Die beiden Theologen Ernst Fuchs und Gerhard Ebeling verbindet neben gemeinsamen theologischen Fragestellungen eine lebenslange Freundschaft – und dies bei aller Verschiedenheit, die sich in den Lebenswegen der beiden oder in ihrem Charakter zeigt. Christian Möller erinnert hieran anlässlich des 100. Geburtstags von Gerhard Ebeling am 6. Juli 2012.

Es erscheint mir heute noch als ein Wunder, dass zwei so grundverschiedene Menschen wie Ernst Fuchs und Gerhard Ebeling über 30 Jahre intensiv verbunden waren und einander theologisch und menschlich festhielten. Der Vergleich, der einst zwischen uns Studenten aufkam, war die spannungsvolle Freundschaft zwischen Luther und Melanchthon, die trotz aller Gegensätze einander festhielten. Ebeling hatte ja in seiner glänzenden, geschliffenen, akademischen Art etwas Melanchthonisches an sich, während das Eruptive und hoch hinaus Stürmende, das Kairologische und auf den Vorsprung der Mündlichkeit vor der Schriftlichkeit Setzende Luthers sich bei Fuchs ebenso findet wie Luthers Armseligkeit: »Wir sind Bettler – das ist wahr!«

Freundlich gesinnt … »obwohl du mir dieses Zürich angetan hast« – Die Beschwörung einer Freundschaft

Ich habe mich seit meinem Studienanfang gefragt, wie es möglich ist, dass sich der schwäbische Exeget Ernst Fuchs mit dem preußischen Systematiker Gerhard Ebeling überhaupt verstehen kann. Auf diese Frage fand ich eigentlich erst eine Antwort, als 1973 die Festschrift zum 70. Geburtstag von Ernst Fuchs erschien, worin Ebeling eine große Zahl von Freundesbriefen herausgab, die Fuchs von 1954 bis 1965 an ihn geschrieben hat. Leider enthielt Ebeling seine eigenen Antwortbriefe dem Leser vor, weil er wohl seinem Freund den Vortritt lassen wollte; er sollte ganz für sich sprechen. Und was ist der rote Faden dieser Briefe? Es ist bei Fuchs ein einziges Werben um den Freund, um sein mitsorgendes Verstehen.

»Mein treuer Gerhard«, so beginnt ein Brief vom 24.7.1957, was sich dann als eine Beschwörung von Ebelings Treue erweist, auf keinen Fall bei dem außerordentlichen NT-Seminar im Oktober 1957 zu fehlen. Am 2.3.1956 gesteht Fuchs seinem Freund ganz offen das »Heimweh« nach der gemeinsamen Tübinger Zeit: »Ich habe einfach Heimweh, nicht nach Württemberg, sondern nach Dir und Hanns (Rückert) und eben unserer nie mehr wiederkehrenden schönen Zeit« (sc. als sie gemeinsam Luther lasen). »Das kannst Du jetzt nicht verstehen, weil Du selber gerade am Abflug (nach Zürich) bist. Aber später wirst Du dann schon wissen, was für ein Elend diese Langeweile um einen her bereiten kann«1.

Ein wenig später (am 6.9.1958) wird Fuchs schon massiver, wenn er dem nach Zürich entflohenen Freund zu verstehen gibt: »Ich will Dir ja nur zu Gemüt führen, daß ich mich mit Deinem Exil in Zürich nimmermehr abfinden werde, und daß ich trotzdem an Dir festhalte, dh sehr, sehr freundlich zu Dir bin, obwohl Du mir dieses Zürich angetan hast«2. Hier zeichnet sich bereits der Wille von Ernst Fuchs ab, Ebeling in seine Nähe zu holen, was sich ja einige Jahre später als ein von Fuchs in Marburg erkämpfter Ruf an Ebeling auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie der Marburger Theologischen Fakultät verdichtet, ein Ruf freilich, den Ebeling mit Bedacht ablehnt, weil ihm die Nähe zu Fuchs dann doch zu nahe ging. Fuchs hatte eben auch etwas Vereinnahmendes, und dem entzog sich Ebeling m.E. nicht zu Unrecht, um die Freundschaft zu erhalten. Freilich, das kostete Schmerzen und Verschnupfung auf Fuchs’ Seite. Es brauchte 1962 eine gemeinsame Reise in die USA, um diese aufgerissene Wunde ein wenig zu lindern.

Aus den Freundesbriefen wird deutlich, wie intensiv Fuchs um die Freundschaft und das mitsorgende Verstehen von Ebeling geworben hat. Diesem Werben von Fuchs lag ein Kernsatz seiner Hermeneutik zugrunde: »Alles Verstehen gründet im Einverständnis«3. Was sich in der Tübinger Luther-Sozietät als Einverständnis zwischen Fuchs und Ebeling unter Mithilfe von Hanns Rückert eingestellt hatte, wird von Fuchs in seinen Briefen wieder und wieder beschworen, um zu einem immer größeren hermeneutischen Einverständnis zu kommen, aus dem dann um so tieferes Verstehen hervorgeht. Wer die beiden Freunde bei ihren berühmten Ferienseminaren zu Themen wie »Das Sakrament bei Paulus« oder »Augustins Trakte zum Johannesevangelium« oder »Luthers Zwei-Reiche-Lehre in der Bergpredigt-Auslegung« erlebt hat, der bekam einen Eindruck von dem, was sie auf ihre große Schülerschar ausstrahlen. Und was ihr gegenseitiges Verhältnis betrifft, so sprach der eine dem anderen immer wieder Mut in schweren Zeiten zu: »Also, lieber Gerhard, sei guten Muts, trink ein Gläschen Wein statt Saft, schone Dich grade jetzt vor dem Semesterende am allermeisten, und sei gewiß, daß wir es nicht nötig haben, uns durch unsere Umgebung erschüttern zu lassen, und daß es sehr viele Menschen gibt, die uns brauchen und die sich freuen, daß wir so gute Freunde und immer noch am Leben sind«4

»… ist mir die evangelische Kirche immer etwas Funkelnagelneues gewesen« – Leben im unterschiedenen Beieinander

In der Biografie der Freunde gibt es Berührungspunkte, die ich nur stichwortartig skizzieren möchte. Sodann will ich an diesen Gemeinsamkeiten auch die Unterschiede deutlich machen.

Beide sind vor der Katastrophe des 1. Weltkrieges geboren, Ernst Fuchs am 11.6.1903, Gerhard Ebeling am 6.7.1912. Fuchs war also 9 Jahre älter. Beide haben nach dem 1. Weltkrieg das Theologiestudium aufgenommen und wurden vor allem von Rudolf Bultmann in Marburg beeindruckt: Fuchs ab 1924, Ebeling 1930. Beide haben im Kirchenkampf des »Dritten Reiches« auf der Seite der Bekennenden Kirche gestanden, der eine in Berlin, der andere in Württemberg. Beide haben nach dem 2. Weltkrieg einen akademischen Neuanfang in Tübingen mit ganz unterschiedlichem Erfolg unternommen. Hier, in Tübingen, wurde der Grundstein ihrer Freundschaft gelegt.

1955 wurden Fuchs und Ebeling durch eine Berufung nach Berlin bzw. nach Zürich äußerlich getrennt, was aber ihrer inneren Annäherung und ihrer theologischen Zusammenarbeit in vielen Ferienseminaren etc. umso mehr zugute kam. Sie haben beide ein umfangreiches theologisches Œuvre erarbeitet und publiziert: der eine in kirchenhistorischer, dogmatischer und hermeneutischer Ausrichtung, der andere in exegetisch-hermeneutischer Ausrichtung. Beide hatten einen überwältigenden Lehrerfolg, der eine in Zürich, der andere in Berlin und in Marburg. So nahe das Beieinander in der Biografie scheint, so erheblich sind doch bei näherem Hinsehen die Unterschiede, und das nicht nur, weil beide aus verschiedenen Welten kamen: der eine aus einer süddeutsch-schwäbischen, der andere aus einer norddeutsch-preußischen Welt.

Das Elternhaus beider war ein ganz verschiedenes: Ernst Fuchs’ Eltern waren katholisch und ließen ihren Sohn am 6.7.1903 in der katholischen Kirche von Heilbronn taufen: »Ich stamme ja aus einer ursprünglich katholischen Familie. Mein Vater brach mit seiner Kirche, ebenso meine Mutter. Wir Kinder wurden von Anfang an ›evangelisch‹ erzogen … So ist mir die evangelische Kirche immer etwas Funkelnagelneues gewesen.« (Fuchs) – Ebelings Eltern waren seit Generationen evangelisch, die Mutter gar von hugenottischer Herkunft. Behütet von zwei älteren Schwestern, von protestantischen Eltern und Großeltern, wuchs Ebeling in einem Großfamilienhaus in Berlin-Steglitz mit fester, klarer protestantischer Prägung auf.

Auch der Zugang zum Theologiestudium sah bei beiden ganz verschieden aus: Als Sohn eines Heilbronner Amtsgerichtssekretärs, der später Notar wurde, begann Fuchs zunächst ein Jura-Studium, ehe er durch gastweisen Besuch biblischer Vorlesungen bei Adolf Schlatter für die Theologie gewonnen wurde. Bei Schlatter imponierte ihm, wie er später schrieb, »der Mut, seine eigene Überzeugung und Lebenserfahrung zusammen mit dem (biblischen) Text auszusprechen«5. Nach Aufnahme ins Tübinger Stift setzte Fuchs das Theologiestudium in Marburg fort und kam hier 1924 in eine »Sternstunde« der Begegnung von Theologie und Philosophie hinein: Rudolf Bultmann und Martin Heidegger entdeckten gemeinsam Paulus, lasen Kierkegaard und viele andere philosophischen und theologischen Werke miteinander und ließen Studierende an ihren Entdeckungen teilhaben. Es war die Zeit, in der bei Heidegger »Sein und Zeit« entstand, Bultmann zur existentialen Interpretation ntl. Texte kam und Fuchs von dem einen wie dem anderen so fasziniert war, dass er gleich nach einem württembergischen Vikariat nach Marburg 1928/29 zurückkehrte und bei Bultmann mit einer Dissertation über »Das Verhältnis des Glaubens zur Tat im Hermasbuch« promoviert wurde.

Bei Ebeling stand schon in seinem Reifezeugnis 1930: »… will Theologie studieren«. Das Elternhaus mit seiner liberalen und pädagogischen Atmosphäre – sein Vater war Lehrer – stand dieser Entscheidung nicht im Wege, sondern »war ihm förderlich«6. So kam Ebeling 1930 zum Theologiestudium nach Marburg, hörte Bultmanns berühmte Vorlesungen zur theologischen Enzyklopädie, zum Johannesevangelium u.a., war fasziniert, ging dann aber 1931 weiter zum Studium nach Zürich, nachdem er in Marburg noch durch den Kirchengeschichtler Wilhelm Maurer zu einer ersten theologischen Begegnung mit Luther angeleitet worden war. Erst in Zürich kam es durch viele menschliche und freundschaftliche Begegnungen an der Fakultät wie in der Stadt zu einer umfassenden theologischen Entfaltung in der Begegnung mit Emil Brunner, Walter Köhler und dem Philosophen Erhard Grisebach.

Hier Protest und dort Weg in die »Illegalität« – unterschiedliche Teilnahme am Kampf der Bekennenden Kirche

Ernst Fuchs war 1930 als Assistent zu Karl-Ludwig Schmidt nach Bonn gegangen und hatte sich dort habilitiert mit einer Arbeit über »Christus und der Geist bei Paulus«. Mit Hitlers Machtergreifung und der faschistischen »Säuberung« der Universitäten wurde K.-L. Schmidt wegen seiner halbjüdischen Herkunft und seiner politischen Aktivität bei der SPD als erster an der Bonner Fakultät 1933 entlassen und ging nach Basel. Sein Assistent Fuchs wurde zeitgleich entlassen und suchte Zuflucht bei seiner württembergischen Kirche, die ihn in einem Dorf Winzerhausen bei Heilbronn zunächst als Pfarrverweser und dann als Pfarrer anstellte. Als Fuchs sich 1938 weigerte, anlässlich der Reichsparteitagswahlen die Fahne aus dem Pfarrhaus zu hissen, und dann auch noch die Teilnahme an der Wahl verweigerte, kam es zum Eklat. Er musste das Dorf verlassen und wurde vom OKR nach Oberaspach bei Schwäbisch Hall entsandt. Auch dort ging alsbald von Fuchs ein theologischer Geist des Widerstands gegenüber dem braunen Geist aus, der aber durch einen milden und freundlichen Parteisekretär nicht nach oben gemeldet und darum nicht verfolgt wurde.

Vor allem über Eingaben der Kirchlich-Theologischen Sozietät, einem Kreis theologisch miteinander arbeitender Pfarrer der Bekennenden Kirche (BK), protestierte Fuchs immer wieder gegen einen allzu kompromisslerischen Kurs des OKR in Stuttgart und des Bischofs Theophil Wurm. 1939 wurde Fuchs als Soldat zwar eingezogen, erkrankte 1940 aber so schwer, dass es zu seiner Entlassung und zur Rückkehr auf die Oberaspacher Pfarrstelle kam.

Gerhard Ebeling brach 1933 sein Studium in Zürich ab und ging zum Abschluss nach Berlin, als ihm durch Nachrichten seiner Eltern u.a. deutlich wurde, wie prekär die Lage in Deutschland geworden war, sowohl politisch als auch kirchlich. Er stellte sich der BK zur Verfügung und meldete sich 1935 beim Prüfungsamt des Bruderrats der BK Berlin-Brandenburg zum Examen. Damit wählte er den Weg des »Illegalen«. 1935-36 absolvierte er sein Vikariat bei Gemeinden der BK und besuchte 1936/37 das Predigerseminar in Finkenwalde, wo er Dietrich Bonhoeffer als einer seine theologische Existenz prägenden Gestalt begegnete. Dieser sorgte dafür, dass der von ihm als begabt erkannte Vikar zur Promotion nach Zürich kam, wo er von 1937 bis1938 seine Dissertation bei Fritz Blanke über »Evangelische Evangelienauslegung bei Luther« schrieb. Nach der Promotion 1938 kehrte er sofort nach Deutschland zurück, um das zweite theologische Examen in Berlin zu absolvieren und ordiniert zu werden, natürlich von und in der BK, wo er nun auch als Pfarrer der Notgemeinden Berlin-Hermsdorf und Frohnau angestellt wurde. Während des ganzen 2. Weltkrieges blieb Ebeling Pfarrer im Berliner Norden, wurde aber ab 1940 zugleich als Sanitätssoldat eingestellt (seine Nebentätigkeit als Pfarrer wurde stillschweigend geduldet).

»Entsorgungsversuche« und Verteidigungen eines »Tübinger Brandstifters« – unterschiedliche Wege in die akademische Laufbahn

Ernst Fuchs bemühte sich zunächst um die Wiedergewinnung der ihm 1933 entzogenen venia legendi in Bonn, was auch problemlos erfolgte: »Es ist selbstverständlich, dass Ihre venia legendi in Bonn wieder hergestellt ist. Ihnen dieses mitzuteilen, gereicht mir zur besonderen Befriedigung«, teilte ihm der Rektor der Universität Bonn am 26.2.1946 mit.7 Das ermöglichte Fuchs, 1947 eine Lehrstuhlvertretung für Hans von Soden drei Semester lang in Marburg wahrzunehmen. Anschließend kam es sogar zur Ehrenpromotion durch die Theologische Fakultät in Marburg. Fuchs bedankte sich bei der Fakultät mit der Monographie »Freiheit des Glaubens« (einer Auslegung von Röm. 5-8).

Das blieb aber nur ein akademisches Zwischenspiel, denn es kam nicht zu einer endgültigen Anstellung oder gar Berufung auf einen Lehrstuhl an der Marburger Fakultät. So blieb Fuchs zunächst weiter in seinem Oberaspacher Pfarramt und stellte zugleich an der Tübinger Fakultät den Antrag, seine venia legendi nach Tübingen umzuwidmen, was auch genehmigt wurde. Nun war er zwar Privatdozent der Tübinger Fakultät, wohnte aber weit weg im Hohenlohschen. Deshalb bat er beim OKR in Stuttgart um Versetzung auf eine im Umfeld von Tübingen gelegene Pfarrstelle. Alle Pfarrstellen seien in und um Tübingen besetzt, wurde ihm geantwortet. Also musste Fuchs zwei Jahre lang den Spagat zwischen Oberaspach und Tübingen durchstehen, bis er schließlich als Dozent an der Uni in Tübingen angestellt wurde und deshalb beim OKR um Entlassung aus dem kirchlichen Dienst bat. Diesem Antrag wurde stattgegeben, allerdings mit der Bedingung, dass er auf alle kirchlichen Pensionsbezüge verzichten müsse, was für eine siebenköpfige Familie freilich nicht einfach war (um es sehr milde auszudrücken!). Der OKR zahlte Fuchs zurück, was während des Kirchenkampfes und in der Nachkriegszeit an Eingaben und Protesten von Oberaspach aus in Stuttgart eingegangen war. Vor allem war es Fuchs’ kompromissloses Eintreten für Bultmanns Theologie und dessen Entmythologisierungsprogramm, das den OKR erboste, weil es besonders die Pietisten in der Kirche auf die Barrikaden brachte. Natürlich gab Fuchs auch als Dozent in Tübingen mit seinem Eintreten für Bultmanns Entmythologisierung nicht nach, was dazu führte, dass ihm der Bischof zeitweise Predigtverbot erteilte.

Alles hätte sich friedlich in Württemberg wieder entspannen können, als 1951 eine Berufung an Fuchs von der Bonner Fakultät auf den frei gewordenen Lehrstuhl von Ethelbert Stauffer erging und der Tübinger »Brandstifter« in den rheinischen Norden hätte »entsorgt« werden können. Jetzt schaltete sich aber die Düsseldorfer Kirchenleitung ein und verhinderte die Berufung, weil sie »Bedenken gegen die Lehre von Ernst Fuchs« gutachtlich erhob. Im Grunde war Fuchs’ akademische Laufbahn damit zu Ende, denn er war nunmehr öffentlich als Irrlehrer gebrandmarkt worden. Welche Fakultät sollte ihn jetzt noch berufen? Nun aber kam die große Stunde von Gerhard Ebeling. Eine tiefe Freundschaft nahm ihren Anfang in der größten Notsituation.

Gerhard Ebeling hatte seine akademische Laufbahn nach der Entlassung aus dem Militärdienst Ende Mai 1945 rasch und problemlos in die Wege geleitet: Mit dem Fahrrad fuhr er von Rendsburg durch ganz Deutschland nach Tübingen und meldete sich hier beim Dekan Köberle: Er konnte sich bei Hanns Rückert in der Kirchengeschichte habilitieren und wurde dessen Assistent. Schon im Herbst 1946 wird Ebeling Professor für Kirchengeschichte und hielt bereits am 18.7.1946 seine Antrittsvorlesung über »Kirchengeschichte und Kirchenrecht«. 1949 wurde ihm die Leitung und Neuausrichtung der ZThK anvertraut, was dann auch mit Ebelings programmatischen Aufsatz über »Die Bedeutung der historisch-kritische Methode für die protestantische Theologie und Kirche« geschah. 1951/52 war er bereits Dekan der Tübinger Fakultät, kurz darauf Präsident des Theologischen Fakultätentages (1952-54).

Dieser kometenhafte Aufstieg kam Fuchs zugute, denn Ebeling setzte sich vorbehaltlos für ihn im Streit mit der rheinischen Kirchenleitung ein, indem er einen Offenen Brief an den Präses der Rheinischen Kirche verfasste, der an alle Kirchenleitungen und alle Theologischen Fakultäten verschickt wurde, worin gegen die Verhinderung von Fuchs’ Berufung nach Bonn protestiert und die Einsicht in das rheinische Gutachten verlangt wurde. Wieder und wieder zögerte man in Düsseldorf mit der Herausgabe des Gutachtens; wieder und wieder setzte Ebeling energisch nach, bis schließlich ein höchst dürftiges Gutachten aus Düsseldorf in Tübingen eintraf. Ebeling bat die rheinische Kirchenleitung um eine Aussprache, an der auch Fuchs teilnehmen sollte. Nach der erfolgten Aussprache zog die Rheinische Kirchenleitung ihr Gutachten zurück. Fuchs war rehabiliert und konnte nun ungehindert als a.o. Professor in Tübingen seine Tätigkeit fortsetzen. Nach der Veröffentlichung seiner Tübinger »Hermeneutik« 1954 bekam er einen Ruf aus Berlin.

Ebeling8 schreibt im Rückblick: »In dieser überaus kritischen Atmosphäre vertiefte sich meine Freundschaft mit Ernst Fuchs, in die auch Hanns Rückert einbezogen wurde. Es kam zu unvergesslichen gemeinsamen Seminaren über Luthers frühe Vorlesungen und die Galaterbriefvorlesung«.

»Neuland in der Theologie«? – Hermeneutik im unterschiedenen Beieinander

»Ihre Frage kapiere ich, ehrlich gesagt, nicht!« – Entmythologisierung


Als Bultmann in seinem berühmten Vortrag über »Neues Testament und Mythologie« vor der Kirchlich-Theologischen Sozietät in Alpirsbach 1941 den Begriff »Entmythologisierung« gebrauchte, musste jeder Teilnehmer den zeitgeschichtlichen Kontext dieses Begriffes mithören, wie er durch eines der schrecklichsten Bücher jener Zeit geprägt war: Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1930)! Es war die Weltanschauungsfibel der NS-Zeit, die bei vielen »Volksgenossen« sogar auf dem Nachttisch lag. Wie ein Welt- und Menschenbild über Menschen und ihre Welt verfügt, ist an diesem »Mythus des 20. Jh.« abzulesen. Doch es gab zu allen Zeiten Mythen, die in ihrer Objektivation verfügend sind, auch im NT. Wenn Bultmann die Entmythologisierung solcher Weltbilder forderte – nicht durch Eliminierung, sondern durch existentiale Interpretation –, wollte er den christlichen Glauben von einengenden, verstellenden Objektivationen befreien und das Evangelium als eine den Menschen zu seiner eigenen Existenz bringende und zu eigener Entscheidung herausfordernde Kraft hörbar machen.

Ernst Fuchs, der an jenem denkwürdigen Tag in Alpirsbach Protokollant war und anschließend mit Bultmann mündlich und schriftlich durchaus kritisch über dessen Vortrag diskutierte, wobei Bultmann freilich mehrfach zurück schrieb: »Ihre Frage kapiere ich, ehrlich gesagt, nicht!«9 – Fuchs also hatte rasch erkannt, wie es zur Mythenproduktion gekommen ist, noch kommt und weiter kommen wird: Es ist der objektivierende Mensch, der Weltbilder produziert oder sich von vorhandenen Weltbildern objektivieren lässt, weil er sich in solchen Objektivationen der Macht Gottes entziehen will und sich auf die Furcht Gottes als Anfang wahrer Weisheit nicht einlassen will. Weil aber das NT in seinem Zentrum durch und durch mythenkritisch ist, kommt es darauf an, solche Objektivationen, mit denen der Mensch sich das Evangelium vom Leib hält, kritisch anzugehen, damit es zu einer echten und wahren Begegnung mit dem Evangelium kommt.

In seiner kleinen Schrift »Das Programm der Entmythologisierung«, die Fuchs sowohl in Tübingen 1954 als auch in Berlin 1959 und in Marburg 1967 jeweils neu und erweitert herausgegeben hat, heißt es: »Die Begegnung mit Jesus selbst, nicht mehr und nicht weniger, ist die in der sogenannten Entmythologisierung wirksame Kraft. Entmythologisierung ist heute, wenigstens im Bereich der neutestamentlichen Wissenschaft, Begegnung mit Jesus«10.

Man sollte meinen, dass Pietisten an dieser Stelle geradezu jubeln müßten. Warum ist aber Fuchs dennoch gerade vom Pietismus bis hin zu der Sittenser Disputation 1964 der am meisten bekämpfte Bultmann-Schüler? Weil er an derselben Stelle seiner kleinen Schrift über »das Programm der Entmythologisierung« zu bedenken gibt, dass es auch »eine falsche, eine verkehrte Begegnung mit Jesus gibt«, die es zu kritisieren gilt. Wie sieht so eine falsche, verkehrte Begegnung mit Jesus aus? Sie verfügt über Jesus in Gestalt von objektivierenden Heilsschemata und macht diese zum Glaubensgesetz.

Das Schema, in das etwa die Auferstehung Jesu Christi von Künneth und seinen Anhängern in Sittensen eingeordnet und verfügt wird, heißt: Erstens muss es ein brutum factum der Auferstehung unabhängig vom Glauben geben, ehe dann zweitens von dem Glauben an die Auferstehung gesprochen werden kann. Fuchs’ ganze Bemühung in der sechsstündigen Disputation geht darum, dieses Objektivationsschema aufzusprengen, indem er das Wort von der Auferstehung und das Bekenntnis zu ihr als eine »synekdoche« (Miterwartung) aufzeigt, in der Wort und Glaube beieinander sind: »Er reißet durch die Höll, ich bin stets sein Gesell« (Paul Gerhardt)

Auch Bultmanns »Dass« des Gekommenseins Jesu wird von Fuchs als eine entleerende, formalisierende Objektivation kritisiert, die es zu keiner hinreichenden Begegnung mit Jesus kommen lässt. Deshalb hat Fuchs schon 1944 zum 60. Geburtstag von Bultmann einen Aufsatz über »Jesus Christus als Person« verfasst, um seinen Lehrer darauf aufmerksam zu machen, dass »Jesus Christus als Person«11 im NT reicher ist als ein formales »Daß des Gekommenseins«. Mit der Frage nach dem historischen Jesus setzte Fuchs in den 50er Jahren nur fort, was er 1944 begonnen hatte, sehr zum Unwillen seines Marburger Lehrers, der ihn wieder einmal nicht »kapieren« konnte.


»dass uns darüber Klarheit mangelt, wie Christus durch sein Wort gegenwärtig ist« – Die Frage nach dem historischen Jesus


Gerhard Ebeling verstand seinen Freund in der Frage nach dem historischen Jesus besser, weil er schon in seiner Dissertation über »Evangelische Evangelienauslegung« bei Luther und vollends in den gemeinsamen Tübinger Seminaren gelernt hatte, dass nach Luther zum Glauben an die Gottheit Christi nur gelangt, wer Jesus in seiner Menschheit wahrnimmt und groß macht: »Christus homo Christum deum sua sponte adducit« (WA 5). Das Ergebnis von Ebelings Dissertation, die 1942 gedruckt erschien, lautet: »Die Logik der Hermeneutik ist keine andere als die Logik der Christologie. Wer die Methoden der Evangelienauslegung lernen will, der muss sie von Christus selber lernen«12. Auf dem Weg zu diesem Ergebnis hat Ebeling gezeigt, dass Luther eine evangelische Auslegung der Schrift erreicht, indem er die traditionellen Methoden der Auslegung, vor allem die allegorische Methode und die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, kritisierte. »Von Christus selber lernen«, das heißt eben auch, von den über die Schrift verfügenden klerikalen Instanzen und ihren Methoden sich frei zu machen. Im Blick auf diese Art von Entmythologisierung bzw. Entobjektivierung ist Hermeneutik hilfreich. In diesem Sinn gibt Ebeling in seiner Dissertation zu bedenken: »Dass wir die hermeneutische Frage stellen müssen, hat darin seinen Grund, dass uns darüber Klarheit mangelt, wie Christus durch sein Wort gegenwärtig ist.«13

Wie nahe Ebeling mit diesen an Luther erarbeiteten Sätzen bei Ernst Fuchs steht, brauche ich kaum zu betonen. Auch der programmatische Aufsatz Ebelings über »Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für Theologie und Kirche«, der die ZThK-Herausgabe Ebelings eröffnete, fand den Beifall von Fuchs, weil damit ja die biblischen Texte der beliebigen Verfügung von Auslegern entzogen werden, die sie nur zur Legitimation für ihre Vorstellungen missbrauchen. Fuchs kam es, ganz ähnlich wie Ebeling, nicht auf Vorstellungen, sondern auf Einstellungen an, d.h. ich bin noch nicht im Text mit meiner Auslegung drin, wenn ich ihn nur auf seine gnostischen, apokalyptischen oder sonstigen Vorstellungen abklopfe, sondern wenn mich der Text mit der Wucht seiner Sprache und darin der Wucht der Sache so packt bzw. einstellt, dass ich als Ausleger am Ende selbst ausgelegt werde.

Ebeling hat den Kampf um hermeneutisch reflektierte Auslegung biblischer Texte von Luther her so unterstützt: »Nicht Anpassung des Textes an den Leser (und seine Vorstellung), sondern sein Ergriffenwerden durch den Text ist die Richtschnur.« Das wird an Luther verdeutlicht: »Beachte, dass die Kraft der Schrift die ist: Sie wird nicht in den gewandelt, der sie studiert, sondern sie verwandelt den, der sie liebt, in sich und ihre Kräfte hinein.« (»nota, quod Scripura virtus est haec, quod nun mutatur in eum, qui eam studet, sed transmutat suum amatorem in sese ac suas virtutes«) (WA 3, 397, 9-11).

Fuchs und Ebeling wurden sich immer einiger darin, dass Hermeneutik weit mehr ist als eine Methodenlehre, so sehr sie das freilich auch ist. Es ist vielmehr eine Lehre, die verstehen will, was die biblischen Texte jeweils zu verstehen geben, wie sie »Christum treiben« und dabei den Ausleger in das Verstehen mit einbeziehen. So hilft Hermeneutik, Christus möglichst unverstellt zu begegnen, unverstellter als diejenigen, die unbewusst von ihren Vorstellungen und ihren objektivierenden Mythen her immer schon zu wissen meinen, wie Christus zu sein hat. Werden sie mit ihren verfügenden Vorstellungen durch entmythologisierende bzw. entobjektivierende Kritik gehindert, können sie böse werden, weil ihr Welt- und Menschenbild in Frage gestellt wird, in das sie Christus eingeordnet haben.

Gemeint ist an dieser Stelle nicht bloß Walter Künneth und die Bekenntnisbewegung, sondern z.B. auch Pannenberg, der im Gegenzug zu Ebelings Aufsatz über »Die Evidenz des Ethischen« »die Krise des Ethischen« dadurch angehen will, dass er erst einmal die Wirklichkeit Gottes spekulativ mit Geschichtstheologie zu objektivieren sucht, ehe er dann zu ethischen Konsequenzen kommt.14 Gemeint ist auch das römische System, das nach der Weise verfährt: »Ubi ecclesia, ibi Christus«. Gemeint sind letztlich alle, die ihren Objektivationen aufgesessen sind, weil sie hermeneutisch nicht reflektiert haben, wie sie mit den Texten und darin mit den Menschen umgehen, sodass sie Christus nicht mehr begegnen, sondern nur noch ihrem eigenen Weltbild, ihrer eigenen Vorstellung.


»Der Maßstab unserer Auslegung ist die Verkündigung« – der Ernstfall der ­Hermeneutik


Wohl in keinem Punkt bestand eine so große Einigkeit zwischen Fuchs und Ebeling wie in der Aufgabe der Verkündigung, die aus einer hermeneutisch reflektierten Auslegung biblischer Texte folgt. In seinem Beitrag für den amerikanischen Sammelband »Die neue Hermeneutik«, 1962, schreibt Ebeling15: »Das Problem theologischer Hermeneutik wäre nicht erfasst ohne Einbeziehung der Verkündigungsaufgabe; es erhält dadurch überhaupt erst seine entscheidende Zuspitzung…, weil auf die biblischen Texte nicht richtig gehört wäre, wenn nicht die Aufgabe der Verkündigung in den Blick käme.«

In demselben Buch sekundiert Fuchs16 seinem Freund kurz und bündig: »Der Maßstab unserer Auslegung ist die Verkündigung. Der Text ist ausgelegt, wenn Gott verkündigt wird!« Für beide ist die Aufgabe der Verkündigung also kein beliebiger Anwendungsfall, der auch wegfallen könnte, sondern der notwendige, unverzichtbare Ernstfall biblischer Exegese.

Wenn Ebeling immer wieder betont, dass es auf ein Verstehen durch Sprache und nicht nur auf ein Verstehen von Sprache ankommt, so ist der Weg vom Text zur Predigt der hermeneutische Ernstfall dieses Verstehens durch Sprache, kommt es doch darauf an, sich durch die Sprache des Textes zu vollmächtiger Verkündigung autorisieren zu lassen. Ebeling17 selbst sagt es so: »Die Predigt ist Ausführung des Textes. Sie bringt zur Ausführung, was der Text will. Sie ist Verkündigung dessen, was der Text verkündigt hat. Und damit kehrt sich gewissermaßen der hermeneutische Richtungssinn um. Der in der Auslegung zum Verstehen gekommene Text hilft nun, das zum Verstehen zu bringen, was durch die Predigt zum Verstehen kommen soll: Die gegenwärtige Wirklichkeit coram Deo in ihrer radikalen Zukünftigkeit. So wird der Text durch die Predigt zur hermeneutischen Hilfe im Verstehen gegenwärtiger Erfahrung. Wo das radikal geschieht, geschieht wahres Wort, und das heißt eben: Wort Gottes«.

Im gleichen Sinn fordert Fuchs wenig später: »Der Text will ›sakramental‹ verstanden werden, sozusagen als Gabentisch, der austeilt, satt macht, weil er zur Sprache bringt, worin der Überfluß Gottes besteht. Dann kommt man zu der Einsicht, daß der Text ein Text der Verkündigung werden muss: weil Gott der Reiche ist und wir die Armen sind. Das ist die ›Kehre‹. Ihr Ereignis stellt die Aufgabe und das hermeneutische Problem. Die neue Hermeneutik will den Text wieder als Text der Verkündigung (Gen. und Dat.) zurückgewinnen. Wir dürfen die historische Methode nicht auslassen, aber wir müssen sie sozusagen durchqueren. Unsere Füße werden naß werden, aber zuletzt werden wir getragen werden.«18


Wirklichkeits- versus Möglichkeits­hermeneutik? – Begegnungen jenseits monströser Begriffsapparate


Ist das nun »die neue Hermeneutik«, wie sie James M. Robinson gern als »Neuland in der Theologie« mit den europäischen Theologen Fuchs und Ebeling sowohl in den USA als auch in Europa präsentieren wollte? Ernst Fuchs hatte das Stichwort »neue Hermeneutik« schon in einem Brief an Ebeling vom 8.12.1959 programmatisch gebraucht: »Ich bezeichne unsre Hermeneutik als ›neue‹ Hermeneutik, weil wir nicht mehr nur nach dem Sinn des Textes fragen, sondern nach der mit dem Text selbst gegebenen hermeneutischen Hilfe. Das ist etwas völlig Neues. Und da Du ja darin mit mir völlig einig bist, greife ich Dir kaum vor, wenn ich von einer ›neuen‹ Hermeneutik und spreche und sie gelegentlich als die ›unsre‹, d.h. als die Deine und meine, bezeichne. Dass jeder von uns beiden auf seinem Wege zu diesem Resultat kam, ist ja deutlich genug. Aber ich denke, Du bist damit einverstanden, dass Gemeinsamkeiten auch als solche bezeichnet werden.«19.

Es zeigte sich jedoch im Nachhinein, dass Ebeling mit der Bezeichnung »Neue Hermeneutik« nicht einverstanden war. Bei der Herausgabe der Freundesbriefe fügte er 1973 diesem programmatischen Begriff eine längere Anmerkung hinzu, die in dem Satz gipfelt: »Rückblickend wird man sagen müssen, daß das von Fuchs geprägte Stichwort (sc. »Neue Hermeneutik«) infolge der etwas sensationellen Kolportage, die ihm zuteil wurde, eine nicht unproblematische Wirkungsgeschichte hatte«20. Meinte Ebeling mit der »sensationellen Kolportage« nur die publizistische Vermarktung durch die Amerikaner seit der Drew-Konferenz im April 1962? Oder ist diese Anmerkung eine späte Distanzierung von der Vereinnahmung durch Fuchs mit dem Programmwort »neue« Hermeneutik? Bei Ebeling findet sich dieses Programmwort jedenfalls nirgendwo, und das könnte durchaus Absicht sein, weil er sich von der seit Luther und Schleiermacher geübten Hermeneutik auf keinen Fall absetzen wollte. Selbst das Stichwort »Hermeneutik« tritt bei Ebeling mehr und mehr zurück, damit nicht durch ein theologisches Reizwort neue Fronten aufgerichtet werden. Worauf es Ebeling stattdessen ankam, fasst Albrecht Beutel in seiner akademischen Gedenkrede zusammen: »Rechenschaft über den Glauben: Darin liegen Grundzug und Leitmotiv bei Gerhard Ebeling … Die akademisch geprägte und kirchlich orientierte Lebensarbeit Ebelings vollzog sich vor einem umfassenden Welthorizont«21.

Das apologetische Interesse an einer Rechenschaft über den Glauben vor dem Problemhorizont der Wirklichkeit, das Ebeling immer deutlicher bestimmte, teilte Fuchs nicht. Ihm lag an einer Hermeneutik, die er schon in seiner Tübinger Hermeneutik von 1954 als »Sprachlehre des Glaubens« verstand. Die biblischen Texte bekamen bei Fuchs den Charakter eines Gabentisches, an den der Ausleger geladen wird, um hier in »sakramentaler« Interpretation das Wort zu vernehmen, das die Verkündigung ermöglicht, ein Wort, das Freude an Gott und seinen Möglichkeiten stiftet. Wenn Fuchs mehr und mehr statt von existentialer von sakramentaler Interpretation sprach, so hatte das seinen Grund darin, dass er den Gabecharakter des biblischen Textes in den Blick bringen will. Es kommt ihm darauf an, das sakramentale »für Dich« in und mit den biblischen Texten zur Sprache kommen zu lassen und zu Gehör zu bringen. Dann werden Ausleger und Hörer in den Raum von Gottes Möglichkeiten übersetzt. Es gilt: »Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.« (Mk. 9,23)

Den Unterschied zwischen beiden Freunden, den ich hier anzudeuten versuche, hat der Zürcher Systematiker Ingolf Dalferth in seinem Buch »Radikale Theologie«22 so markiert: »Die theologische Pointe von Ebelings Ansatz war es, die reformatorischen Züge in Bultmanns Theologie durch konsequenten Rückgang auf Luther, Schleiermacher und Bonhoeffer herauszuarbeiten und in eine lutherische, an der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium orientierte Wort-Gottes-Hermeneutik zu integrieren. Durchgeführt wurde das im Rahmen einer am Leitbegriff des Wortgeschehens entwickelten Wirklichkeitshermeneutik, in der die cognitio dei von der – durch die Dialektik von Sünde und Glaube geprägten – cognitio hominis her entfaltet wird«. »Die theologische Pointe der Ansätze von Fuchs und vor allem Jüngel dagegen war es, in konsequenter Exegese neutestamentlicher Texte im Horizont der Sprachreflexionen des späten Heidegger und der trinitarischen Wort-Gottes-Hermeneutik Barths eine offenbarungstheologische Hermeneutik der sich frei ereignenden und selbst vermittelnden Gottesgegenwart zu entfalten. Ihr Leitbegriff war das Sprachereignis, und sie wurde Hermeneutik, in der alles, auch die cognitio hominis, von der sich selbst als solche erschließenden cognitio dei her entfaltet wird.«

»Wirklichkeits- und Möglichkeitshermeneutik« – das ist eine nachdenkenswerte Formel für das unterschiedene Beieinander in der Hermeneutik von Ebeling und von Fuchs, der bei Dalferth vor allem durch die Brille Jüngels gesehen wird. Die Unterscheidung könnte dadurch noch fruchtbarer werden, wenn gesehen wird, dass Ebeling durch »Wirklichkeitshermeneutik« auch zukünftige Möglichkeiten erschließen wollte, wie auch Fuchs durch »Möglichkeitshermeneutik« Wirklichkeit stiften wollte. Könnte man diese Unterscheidung statt an monströsen Begriffen eher an einleuchtenden Phänomenen verdeutlichen, würde sie auch anschaulicher. Sowohl Fuchs wie Ebeling hatten ja, je älter sie wurden, Vorbehalte gegenüber einem voluminösen Begriffsapparat. Was beide Freunde mehr und mehr bestimmte, war die Suche nach elementaren Lebensworten, bei Ebeling am deutlichsten ausgeprägt in seinem Tübinger Vortrag von 1999: »Ein Leben für die Theologie – eine Theologie für das Leben«. Bei Fuchs war es die schon früh einsetzende Suche nach einer Sprache der Liebe, die Gott und Welt, Himmel und Erde umschließt und alltägliche Erfahrungen mit der Liebe freisetzt.

So ist es nicht verwunderlich, dass Ebeling testamentarisch verfügte, am Ende des Lebens in das paulinische Wort aus Röm. 14 geborgen zu werden: »Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Also wir leben oder wir sterben, so sind wir des Herrn.« Anlässlich seiner Beerdigung am 8.10.2001 hielt Pierre Bühler über diesen Text im Zürcher Großmünster eine eindrucksvolle Predigt.

Fuchs konnte wegen seiner Altersdemenz so einen Wunsch nicht mehr äußern; doch seine Familie kannte ja seinen biblischen Leitstern, sprach ihm beim Sterben dieses Wort noch einmal zu und setzte es dann auf seine Todesanzeige: »Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.« (1. Joh. 4,16) Franz Härle, Ortspfarrer von Pfullingen, predigte über diesen Text anlässlich der Beerdigung von Ernst Fuchs am 20.1.1983.

Anmerkungen:

1 Gerhard Ebeling u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ernst Fuchs zum 70. Geburtstag, Tübingen 1973, 7.
2 A.a.O., 30f.
3 Hermeneutik, Bad Cannstatt 1954, 136.
4 A.a.O., 55.
5 GA III, 136.
6 Gerhard Ebeling, Mein theologischer Weg, Zürich 2006, 5f.
7 Vgl. Christian Möller (Hg.), Freude an Gott, Hermeneutische Spätlese bei Ernst Fuchs, Spenner-Verlag Kamen 2003, 58.
8 Mein theologischer Weg, a.a.O., 53.
9 Lothar Vogel, Ernst Fuchs in Oberaspach, in: Möller, Freude an Gott, a.a.O., 79.
10 Ernst Fuchs, Programm der Entmythologisierung, a.a.O., 20.
11 Ernst Fuchs, Zur Frage nach dem historischen Jesus, Tübingen 1960. Darin: Jesus Christus in Person, 21-54.
12 Gerhard Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, 1942, 452f.
13 A.a.O., 9.
14 Gerhard Ebeling, Die Evidenz des Ethischen und die Theologie, ZThK 57, 1960, 318-356. – Wolfhart Pannenberg, Die Krise des Ethischen und die Theologie, ThLZ 1962, 7-16, und der darauf erfolgte Einspruch Ebelings in ZThK 69, 1972, mitsamt dem darauf erfolgten Briefwechsel zwischen Pannenberg und Ebeling in ZThK 70, 1973, 448-473.
15 James M. Robinson, Die neue Hermeneutik, 1962, 143.
16 A.a.O., 182.
17 A.a.O., 145.
18 Ernst Fuchs, Jesus – Wort und Tat, Tübingen 1963, 140.
19 A.a.O., 48.
20 A.a.O., 51.
21 Albrecht Beutel, Rechenschaft über den Glauben. Grundzug und Leitmotiv bei Gerhard Ebeling, Hermeneutische Blätter, Sonderheft Juli 2003, Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie der Universität Zürich, 26-41; 38.40.
22 Ingolf U. Dalferth, Radikale Theologie, Leipzig 2010, 29f.

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Christian Möller, Jahrgang 1940, Prof. für Prakt. Theologie an der Universität Heidelberg, seit 2005 emeritiert; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Gemeindeaufbau, seelsorgerlich predigen, Hymnologie, reformatorische Spiritualität.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2012

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