Jürgen Moltmanns 1964 erschienenes Buch »Theologie der Hoffnung« erlebte eine geradezu einmalige Wirkungsgeschichte. Heike Springhart entfaltet die Diskurslage, in die hinein Moltmanns Monografie sprach, sie erörtert die inhaltlichen Grundzüge und Grundbegriffe seiner »Theologie der Hoffnung« und stellt die Frage, was Theologie der Hoffnung heute bedeuten könnte.1

1.  Von Ernst Bloch inspiriert, aber kein getauftes Prinzip Hoffnung

Am 17. November 1964 verfasst ein kluger theologischer Kopf in einem Basler Krankenhaus einen Brief an Jürgen Moltmann. Der Briefschreiber hatte während seines Klinikaufenthalts »Muße, das Buch [die Theologie der Hoffnung, H.S.] in einem Zug zu lesen und seinen Inhalt gründlich […] aufzunehmen.« Alles in allem, so sein Urteil, »ein lesenswertes Buch«. Aber, so schreibt er kritisch an den jungen Moltmann: »Spitz gefragt: ist Ihre ›Theologie der Hoffnung‹ etwas Anderes als das getaufte ›Prinzip Hoffnung‹ des Herrn Bloch?«2

Der väterlich Lesende und provozierend Kritisierende ist Karl Barth, dem Moltmann seine »Theologie der Hoffnung« zugesandt hatte. Dass dieser junge Verfasser, »einen energischen Versuch macht, die Sache hinsichtlich des eschatologischen Aspekts des Evangeliums noch besser zu machen, als im Römerbrief und in der KD des alten Mannes in Basel geschehen«,3 regt eben jenen alten Mann in Basel, besagten Karl Barth, an und auf. Damit war er nicht der einzige, bei dem die Lektüre der »Theologie der Hoffnung« vieles in Gang gesetzt hatte. Dieses Buch, 1964 veröffentlicht, ist aus internen Diskussionen im Herausgeberkreis der Zeitschrift »Evangelische Theologie« zwischen 1958 und 1964 entstanden. Und es schlug ein. »In zwei Jahren gab es sechs Auflagen sowie Übersetzungen ins Englische, Holländische, Italienische, Französische und Japanische. Andere Übersetzungen kamen später hinzu.«4 In seiner Autobiographie schreibt Moltmann über die Zeit: »Das Buch machte seine eigene Geschichte. Ich selbst hatte Mühe, seinem Lauf nachzueilen und überall Vorträge zu halten, in West- und Ostdeutschland, in west- und osteuropäischen Ländern; zuletzt unentwegt in Amerika.«5 Dort, in den USA, wo 1967 die englische Übersetzung erschienen war, wurde auch die politische Dimension und gesellschaftliche Sprengkraft dieses theologischen Entwurfes erkannt und in Leitartikeln der großen Zeitungen, wie der Newsweek6, der New York Times7 und der Los Angeles Times8 einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht.

Der Boden für eine politische Theologie war damit bereitet. Dabei war das nicht die primäre Intention Moltmanns. Geprägt von »tiefen persönlichen Erfahrungen der Verlorenheit, Hilflosigkeit und Verzweiflung«9 während der Zeit des 2. Weltkriegs, die sich insbesondere mit dem Feuersturm über Hamburg und der englischen Kriegsgefangenschaft verbinden, war bei Jürgen Moltmann wie bei vielen anderen seiner Generation (z.B. Johann Baptist Metz, Hans-Eckhard Bahr) die »Leidenschaft des Fragens nach dem gerechten und rettenden Gott«10 erwachsen.

Im Vorwort zur 13. Auflage, 33 Jahre nach Erscheinen der ersten, schreibt Moltmann: »Es ging um nichts Geringeres als um die Überwindung des allgemeinen Existentialismus der Nachkriegszeit, um Zukunftsperspektiven für eine gerechtere, friedlichere und menschlichere Welt zu gewinnen. Wir wollten heraus aus der Apathie und suchten Hoffnungen, mit denen man leben kann.«11

In seiner Suche nach einer zukunftsorientierten Theologie fand Moltmann die philosophischen Kategorien in der »messianischen Philosophie« Blochs. Lassen wir ihn dazu selbst etwas ausführlicher zu Wort kommen: »Ich entdeckte die ersten Bände seines ›Prinzips Hoffnung‹ 1958/59, las die ostdeutsche Ausgabe während eines Urlaubs in der Schweiz 1960 und war davon so fasziniert, dass ich die Schönheit der Schweizer Berge gar nicht wahrnahm, – sehr zum Leidwesen meiner Frau.

Warum hat sich die christliche Theologie die Hoffnung entgehen und nehmen lassen, die ursprünglich und wesentlich ihr ureigenstes Thema ist? Das war mein erster Eindruck. Dann aber fragte ich mich selbstkritisch: Wo ist der aktive, urchristliche Geist der Hoffnung heute geblieben? Ich wollte Ernst Blochs ›Prinzip Hoffnung‹ nicht nachahmen. Ich wollte es auch nicht ›taufen‹ […]. Ich wollte eine Parallelhandlung in der Theologie auf den theologischen Voraussetzungen von Juden und Christen. Für Ernst Bloch sollte der Atheismus die aktive Hoffnung in der Geschichte begründen, wie für Jean-Paul Sartre damals der Atheismus die einzige Grundlage der menschlichen Freiheit war. Für mich aber war und ist der Gott des Exodus und der Verheißung, der Gott der Auferweckung Christi und des Auferstehungsgeistes in uns der Grund und das Motiv der in der Geschichte aktiven und im Leiden standhaften Hoffnung, des Messianismus ebenso wie der Apokalyptik. Doch jener Atheismus, der Menschen von Aberglauben und Götzendienst befreien will, und der Messianismus, der sie aus ihren äußeren und inneren Gefängnissen zur Freiheit des kommenden Reiches Gottes befreien will, – diese beiden Bewegungen müssen nicht Gegner sein, sondern können auch zusammenarbeiten. Ob nach Bloch ›ohne Transzendenz‹ geschichtlich in die Zukunft transzendieren, oder, wie ich behaupte, ›mit Transzendenz‹, das Ergebnis können wir getrost jener Zukunft überlassen, die auf uns wartet.«12

Ernst Blochs »Philosophie der Hoffnung« hat Jürgen Moltmanns »Theologie der Hoffnung« also wesentlich geprägt und seit der dritten Auflage gibt es einen Anhang, in dem Überlegungen Moltmanns im Gespräch mit Ernst Bloch über ihre beiden Ansätze entfaltet werden. Der Herausgeber eines Diskussionsbandes über die »Theologie der Hoffnung«, Wolf-Dieter Marsch, spricht gar von der »Theologie der Hoffnung« als einer »kleinen Bloch-Musik«.13

2.  »Eisen ins bleiche Christenblut« – Die »Theologie der Hoffnung« in ihrer Zeit

Die große Resonanz, die Moltmann mit seiner Theologie der Hoffnung in den USA ausgelöst hatte, führte auch dazu, dass es im »SPIEGEL« 1968 einen Artikel über die »Kinder des Protestes« (also die Christenmenschen) und den »Herold des neuen Protestantismus« (gemeint: Moltmann) gab.14 Mit seinem Buch hatte Moltmann offenbar genau den Nerv der Zeit getroffen. In die Aufbruchsstimmung der 60er Jahre in Europa (2. Vatikanisches Konzil, Alexander Dubceks Kampf für einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« in der Tschechoslowakei, in Deutschland: Adenauer: Keine Experimente! vs. Willy Brandt: Mehr Demokratie wagen!) und den USA (Civil Rights Movement, Martin Luther King) brachte Moltmann nun auch das Angebot einer theologischen Neuperspektivierung der Zukunft. Applaudierend formulierte der »SPIEGEL«: »Moltmanns Theologie propagiert darin ein umstürzlerisches, gesellschaftsänderndes – wie er sagt: ursprüngliches – Christentum und offeriert damit Christen und Kirchen eine Theologie, die zu aktiven, ja aggressiven Auseinandersetzungen mit der politischen Umwelt ermächtigt und anfeuert.«15

In der Tat liegt die besondere Kraft der Theologie Moltmanns darin, danach zu fragen, »was in Gottes Offenbarung und Gottes Wirken uns Menschen zu Widerstand und Aufbruch befähigt«16. Damit verbunden ist sein Verständnis von zeitgenössisch-kritischer Theologie als biblisch orientierter inhaltlicher Theologie. M.a.W.: nicht Gesellschaftsdiagnose und Krisenszenarien sind Anlass und Gegenstand der revolutionär verwandelnden Hoffnung, sondern diese hat ihren Grund in der Geschichte Gottes mit dieser Welt. Für die Diskussion der 60er Jahre und die Frage nach der Kraft der Utopien interpretiert der »SPIEGEL« angemessen und irritiert zugleich die ambivalente Perspektive auf die Utopien. Dort ist zu lesen: »Moltmanns Drohung, das Hoffnungs-Christentum werde die Utopien ›zerstören‹, hat ein überraschendes Motiv: Die Utopien sind ihm nicht revolutionär genug. Sie trügen ›Keime der Resignation‹ in sich, ›die sich spätestens im ideologischen Terror der Utopien zeigen, mit denen die erhoffte Versöhnung mit dem Dasein zur erpressten Versöhnung wird‹, womit Moltmann auf den Stalinismus und auf das heute noch in kommunistischen Staaten herrschende Polizei-Regime anspielt. Andererseits aber bietet Moltmann den Utopien – praktisch also wieder dem Kommunismus – ein christliches Bündnis an.«17

Die sowohl kontroverse als auch zustimmende zeitgenössische Reaktion macht deutlich, dass Moltmann mit seiner an den Inhalten der christlichen Theologie gewonnenen Theologie der Hoffnung politische oder zumindest gesellschaftliche Sprengkraft besaß und meiner Auffassung nach durchaus auch immer noch besitzt. Sie war ein Kind ihrer Zeit, obwohl sie sich aus innertheologischen Diskussionen speiste, und traf deren Nerv. Dennoch war und ist die Theologie der Hoffnung kein primär historisches Dokument. Vielmehr bietet Moltmann eine Rahmentheorie und eine Grundperspektive christlicher Theologie, die die beiden Begriffe Hoffnung und Zukunft so aufeinander zu beziehen versucht, dass christliche Religion mehr zum Ort des Wandels als zum Ort konservativer Beharrung wird.

Schon in den Diskussionen um die »Theologie der Hoffnung« direkt nach deren Erscheinen wurde die Konkretisierung im Sinne einer Ethik gefordert. Im Jahr 2010 ist die »Ethik der Hoffnung« erschienen. 46 Jahre nach der »Theologie der Hoffnung«. Hier stellt Moltmann nun nicht »zeitlos allgemeine Prinzipien« vor, sondern das, was seiner theologischen und ethischen Überzeugung nach, »im Angesicht der Gefahren mit dem Mut der Hoffnung heute und morgen zu tun ist«18. Auf ein einführendes Kapitel zu »Eschatologie und Ethik« folgen die drei ethischen Hauptkapitel, eingeteilt in »Ethik des Lebens« (u.a. Terrorismus, Medizinethik), »Ethik der Erde« (Schöpfung und Ökologie) und »Ethik des gerechten Friedens« (Gerechtigkeit, Frieden, Sicherheit, Menschenrechte). Dabei betont Moltmann jedoch den fragmentarischen und vorläufigen Charakter jeder ethischen Überlegung. »Die Hoffnung auf die eschatologische Transformation der Welt durch Gott führt zu einer transformativen Ethik, die dieser Zukunft im unzureichenden Material und mit den schwachen Kräften der Gegenwart gerecht zu werden versucht und sie vorwegnimmt.«19

Für unsere Frage nach der Kraft von Hoffnung und Utopie und einem theologischen Zugang dazu bietet allerdings die »Theologie der Hoffnung« nach wie vor instruktive Impulse. Wenden wir uns nun also der Architektur und den Grundbegriffen der »Theologie der Hoffnung« zu.

3.  Theologie der Hoffnung: Eschatologie als Form der Theologie – Struktur und Architektur

In seiner 2006 erschienenen Autobiographie schreibt Moltmann: »Es war meine Absicht, mit der Theologie der Hoffnung der Christenheit ihre authentische Hoffnung für die Welt zurückzugeben. Ich habe damit die von Ernst Bloch gesammelten Hoffnungen einer ›Welt ohne Gott‹ kritisch aufgenommen, um sie mit dem ›Gott der Hoffnung‹ (Röm 15,13) aus den jüdischen und christlichen Überlieferungen zu verbinden.«20

Um – im Modus der Theologie – der »Christenheit ihre authentische Hoffnung für die Welt zurückzugeben« hat Jürgen Moltmann neu nach der Eschatologie gefragt wie es schon der Untertitel der »Theologie der Hoffnung« deutlich macht: Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie. In der einleitenden »Meditation über die Hoffnung« fallen die wegweisenden Entscheidungen und kommen die Strukturen zur Sprache, die in den folgenden Kapiteln ausdifferenziert dargestellt werden.

Moltmann setzt ein mit einer prinzipiellen Neuausrichtung der Theologie, indem er das traditionelle Verständnis von Eschatologie als »Lehre von den letzten Dingen« radikal in Frage stellt und verabschiedet. Traditionell bezeichnet »Eschatologie« ein Lehrstück der Dogmatik, das sich mit den Ereignissen beschäftigt, die am Ende der Zeiten sowohl individuell als auch bezogen auf die Geschichte hereinbrechen. Klassische Themen der Eschatologie sind die Wiederkunft Christi, das Weltgericht, die allgemeine Auferstehung der Toten und die neue Schöpfung aller Dinge. Vom Jenseits der Geschichte – so die Vorstellung in aller Kürze – brechen diesen Endereignisse ein ins Diesseits und beenden dann »die Geschichte, in der sich hier alles regt und bewegt.«21

Eine solch radikale und konsequente Endzeiteschatologie begegnet heute meist in fundamentalistischen Varianten des Christentums. Die Gefahr, die Moltmann zu Recht sieht, besteht darin, dass die Ereignisse, die die gegenwärtigen Verhältnisse in Frage stellen und so Nährboden für Kritik sind, von der Gegenwart abgekoppelt werden und zum bloßen Anhang ohne Gegenwartsrelevanz verkümmern. »Indem man diese Ereignisse auf den ›jüngsten Tag‹ vertagte, verloren sie ihre weisende, aufrichtende und kritische Bedeutung für alle jene Tage, die man hier, diesseits des Endes, in der Geschichte zubrachte.«22 Demgegenüber versteht Moltmann Eschatologie als »Lehre von der christlichen Hoffnung«. Mit dem Begriff der Hoffnung vermag er die Entkoppelung von Gegenwärtigem und Zukünftigem aufzulösen und beides miteinander zu verschränken. Hoffnung umfasst sowohl »das Erhoffte wie das von ihm bewegte Hoffen«23.

Eschatologie wird so zur Grundperspektive der Theologie, man kann auch sagen: »von einem besonderen Inhalt zu einer allgemeinen Form der Theologie«24. »Das Christentum ist ganz und gar und nicht nur im Anhang Eschatologie, ist Hoffnung, Aussicht und Ausrichtung nach vorne, darum auch Aufbruch und Wandlung der Gegenwart. Das Eschatologische ist nicht etwas am Christentum, sondern es ist schlechterdings das Medium des christlichen Glaubens, der Ton, auf den alles gestimmt ist, die Farbe der Morgenröte eines erwarteten neuen Tages, in die hier alles getaucht ist.«25 Damit verfolgt Moltmann ein doppeltes Programm – einerseits versucht er, »ein theologisches Denken aus Hoffnung in allen Loci zu entfalten«, also die eschatologische Perspektive als Grundperspektive der Theologie zum Klingen zu bringen. Andererseits entwickelt er so auch eine eigene Eschatologie und trägt zu dem bei, was der Untertitel verheißt: »zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie«.26

Damit rückt das »Problem der Zukunft« ins Zentrum der solchermaßen eschatologischen Theologie. Der Gott der Hoffnung, von dem Röm. 15,13 spricht ist für Moltmann der Gott mit »Futurum als Seinsbeschaffenheit« – eine Formulierung, die er von Ernst Bloch übernimmt. Einen solchen Gott kann man, so Moltmann, »nicht in sich oder über sich […], sondern eigentlich immer nur vor sich haben […] und nur tätig hoffend erwarten«27. Zukunft versteht Moltmann dabei sowohl im Sinn von futurum (was wird) als auch von adventus (was kommt), wobei er einen deutlichen Schwerpunkt auf das Verständnis von Zukunft als dem Kommenden (adventus) legt. Theologisch ist das mit dem Begriff der Verheißung verbunden, der exemplarisch in der Exodustradition zum Ausdruck kommt. Damit geht auch eine konstitutive Verschränkung mit der Gegenwart einher, wie Moltmann in der Reaktion auf die gesammelten Rezensionen im Diskussionsband klarstellt: »Die Gegenwart hat kein futurum, wenn sie nicht adventus der Zukunft ist. Nur sofern in ihr etwas ›angekommen‹ ist, kann aus ihr etwas ›werden‹.«28 Damit ist die christologische Orientierung benannt. Durch die Konnotierung mit dem adventus wird Zukunft nicht verstanden als vage Phase in einer fernen Zeit, sondern als das Warten auf den und das Kommende. Die Ausrichtung auf die Zukunft bedeutet für Moltmann immer die Konzentration auf die Auferweckung des Gekreuzigten und auf die Zukunft des Auferstandenen. Zugleich wird deutlich: die Ausrichtung an der Hoffnung hat nichts mit einer billigen Vertröstung zu tun, sondern in der Orientierung an der Auferstehungswirklichkeit artikuliert sich der Widerspruch gegen die Leiden der Gegenwart.29

Im Blick auf das Geschichtsverständnis nimmt Moltmann die atl. Verheißungstraditionen auf und korreliert diese mit prophetischen und apokalyptischen Vorstellungen. Dabei unterscheidet er zwischen griechischem Denken, das am Logos orientiert ist und biblischem Denken, das an der Verheißung orientiert ist. »Nicht im Logos der Epiphanie der ewigen Gegenwart, sondern im hoffnungsbegründenden Wort der Verheißung hat Israel Gottes Wahrheit gefunden.«30 Im Kern steht für ihn die Frage nach »Christus und seiner Zukunft«.31 »Christliche Eschatologie [ist also] in ihrem Kern Christologie in eschatologischer Perspektive«32.

Die Akzentuierung des Gegenwartsbezugs der Zukunft geht einher mit einem spezifischen Konzept von Geschichte. War um die Wende zum 20. Jh. die Frage nach der Geschichte mit der Frage nach dem Historischen identifiziert worden, geht es Moltmann nun um ein Geschichtskonzept, das sich an den biblischen Traditionen orientiert, in der die Geschichte Gottes mit seinem Volk und mit dieser Welt zum Tragen kommen, insbesondere die Befreiung des Volkes Israel im Exodus. Gegen ein historisierendes Bild von Geschichte, das zugespitzt die Geschichte seit dem Urchristentum als einzige Verfallsgeschichte »vom Eigentlichen« verstehen kann (und die dann zur theologischen Suche nach dem historischen Kern, der von mythologischen Übermalungen verstellt wurde, führte) plädiert Moltmann für ein Verständnis von Geschichte, das sich durch die Lebens- und Liebesgeschichte Gottes mit dieser Welt konkretisiert. Ähnlich wie sein Wuppertaler Kollege Wolfhart Pannenberg, der 1961 gemeinsam mit Rolf und Trutz Rendtorff die Programmschrift »Offenbarung als Geschichte« in die Diskussion eingebracht hatte, verschränkt er die vergangene Offenbarungsgeschichte (in Exodus, prophetischen Verheißungen und dem Christusgeschehen) mit der zukünftig erwarteten Parusie Christi und dem Ende der Geschichte, also auch mit der Zukunft des Auferstandenen. Dabei ist für Moltmann die Bewegung zentral, die sich aus einem solchen Geschichtskonzept ergibt. Nicht eine statisch hintereinander ablaufende Folge von historischen Phasen ist leitend, sondern die spannungsreiche Dynamik zwischen geschehener Offenbarung und verheißener Zukunft. Beides wirkt auf die Gegenwart und ist im Modus der Hoffnung zugänglich und verborgen. Das Erhoffte und das von ihm bewegte Hoffen – beides kommt fruchtbar zusammen und setzt das wandernde Gottesvolk in Bewegung.

Die Verbindung von adventlichem und futurischem Zukunftsverständnis erläutert Moltmann im bereits genannten Diskussionsband so: »Verstehen wir die Zukunft real-futurisch, so müssen wir die Gegenwart real-adventlich verstehen. Darin liegt für mich die Möglichkeit, die Tendenz der ›Theologie der Hoffnung‹, die der Gegenwart den Horizont der Zukunft in der Hoffnung eröffnete, umzukehren und gegenläufig der Zukunft Gottes ihren Advent in der Geschichte und Wirkung Christi für die Gegenwart zu entfalten, also vom Futur zum Advent, von der ausstehenden Zukunft zur einstehenden Zukunft, von der Hoffnung zum Glauben und von einer Theologie der Auferstehung zu einer Theologie des Kreuzes und damit von der Erlösungszukunft zur Versöhnungsgegenwart zu kommen.«33

In der unauflöslichen Verbindung von Hoffnung mit Auferstehung liegt auch der Widerspruch gegen die vorliegende und herrschende Wirklichkeit verborgen, die immer auch die Wirklichkeit von Leiden, Kreuz, Sünde und Tod ist. Noch einmal Moltmann: »Der Widerspruch, in den die Hoffnung den Menschen zur vorliegenden Wirklichkeit seiner selbst und der Welt versetzt, ist eben der Widerspruch, aus dem diese Hoffnung selbst geboren wird, es ist der Widerspruch der Auferstehung zum Kreuz.«34

Hier setzt auch die kritische Abgrenzung gegen die Utopie an. Indem für Moltmann die Hoffnung inhaltlich bestimmt ist als »die Erwartung der Dinge, die nach der Überzeugung des Glaubens von Gott wahrhaftig verheißen sind«35, wird deutlich: Hoffnung ist konkret ausgerichtet und begründet in der Verheißungsgeschichte Gottes. Moltmann kann sogar sagen: »Ohne die Christuserkenntnis des Glaubens wird die Hoffnung zur Utopie, die sich in leere Luft streckt.«36 Dabei hat im christlichen Leben der Glaube das Prius – indem er am Anfang steht, aber die Hoffnung den Primat – indem sie das Vorzeichen vor allen Glaubensinhalten ist.

Mit der Orientierung an der Auferweckung des Gekreuzigten bekommt die Hoffnung auch ihren spannungsreich widersprechenden Charakter. In der Auferstehung Christi ist nicht primär die Ewigkeit des Himmels zu erkennen, sondern »die Zukunft eben der Erde, auf der sein Kreuz steht.«37 Damit ist die unlösliche Verbindung der Hoffnung mit den gegenwärtigen Verhältnissen hier und jetzt im Blick. Die Grenzen, die uns durch Tod, Leid und Zerstörung gesetzt sind, werden am Kreuz offenbar und zugleich durch die Auferweckung Christi durchbrochen. Deswegen heißt Glauben, »(d)ie Grenzen in vorgreifender Hoffnung überschreiten« und deswegen kann dieser Glaube »nichts mit Weltflucht, Resignation und Ausflucht zu tun haben.«38 Die Sprengkraft besteht darin, dass »die Auferweckung Christi […] nicht nur ein Trost in einem angefochtenen und zum Sterben verurteilten Leben [ist], sondern auch der Widerspruch Gottes gegen das Leiden und Sterben, gegen die Erniedrigung und Beleidigung, gegen die Bosheit des Bösen.«39 So ist in der Perspektive der Hoffnung Christus »nicht nur Trost im Leiden, sondern auch der Protest der Verheißung Gottes gegen das Leiden«40. Hoffnung ist als keine Beruhigung und Ermahnung zur Geduld, sondern Beunruhigung und Ungeduld, die sich nicht mit der Welt und der gegebenen Wirklichkeit abfindet. Plakativ formuliert Moltmann: »Frieden mit Gott bedeutet Unfrieden mit der Welt, denn der Stachel der verheißenen Zukunft wühlt unerbittlich im Fleisch jeder unerfüllten Gegenwart.«41

Noch einmal zusammengefasst besteht Moltmanns Neuansatz in der Eschatologie in den folgenden Aspekten: Statt von »den letzten Dingen« zu reden rückt Moltmann die »Hoffnung als Form aller Glaubenserfahrung« in den Mittelpunkt. Dies führt dazu, dass an die Stelle der Ausrichtung auf ein Jenseits die Ausrichtung auf die Zukunft rückt. In dieser Ausrichtung auf die Zukunft wiederum findet eine Konzentration auf Christi Auferstehung und die Zukunft des Auferstandenen statt. In der Orientierung an der Auferstehungswirklichkeit artikuliert sich der Widerspruch gegen die Leiden der Gegenwart.42

4.  Wo bleibt Hoffnung in Zeiten der Krise?

Als Theologie in kritischer Zeitgenossenschaft ist die Theologie der Hoffnung auch auf ihre jeweilige Gegenwart gerichtet. Die Tatsache, dass sie nicht nur in den 60er Jahren in Deutschland und den USA rezipiert wurde, sondern auch in anderen Weltgegenden unter anderen Bedingungen mit Gewinn gelesen wird, gibt Anlass zur Frage: Welche Impulse kann sie uns heute geben? Ihre primäre Tendenz ist der Aufbruch aus erstarrten Verhältnissen. Darin liegt ihre Wirkungsmacht in Kontexten, wo gesellschaftliche Veränderungen hin zur Demokratie gestaltet oder erhofft werden. Insbesondere im asiatischen Kontext ist das zu beobachten. In Taiwan, aber auch in Mainland China und Korea wird Moltmann, insbesondere seine Theologie der Hoffnung, breit und intensiv rezipiert. Bei einer Vortragsreise an verschiedene Universitäten in Taiwan konnte ich das deutlich wahrnehmen. Überall fand sich irgendwo ein Schaukasten mit einem Photo Jürgen Moltmanns und einer Ausstellung seiner Werke. Die Situationen in jenen Ländern, die sich in einem Demokratisierungsprozess befinden, sind strukturell mit der Situation in Europa in den 60er Jahren vergleichbar. Bei den in solchen Prozessen auftauchenden Fragen – also z.B.: Wie ist angemessen mit der Vergangenheit umzugehen? Welche theologischen Impulse gibt es für das Aufbrechen von einengenden, gar totalitären, verfestigten Strukturen? – bei solchen Fragen liegt es auf der Hand, dass ein Konzept von Geschichte, das definiert ist durch in Frage stellende Hoffnung und Verheißung über das Hier und Jetzt hinaus, instruktiv ist.

Wo aber liegt die Relevanz und Erschließungskraft einer Theologie der Hoffnung in unseren »Zeiten der Krise«? Vergegenwärtigen wir uns zunächst den schon länger anhaltenden Umbruch im Übergang von der Industriegesellschaft zur Informations- bzw. Kommunikationsgesellschaft. Bei den folgenden Überlegungen beziehe ich mich auf einen Beitrag des Heidelberger Theologen und Moltmann-Schülers Michael Welker.43 Er rezipiert den 1982 erschienenen Welt-Bestseller »Megatrends. Ten New Directions Transforming Our Lives« von John Naisbitt. In diesem Buch, das über ein Jahr lang auf der New York Times-Bestsellerliste stand, präsentiert Naisbitt »eine Voraussage der kulturellen, gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Entwicklungen und Strukturverschiebungen in den USA sowie, mit entsprechender Verzögerung, in den übrigen Industrienationen der westlichen Welt für die nächsten Jahre bzw. Jahrzehnte.«44 Als Grundlage für diese Prognosen diente die Auswertung von Informationen der Massenmedien über große Zeiträume und Einzugsgebiete hinweg sowie auf verschiedenen Anspruchsniveaus. So legte der Autor sog. »Megatrends« frei, die als Trends für unsere Überlegungen hilfreich sein können, auch wenn die Veröffentlichung inzwischen 30 Jahre alt ist.

Im Übergang von der Industrie- zur Informations- bzw. Kommunikationsgesellschaft sind zwei Entwicklungen zu beobachten, die einander auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen und die auch in den jüngsten Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, zu beobachten waren: zum einen »die Entwicklung hin zu größeren Wirkungs- und Einzugsbereichen des gemeinsamen Handelns und Planens« wie es insbesondere in der nationalen und internationalen Ökonomie zu beobachten ist und zum anderen »die Entwicklung hin zu größerer Konkretheit des Eingreifens und Partizipierens« wie sie z.B. in der Entwicklung von repräsentativer Demokratie hin zu partizipatorischer Demokratie (Stichworte: Stuttgart 21, facebook und der Arabische Frühling …), aber auch in der Entwicklung von institutionalisierter Hilfe hin zu Selbsthilfe zu beobachten ist. Der für unsere Überlegungen entscheidende Aspekt »ist der Übergang von Zentralisierung zu Dezentralisierung, von Hierarchiebildung zu Netzwerkbildung, von Entweder/Oder-Entscheidungen zu multiplen Optionen«45. M.a.W.: der herausfordernde Übergang besteht in einer prinzipiellen Aufweichung und Vervielfältigung von Strukturen und Verantwortungsbereichen. Die damit einhergehenden Vermittlungs- und Folgeprobleme zeigen sich in den Augen Naisbitts als Hunger nach Struktur: »In a world where events and ideas are analyzed to the point of lifelessness, where complexity grows by quantum leaps, where the information din is so high we must shriek to be heard above it, we are hungry for structure.«46

An dieser Stelle wird die spezifische Perspektive und Interpretation Moltmanns dessen, was Krise ist, relevant. Entgegen einer bis in die Soziologie hinein wirksamen Vorstellung von Christentum und Religion als Strategie der Kontingenzbewältigung, betont Moltmann, dass die mit der eschatologischen Hoffnungsperspektive gegebene radikale Infragestellung der Welt und der Geschichte eine »eschatologische Krise« mit sich bringt. »[…] Durch den christlichen Glauben [werden] nicht nur Krisen in der Geschichte überwunden, sondern in einer anderen Hinsicht [wird] die Welt in ihre eschatologische Krise gebracht. […] Die Welt wächst nicht evolutionär ins Reich hinein. Es verschärft sich vielmehr die Krise, wo das Reich und das Heil antizipiert werden, und umgekehrt muss man angesichts der steigenden Krise das Heil antizipieren, soll die Welt nicht dem Untergang preisgegeben werden.«47 Die Krise – verstanden als Unterscheidung zwischen dem, was ist, und dem, was kommt – wird durch die Hoffnungsperspektive also nicht bewältigt, sondern verschärft. Im Blick auf gegenwärtige Krisen bedeutet das sowohl eine realistische Wahrnehmung und ein nüchterner Blick auf die problematischen Entwicklungen als auch eine radikale Relativierung. Gegen dualistische und dualisierende Strukturen hat »der Glaube an den Gekreuzigten und die Anbetung des dreieinigen Gottes über Jahrhunderte hinweg alle stratifizierenden und dualisierenden Strukturbildungen immer erneut ›aufheben‹ und ›relativieren‹ lassen.«48

Eine Theologie, die diesen Hunger nach Struktur und die damit verbundenen differenzierenden Entwicklungen realistisch sieht, hat grundsätzlich zwei Optionen, von denen eine in sich problematisch und eine hilfreich weiterführend ist. Die problematische Option begegnet in den Entwürfen und religiösen Entwicklungen, die auf verunsichernde Umbrüche mit verführerischer Eindeutigkeit und damit potentiell totalitär reagieren. Diese Entwicklung ist seit ihrer Entstehung im Fundamentalismus, auch in Teilen der evangelikalen Szene zu beobachten. Die Tragfähigkeit solcher Konzepte kommt jedoch regelmäßig und spätestens dann an ihre Grenzen, wenn die Einzelnen in ihrer Erfahrung realisieren, dass das konkret gelebte Leben weit mehr als dualistischen Strukturen folgt. Die zweite Option bietet ein Ansatz wie die Theologie der Hoffnung. Sie bringt »eine Perspektive auf Realität, eine Erlebens- und Orientierungsform zur Geltung […], die vom konkreten, wirklich gelebten Leben ausgehend sich auf den beschriebenen Strukturumbau einzustellen vermag.«49 Dabei hält die Hoffnung »nicht nur Wirkliches und Mögliches, Bestimmtes und Unbestimmtes, Gewissheit und Ungewissheit zugleich fest, sondern sie ist in sich prinzipiell von extremer Erlebensoffenheit und Unfestgelegtheit und zeigt dennoch eine große Weg- und Zielsicherheit.«50

Angeregt von der »Theologie der Hoffnung« kommt Hoffnung als »Kraft der Differenzerfahrung« in den Blick.51 Sie bietet also konstitutiv Raum für die Erfahrung der Spannung zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen, zwischen Erfüllung und Gefährdung, zwischen Eintreffen und Nichteintreffen. Damit steigert Hoffnung zugleich Erfahrungen von Gewissheit und Ungewissheit, Gewissheit in Grund und Ausrichtung der Hoffnung – und Ungewissheit im Blick auf die noch ausstehende Erfüllung der Hoffnung. In den verunsichernd wirkenden destrukturierenden und differenzierenden Prozessen hält die Hoffnung die Perspektive darauf wach, dass sich gerade aus der Spannung das Neue entwickelt oder auch unvermutet und unerwartet in sie einbricht. Dabei wird die bereits entfaltete konkrete Verwurzelung in der Christologie zentral. Insofern stimme ich dem Urteil Welkers zu: »Die Lehre von der Hoffnung hat ihren Ursprung in der Differenzerfahrung von Kreuz und Auferstehung und ihre Zukunft in der neuen Schöpfung, in der die harrende Kreatur am – wunderbarerweise konkreten, leiblichen! – Lebens des Auferstandenen nicht nur in Glaube, Liebe und Hoffnung Anteil erhält.«52

Im Blick auf die »Zeiten der Krisen« ist weiterhin der gegenwartsbezogene kritische Blick der Hoffnung relevant. Hoffnung ist keine romantisierende Wolke, sondern hat etwas mit einem nüchternen Blick und klarer Analyse der Situation zu tun. Moltmann fasst das in die Formel von der spes quaerens intellectum – der Hoffnung, die zu verstehen sucht. Damit nimmt er die Beschreibung des Glaubens als fides quaerens intellectum – Glaube, der zu verstehen sucht – von Anselm von Canterbury auf. Hoffnung heißt also auch, eine realistische und kritische Perspektive einzunehmen und sich nicht von Krisenszenarien, aber auch nicht von unverantwortlichen und unkontrollierbaren Entwicklungen einlullen zu lassen. »Hoffnung auf Gott [ist] nicht nur die gelebte Bitte um das Kommen seines Reiches, sondern auch die lebendige, sich ausbreitende, realitätsgestaltende Freude an seiner wirksamen Gegenwart.«53

Für die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz der Hoffnung ist unseren Überlegungen ein weiterer, letzter Aspekt hinzuzufügen: die Hoffnung ist nicht ein Abstraktum im Rahmen einer Theorie oder Theologie. Sie ist – das haben wir schon gesehen – inhaltlich gefüllt durch den Bezug auf die Auferweckung des Gekreuzigten und seine Zukunft und – das kam bislang nicht zur Sprache – sie braucht Trägerinnen und Träger. Damit kommt der für Moltmann zentrale Gedanke der »Exodusgemeinde« ins Spiel.54 Diese versteht er in Aufnahme des Bildes von der Suche nach der zukünftigen Stadt im Hebräerbrief (Hebr. 13,13f) als wanderndes Gottesvolk, das auf den schon skizzierten dynamischen Wegen unterwegs in Richtung verheißener Zukunft ist. Dabei spricht Moltmann weder primär institutionell orientiert von »Kirche« noch kleinteilig eingeengt von »Gemeinde«, sondern von »der Christenheit«.55 Diese trifft auf die moderne Gesellschaft, deren Teil sie ist. Dies impliziert auch ihren konstitutiv öffentlichen Charakter. Hier liegt Moltmanns Impuls zu einer politischen Theologie, die heute von Theologen wie Wolfgang Huber und Heinrich Bedford-Strohm als öffentliche Theologie entfaltet und entwickelt wird.

Für die Frage nach der Christenheit als Trägerin der Hoffnung ist die Beschreibung ihres Wesens und ihres Zweckes als über sie selbst hinausreichende zentral.56 »Will man das Geheimnis ihrer Existenz und ihrer Handlungsweisen begreifen, so muss man nach ihrer Sendung fragen. Will man ihr Wesen ergründen, so muss man nach jener Zukunft fragen, auf die sie ihre Hoffnungen und Erwartungen setzt.«57 Dies impliziert sowohl eine hohe Bedeutung der kirchlichen Verkündigung als Ankündigung der hoffnungsvoll verheißenen Zukunft als auch eine klare Relativierung ihrer Ansprüche auf Wahrheit. »[Die Verkündigung] gilt, insofern sie gültig gemacht wird. Sie ist wahr, insofern sie die Zukunft der Wahrheit ankündigt. Sie teilt diese Wahrheit so mit, dass man sie nur haben kann, indem man zuversichtlich auf sie wartet und sie mit ganzer Leidenschaft sucht. […] Das Wort ist nicht selber das eschatologische Heil, sondern gewinnt seine eschatologische Relevanz von dem kommenden Heil her.«58

Hoffnung hat also auch im Blick auf die Funktion der Kirche und der Christenheit in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit sowohl etwas mit kritischem Freimut als auch mit eschatologisch qualifizierter Demut zu tun. Die Hoffnungsperspektive speist in die gesellschaftlichen Debatten einen weiteren Horizont ein, indem sie die krisenhaften Verfallsprozesse benennt, ohne sich von ihnen vollends in Bann ziehen zu lassen. Noch einmal Moltmann: »Die Christenheit hat der Menschheit nicht zu dienen, damit diese Welt bleibe, was sie ist, oder bewahrt werde in dem, was sie ist, sondern damit sie sich wandle und werde, was ihr verheißen ist.«59 Dies impliziert eine konstant kritische Perspektive auf das Bestehende – aber nicht im Modus moralistischen oder daueralarmistischen Nörgelns, sondern – so Moltmann – »[…] in schöpferischer Neugestaltung stellt die christliche Hoffnung das Bestehende in Frage und dient so dem Kommenden.«60

In den Zeiten der Krisen 2012 und geprägt von den ambivalenten Megatrends der Ausdifferenzierung mag es en detail schwieriger zu entscheiden zu sein, welche Optionen konkret die hoffnungsvollsten sein könnten. Hoffnung als Medium der Differenzerfahrung bleibt auch heute ein wertvolles Gut theologischen Nachdenkens, das sich nicht zu den schnellen Antworten verführen lässt, aber zu einer Haltung ermutigt, die das, was ist, ernst nimmt und gegebenenfalls kritisch und natürlich auch selbstkritisch scharf kritisiert als das, was es ist, und zugleich immer mit im Blick hat, was aus dem, was ist, und manchmal auch trotz dessen, was es ist, noch werden kann. Oder, um noch einmal Jürgen Moltmann sprechen zu lassen: »Diese Welt ist nicht der Himmel der Selbstverwirklichung, wie es im Idealismus [und ich füge hinzu: in der Postmoderne] hieß. Diese Welt ist nicht die Hölle der Selbstentfremdung, wie es in der romantischen und existentialistischen Belletristik heißt. Die Welt ist noch nicht fertig, sondern als in Geschichte befindlich begriffen. Sie ist darum die Welt des Möglichen, in der man der zukünftigen verheißenen Wahrheit, Gerechtigkeit und dem Frieden dienen kann.«61

Inspiriert von einer solch lebendigen Hoffnung und ausgestattet mit dem an Kreuz und Auferstehung geschulten wachen und nüchternen Blick, bringt die Orientierung an dem, was noch werden wird, tatsächlich Aufbruch in Abbrüchen und vielleicht ja sogar Eisen ins bleiche Christenblut.

Anmerkungen:

1 Evang. Akademie Baden: Zeit der Krisen – wo bleibt Hoffnung? Ernst Bloch und die Kraft der Utopie, 16.-18. März 2012.

2 Vgl. K. Barth, Briefe 1961-1968, Karl-Barth-Gesamtausgabe, V. Briefe, hrsg. v. J. Fangmeier/H. Stoevesandt, Zürich 1975, 276.

3 A.a.O., 273.

4 J. Moltmann, Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte, Gütersloh 2006, 104.

5 Ebd.

6 The Theology of Hope.

7 »God is Dead« Doctrine losing Ground to »Theology of Hope«.

8 Theology of Hope faces Tomorrow.

9 M. Welker, Zukunftsaufgaben evangelischer Theologie. Nach vierzig Jahren Theologie der Hoffnung, in: ders., Theologische Profile. Schleiermacher – Barth – Bonhoeffer – Moltmann, Frankfurt/M. 2009, 261.

10 A.a.O., 261.

11 J. Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, Gütersloh 131997, Vorwort (ohne Seitenzählung).

12 Ebd.

13 W.-D. Marsch, Zur Einleitung. Wohin – jenseits der Alternativen, in: ders. (Hg.), Diskussion über die »Theologie der Hoffnung« von Jürgen Moltmann, München 1967, 10.

14 Der »SPIEGEL« 4/1968, 94.

15 Ebd.

16 M. Welker, Zukunftsaufgaben evangelischer Theologie, 262.

17 Der »SPIEGEL« 4/1968, 95.

18 J. Moltmann, Ethik der Hoffnung, Gütersloh 2010, 14.

19 A.a.O., 15.

20 J. Moltmann, Weiter Raum, 106.

21 J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 11.

22 Ebd.

23 A.a.O., 12.

24 M. Welker, Zukunftsaufgaben evangelischer Theologie, 264.

25 J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 12. Damit nimmt Moltmann den Satz Barths aus dessen Kommentar zum Röm. auf: »Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun.« (Der Römerbrief, 21922, 298).

26 J. Moltmann, Antwort auf die Kritik der Theologie der Hoffnung, in: W.-D. Marsch, Diskussion über die »Theologie der Hoffnung«, 205.

27 J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 12.

28 J. Moltmann, Antwort auf die Kritik zur Theologie der Hoffnung, 213.

29 M. Welker, Zukunftsaufgaben evangelischer Theologie, 267.

30 J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 34.

31 A.a.O., 174.

32 A.a.O., 175.

33 J. Moltmann, Antwort auf die Kritik an der Theologie der Hoffnung, 214f.

34 J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 14.

35 A.a.O., 16.

36 Ebd.

37 Ebd.

38 Ebd.

39 A.a.O., 17.

40 Ebd.

41 Ebd.

42 M. Welker, Zukunftsaufgaben evangelischer Theologie, 267.

43 M. Welker, Moltmann: Hoffnung als »Leidenschaft für das Mögliche« und Hoffen auf Gott, in: ders., Theologische Profile, 240.

44 Ebd.

45 A.a.O., 241.

46 A.a.O., 242.

47 J. Moltmann, Antwort zur Kritik an der Theologie der Hoffnung, 230.

48 M. Welker, Hoffnung als »Leidenschaft für das Mögliche« und Hoffen auf Gott, 243.

49 A.a.O., 244.

50 Ebd.

51 A.a.O., 247.

52 A.a.O., 257.

53 A.a.O., 259.

54 J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 280.

55 Ebd.

56 A.a.O., 299.

57 A.a.O., 300.

58 Ebd.

59 A.a.O., 302.

60 A.a.O., 305.

61 A.a.O., 312.

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrerin Dr. Heike Springhart, Jahrgang 1975, Studienleiterin am Theol. Studienhaus Heidelberg; Dissertation »Aufbrüche zu neuen Ufern. Der Beitrag von Religion und Kirche für Demokratisierung und Reeducation im Westen Deutschlands nach 1945« (Leipzig 2008), ausgezeichnet mit dem John Templeton Award for Theological Promise 2008.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2012

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