturen den Handlungsmöglichkeiten der Menschen angepasst werden und nicht umgekehrt. Sonst wird es zu einem zunehmenden Auseinanderdriften von hauptamtlicher und ehrenamtlicher Leitung kommen. Reibungsverluste zwischen den Ebenen und ein Verlust der presbyterial-synodalen Identität sind die Folge.

Die Zeithorizonte sind zu kurz angesetzt

Im Handlungsmuster der Moderne geht es darum, effizient mit den vorhandenen Ressourcen umzugehen. Der Zeithorizont, der dabei in der Regel im Blick ist, umfasst ein bis fünf Jahre. Keiner wird wohl ernsthaft behaupten, dass dies im Raum Kirche als zufrieden stellende Denkgröße betrachtet werden soll. Darum mag es erlaubt sein einmal zu fragen, welche Folgen sich vermutlich in den nächsten 20 Jahren auftun, wenn die Reformprojekte wie angedacht umgesetzt werden. Was für Konsequenzen hat es, auf dem eingeschlagenen Weg weiter zu gehen?

Deutlich ist gegenwärtig schon, dass die Umstellung auf das NKF zumindest in der Umstellungsphase erheblich mehr Geld kostet und hier und dort die vorhandenen Kräfte überfordert. Vom schonenden Umgang mit den finanziellen und personellen Ressourcen kann erst einmal nicht die Rede sein. Allein die Einführung des Systems schluckt auf landeskirchlicher Seite viele Millionen Euro, hervorgerufen durch eine Unterschätzung der Situation, falsche Entscheidungen in der Anfangsphase, ein mehr an Personal, durch Schulungen und vieles mehr. Verwaltungsämter schaffen befristete Stellen, um den Mehraufwand an Arbeit zu schaffen. Gemeinden reduzieren zum Teil ihre Personalausgaben, um die geforderten Rücklagen in die Substanzerhaltungspauschale bedienen zu können. Letzteres mag man als notwendige haushalterische Vorsorge für die Zukunft betrachten, doch die Diskussion um Steine oder Stellen ist noch lange nicht ausgestanden. Gerade Gemeinden im ländlichen Raum werden, bei einem prognostizierten finanziellen Rückgang der Kaufkraft um 50% (so man die Zahlen der EKD nutzt), sich letztlich weder das eine noch das andere leisten können. Wofür aber werden dann in den kommenden Jahren große Verwaltungseinheiten mit vielen Spezialisten geschaffen, welche definitiv nicht preiswerter sind, denn die Stellen werden höher im Besoldungssystem bewertet.

Zudem soll in den nächsten Jahren ein System aufgebaut werden, das sich tendenziell im Grunde selber innerhalb weniger Jahre wieder abbauen oder kontinuierlich durch Fusionen verkleinern müsste, soll der Anteil an Verwaltungskosten gegenüber den Gesamtausgaben im Raum Kirche nicht kontinuierlich mehr Geld fordern. Das kann aber im Grunde ja nicht sein, da im Rahmen der kreiskirchlichen Personalplanung auf einen gesunden Mix an unterschiedlichen Professionen geachtet werden soll. Ein gordischer Knoten? Oder werden Verwaltungsstellen de facto von der Gesamtpersonalplanung ausgenommen und führen letztlich ein solistisches Finanzdasein? Welche Signalwirkungen über die Rolle von Geld und Verwaltung in der Kirche würden hiervon ausgehen? Welche Aussage wäre das über das, was Kirche wichtig ist?

Größere Einheiten erzeugen undurchschaubare Komplexität

Durch die Schaffung dieser größeren Einheiten wird zugleich die Komplexität erhöht, in denen zukünftig Entscheidungen getroffen werden müssen. Der systemisch-integrale Blick wirft in diesem Kontext Fragen auf, woher die Menschen kommen sollen, die in der Lage und willens sind, sich dieser Komplexitätserweiterung und den veränderten Handlungsanforderungen zu stellen. Denn wir haben es hier mit einem mehrfachen Dilemma zu tun. Wenn es derzeit genug Menschen gäbe, ob Haupt- oder Ehrenamtliche, denen diese Komplexität vertraut ist, dann würde selbstverständlich schon heute eine Vielzahl von Entscheidungen im Sinne der Reformen getroffen. Wenn dieses Muster aber eher fremd ist, dann sorgen alleine die Veränderung von Strukturen sowie Programme noch nicht dafür, dass auch wirklich so gehandelt wird. Im Gegenteil, dann werden die Strukturveränderungen viel wahrscheinlicher zu einem Bumerang werden, weil noch deutlicher wird, was heute schon sichtbar ist: dass es binnenkirchlich nicht genug Menschen gibt, die im Rahmen der komplexen Zusammenhänge agieren und dabei den Überblick behalten. Offensichtlich waren zumindest in der jüngeren Vergangenheit die innerkirchlichen Strukturen und Angebote nicht attraktiv genug für Menschen, die sich mühelos in diesen Handlungsdimensionen bewegen. Unter diesem Gedanken stellt sich eher die Frage, was sich verändern müsste, damit solche Menschen ihr Engagement in die Kirche einbringen wollen.

Das Ich-zentrierte Muster der Moderne widerspricht kirchlichen Werten

Das berührt einen vierten Aspekt, der nicht zu unterschätzen ist. Das Handlungsparadigma der Moderne ist ein Ich-zentriertes Muster. Individualisierung und persönlicher Gewinn sind hierbei handlungsleitende Motive. Entsprechend fragen Menschen, die aus diesem Muster agieren: »Was kann ich gestalten? Wo kann ich mich verwirklichen? Was habe ich davon?« Ein solches Denken aber widerstrebt sehr stark den kirchlich gelebten und verkündeten Werten, bei denen es eben nicht um individuellen Gewinn und individualisierte Selbstverwirklichung geht. Wenn aber durch Strukturen und Reformen die Werte dieses Paradigmas bedient werden, dann muss Kirche den Menschen auch auf der individualisierten Ebene etwas als Gegenleistung anbieten. Aber ist das gewollt und was könnte das sein? Hier entsteht zumindest ein Spannungsfeld kirchlichen Handelns. Es trägt tendenziell die Gefahr in sich, dass sich noch mehr Menschen von Kirche abwenden, wenn Erwartungshaltung, kirchliche Grundüberzeugungen und gelebte Wirklichkeit nicht zusammen passen.

Die Zusammenschau dieser Überlegungen kann nur in die Richtung weisen, dass auch in der evangelischen Kirche gilt, was V. Dessoy für die Reformen in der katholischen Kirche konstatiert: »Das bisherige (moderne) Reformparadigma, binnenorientiert den fortschreitenden Ressourcenmangel durch immer weitergehende Verdichtungs- und Konzentrationsprozesse auszugleichen, um den Status Quo, das tradierte Portfolio flächendeckend für ein schwindendes Publikum aufrecht zu erhalten, ist offensichtlich nicht geeignet, der Kirche einen Weg in die Zukunft zu erschließen. … Die Komplexität von Zusammenhängen und die Dynamik von Prozessen im Rahmen vernetzter und globalisierter Umwelten lassen sich mit den traditionellen Instrumenten einer plandeterminierten Unternehmenssteuerung nur unzureichend darstellen.«6

Vielmehr wird es darum gehen, ein erweitertes Organisationsdenken und -handeln zu entwickeln, das über die gegenwärtig vertrauten Handlungsmuster hinausgeht. Dieses muss in in der Lage sein, die Komplexität der Herausforderungen besser abzubilden, die Verschiedenheit der lokalen Bedürfnisse besser zu berücksichtigen und der Unterschiedlichkeit der Menschen eher gerecht zu werden. Wir werden es uns in dieser komplexen Welt nicht mehr leisten können, das Leitungshandeln weniger komplex zu verstehen und zu leben. An Reformen führt also kein Weg vorbei. Die Frage ist aber, welche und wie dahin gelangen.

Veränderung in welche Richtung?

Wir kommen nicht umhin, so schwierig das auch erscheint, den Spagat zwischen den verschiedenen Wertekulturen von zumindest traditionell, modern und postmodern zu versuchen. Letztlich bedeutet dies, aus den integralen Kontexten zu lernen und sich mit den dort geltenden Prinzipien für Organisationen vertraut zu machen. Sieben der meist genannten seien hier kurz vorgestellt und im Kontext der EKiR angedacht:

1. Verschiedenheit kultivieren: dem System EKiR durch Strukturen ermöglichen, dass sich Gemeinden in unterschiedlichem Tempo verändern, jeweils angepasst an die verschiedenen Bedürfnisse vor Ort.

2. Menschen vor Ort die Macht geben, selber zu handeln: Hierzu gehört es anzuerkennen, dass die Menschen in den Gemeinden letztlich die Gemeindearbeit vor Ort selber gestalten, verantworten und leben müssen. Sie dabei durch strukturelle Hilfen und Servicedienste zu unterstützen mag eine gute Möglichkeit sein, ihre Befähigung, die notwendigen Aufgaben angemessen zu erfüllen, zu fördern.

3. Ständige Veränderung ermöglichen: Veränderungen brauchen, sollen sie kontinuierlich gelebt werden, auch das Element der regelmäßigen Rückmeldungen und Verbesserung dessen, was nicht gut läuft. Entsprechend sind Reflexionsebenen nötig, in denen genau geschaut wird, was gut läuft und beizubehalten ist und wo Anpassungen an sich ändernde Rahmenbedingungen nötig sind.

4. Gesunde Systeme entwickeln: Überprüfen, wie nützlich und förderlich für andere im unmittelbaren und mittelbaren Umfeld das ist, was getan, beschlossen, gesagt oder implementiert wird. Dieses kann verschiedenste Bereiche von Inhalten, Strukturen, Aktionen, finanziellen Ressourcen, der aufzuwendenden Energie und etliches mehr betreffen. Zu beachten ist hierbei eine Balance unterschiedlicher Interessen zwischen den Einzelnen und dem Ganzen.

5. Veränderungsbedarf erspüren: Um kontinuierliche Entwicklung zu ermöglichen wird es nötig sein, durch Kommunikationsstrukturen und regelmäßige partizipative Prozesse ein System innerhalb von Kirche zu schaffen, das aufmerksam sich abzeichnenden Veränderungsbedarf registriert. Dieses braucht Arbeitsformen, die jenseits der gegenwärtigen strukturellen Gepflogenheiten liegen.

6. Eine eigene Identität entwickeln: Sich den Fragen stellen: »Wer sind wir? Was ist unser spezifischer Beitrag in dieser Gesellschaft? Als wer wollen wir wahrgenommen werden? Was ist unser Auftrag?« Das ist lokal, regional und im größeren Kontext zu beantworten und zwar so, dass daraus eine einheitliche Wahrnehmung erwachsen kann.

7. Spiritualität bzw. Religiosität eine neue Aufmerksamkeit schenken: Spiritualität wird von Menschen unterschiedlicher Entwicklungsstufen sehr verschieden inhaltlich gefüllt und auch gelebt. Hier ist ein weites Feld, das Kirche in besonderer Weise neu füllen kann. Zugleich erfordert es, sich auf einen Lernweg einzulassen, der binnenkirchlich, interkonfessionell und interreligiös neue Möglichkeiten gelebten Glaubens hervorbringen wird.

Im Sinne dieser Prinzipien die Entwicklung von Kirche zu gestalten bedeutet, neue Wege für Reformen einzuschlagen. Es erfordert andere Vorgehensweisen, um über das ins Gespräch zu kommen, was jetzt dran ist und was die nächsten Schritte sind. Doch nur so wird es gelingen, der rheinischen Kirche ein inhaltliches und strukturelles Ankommen im 21. Jh. zu ermöglichen.

Veränderung ja, aber wie diese angehen?

Die vorhergehenden Erwägungen verdeutlichen, dass es unumgänglich ist, sich auf einen tiefgreifenden Prozess für Veränderung einzulassen und anzuerkennen, dass die gegenwärtigen Verfahren nicht die langfristig tragfähigen Lösungen hervorbringen. Weder binnenkirchlich vertraute Handlungsmuster und Entscheidungsstrukturen noch rein kognitive Arbeitsformen noch die bisher gelebten Wahrnehmungsperspektiven werden diesen Weg alleine zu gestalten vermögen. Integrale Organisationsentwicklungsansätze, die in den letzten 10 Jahren weltweit vor allem im gesellschaftlichen Kontext entwickelt wurden, weil dort ähnliche Herausforderungen wie im kirchlichen Raum zu bewältigen sind, lassen deutlich erkennen, wie nächste Schritte anzugehen sind. Sie lassen die Grundlage entstehen, um darauf aufbauend die zuvor genannten Prinzipien für flexible und wandlungsfähige Organisationen realisieren zu können.

Grundlegende Muster dieser Veränderungsarbeit gehen in eine dreifache Richtung: Nötig ist zum einen ein intensiver Austausch mit dem Umfeld, in dem Kirche/Gemeinden sich bewegen. In Dialog treten und aufmerksam die Rückmeldungen von Menschen wahrnehmen, die aus ganz anderen gesellschaftlichen Bezügen auf Kirche blicken, ist Teil einer offenen Haltung, die Ideen entstehen lässt, wohin Kirche sich entwickeln kann oder sollte. Und dieses gilt in der Regel individuell verschieden vor Ort in den unterschiedlichen Lebensräumen. Erstaunlicherweise vermögen Menschen am Rande von Systemen oft viel präziser zu benennen, worin sie das Besondere und Spezifische einer Organisation sehen und zugleich Schwächen zu benennen, die der Innenblick verstellt.

Eine zweite Komponente wird die Fähigkeit sein, bisherige Denkmuster hinter sich zu lassen und sich mit den gegenwärtig vertrauten Handlungen in Frage stellen zu lassen. Müssen wir, muss Kirche eigentlich tun, was sie gegenwärtig tut? Stimmen unsere heutigen Antworten noch im Kontext unserer Zeit? Welche Fragen stellen die Zeitgenossen an Kirche und Christentum? Wo berühren sich religiöse Sehnsucht der Menschen und kirchliches Handeln? Letztlich bedeutet das, radikal die Fragen zuzulassen: »Wie religionsfähig ist heute kirchliches und gemeindliches Christentum? … In welchen Formen wird es Teil der spätmodernen Lebenswelt?«7

Das dritte Element, wohl die größte Herausforderung, ist schließlich, sich letztlich von allen bisher bekannten Antworten zu verabschieden und das Feld des Nicht-Wissens, der Unwissenheit, zuzulassen. Hieraus kann ein gemeinsamer Suchprozess entstehen, der zunächst vorläufig ist und danach in kleinen Schritten in eine neue Zukunft von Kirche führt. Dieses ist ein ungewisser und im Grunde auch System gefährdender Prozess, denn konsequent zu Ende gedacht könnte das heißen, sich selber aus den bisherigen Formen zu lösen und potentiell an der Abschaffung vieler gegenwärtiger Strukturen zu arbeiten. Zugleich wirft er Kirche zurück auf Grundfragen des eigenen Selbstverständnisses und Daseinszweckes. Mit Recht mag man fragen, ob das derzeit angemessen, kirchlich gewollt oder realisierbar ist. Doch ohne zumindest diese Blickerweiterung zu wagen, wird Kirche, und mit ihr auch die Gemeinden in der EKiR, auf veränderte Rahmenbedingungen immer nur reagieren und nicht selber gestaltende Kraft entfalten.

Vielleicht ist es ermutigend sich zu vergegenwärtigen, dass ohne diese Offenheit und Weite die Geschichte des Christentums nicht denkbar ist. Wesentliche Impulse erwuchsen immer dann, wenn Menschen genau diese Haltung wagten. Zugegeben, die Biographien etlicher Mystiker zeugen davon, dass dies zumindest in der eigenen Zeit nicht immer verstanden und wertgeschätzt wurde.

Anmerkungen:

1 http://www.ekir.de/www/downloads/LS2011_DS_04_Personalplanung.pdf,  S. 17.

2 Wer sich näher mit den Zusammenhängen von Komplexität, kognitiver Kompetenz und Wertesystemen befassen möchte, der sei auf die Arbeiten der Sprachwissenschaftlerin Dr. Susanne Cook-Greuter verwiesen. Eine Kurzfassung ihrer Arbeit: »Selbst-Entwicklung. Neun Stufen zunehmenden Erfassens, dt. Fassung 2008« gibt einen Einblick in diese Arbeit und ist erhältlich im Online-Journal Nummer 14/2008, 19-64 des Integralen Forums Frankfurt.

3 Dieses Modell der Entwicklung von Erwachsenen ist inzwischen bekannt geworden unter dem Begriff »Spiral Dynamics«. Zwei Schüler von Prof. Dr. Clare W. Graves haben es in verschiedenen Kulturräumen sowie Organisationskontexten weiter erprobt und angewandt.

4 Marion Küstenmacher/Tilmann Haberer/Werner Tiki Küstenmacher, Gott 9.0. Wohin unserer Gesellschaft spirituell wachsen wird, Gütersloh 2010, 21. Das Buch stellt die unterschiedlichen Entwicklungsstufen bezogen auf den Glauben im Einzelnen ausführlich dar.

5 http://www.ekir.de/www/downloads/PT_Praesesbericht_2012.pdf, S. 12.

6 V. Dessoy, Die Reform reformieren. Wie Kirche lernen kann, strategisch zu denken und prozessorientiert zu handeln, in: Diakonia 1 (2010), 66.

7 Kristian Fechtner, Herausforderungen und Perspektiven einer zeitgenössischen Kirche, in: ders., Späte Zeit der Volkskirche. Praktisch-theologische Erkundungen, Stuttgart 2010, 23.


Anregungen und Texte zu dieser Reihe senden Sie bitte per Mail an [email protected] und an [email protected]


Über die Autorin / den Autor:

Pfarrerin Ingrid Schneider, Jahrgang 1960, Pfarrerin, Gemeindeberaterin, Coach und Organisationsentwicklerin, nach einem Sondervikariat in den USA 15 Jahre Gemeindepfarrerin in Köln, derzeit in Freistellung freiberuflich tätig.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2013

1 Kommentar zu diesem Artikel
20.03.2014 Ein Kommentar von Wehrenbrecht Ein erstes schnelles Lesen hat mich neugierig gemacht, die Veränderungen in meiner Gemeinde, in meinem Kirchenkreis zu überdenken. Danke!
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