Warum sollte sich Protestanten angesichts der reformatorischen Kritik mit dem Pilgern beschäftigen und vielleicht sogar dafür engagieren? Detlef Lienau möchte mit der Bibel und von dort aus entfalten, was Pilgern eigentlich ist, und dabei zeigen, dass Pilgern persönlichen Glauben weckt und religiöse Erfahrung ermöglicht.1

»Wie er (Jakobus’ Leichnam) in Hispaniam kommen ist gen Compostel da die groß walfahrt hin ist, da haben wir nu nichts gewiß von dem. … Darumb laß man sy ligen und lauff nit dahin, dann man waißt nit ob sant Jakob oder ain todter hund oder ein todts roß da liegt, … laß raisen wer da wil, bleib du dahaim.« Offensichtlich hält unser Reformator Martin Luther vom Pilgern nichts! Er diffamiert es als Heiligenverehrung und Werkgerechtigkeit, unbiblisch und bloße Äußerlichkeit – ein abgöttisch Narrenwerk. Immerhin 250mal arbeitet sich Luther am Pilgern ab, mal polemisch, mal mit fundamentaler Kritik.

Warum sollen wir uns als evangelische Kirche angesichts der reformatorischen Kritik mit dem Pilgern beschäftigen und vielleicht sogar dafür engagieren? Ich möchte Luther mit seinen eigenen Waffen schlagen, mit der Bibel, und von dort aus entfalten, was Pilgern eigentlich ist.

1.  Biblisch-theologische Grundlegungen

Das Pilgern taucht tatsächlich in der Bibel auf, und zwar bereits im AT, dessen Gotteserfahrung vom Unterwegssein geprägt ist, wie bei keiner anderen Religion. Das beginnt bereits bei Abraham, den Gott aus dem Gewohnten herausruft: »Zieh fort aus deiner Heimat in das Land, das ich dir zeigen werde.« So wird Abraham zum Urvater der Pilger, der sich riskiert und aufbricht im Vertrauen auf Gott. Auch der Exodus aus Ägypten ist eine Pilgergeschichte. Die Sklaverei des Vertrauten wird zurückgelassen zugunsten der neuen Freiheit des verheißenen Landes. Für die jüdische Gotteserfahrung liegt die Freiheit vorne, in der Zukunft. Auch wenn die Bequemlichkeit zurück zu den vermeintlichen Fleischtöpfen Ägyptens will, zieht Gott seinem Volk voraus.

Im NT wird dieses Motiv des Sich-Ausstreckens nach vorn noch grundsätzlicher. Es geht nicht mehr um einzelne Akte des Reisens, sondern um das Unterwegssein als Lebenshaltung. Wer Jesus nachfolgen will, den stellt er vor die Frage, wo die eigentliche Heimat sei: »Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.« (Lk. 9,51) Der Wanderprediger Jesus lebt auf dem Weg hin zu seiner eigentlichen himmlischen Heimat bei Gott:

»Ein Tag, der sagt dem andern,
mein Leben sei ein Wandern
zur großen Ewigkeit.
O Ewigkeit, so schöne,
mein Herz an dich gewöhne,
mein Heim ist nicht in dieser Zeit!«

Die vertraute Liedstrophe von Gerhard Ter­steegen (1697-1769) fängt diese eschatologische Lebenshaltung gut ein: Es steht noch etwas aus, wir sind unterwegs, wir sind voller Hoffen und Erwarten.

Besonders der Hebräerbrief lebt in diesem Sehnen des Fremdlings nach Heimat: »Gäste und Fremdlinge sind wir auf Erden. Wir sehnen uns nach einem besseren Vaterland, nämlich dem himmlischen« (Hebr. 11,13ff). Unterwegssein ist kein Entschluss, sondern das Anerkennen einer Tatsache, die es sich bewusst zu machen gilt, um nicht fälschlich das Vorfindliche der Alltagswelt mit der eigentlichen Heimat zu verwechseln.

Bei dieser Lebenshaltung knüpft unser Wort Pilgern an. Es stammt ab vom lateinischen Peregrinatio, das ursprünglich eine juristische und nicht religiöse Bedeutung hatte: Per egre bezeichnet den von außerhalb des ager Romanus stammenden Aus-Länder, also den Fremden, der ohne Rechtsschutz unbehaust und notvoll lebt und nichts sehnlicher sucht als eine schützende feste Bleibe. Wie ein Asylant erfährt er die Gegenwart als Fremdsein und hofft auf eine Heimat, die er noch nicht hat.

Weil dieser Begriff der Peregrinatio die christliche Lebenshaltung gut einfängt, haben die Christen ihn auf sich selbst bezogen. Wir sind Pilger auf der Suche nach dem, was dieser Welt zugrunde und voraus liegt, voller Sehnsucht nach Gott: »Unruhig unser Herz, bis es ruht in Dir, Gott. Zu dir hin hast du uns geschaffen« (Augustinus).

2. Pilgern heute

Springen wir in die Gegenwart. Sofort assoziiert man beim Pilgern das Stichwort Jakobsweg. Zu Recht, den er ist der mit Abstand populärste Weg. Etwa 170.000 Pilger haben sich im Jahr 2011 beim Eintreffen in Santiago registrieren lassen, quer durch alle europäischen Nationen; die Deutschen stellen knapp 10%. Tatsächlich ist aber ein Vielfaches pilgernd unterwegs durch Europa. Einige von ihnen laufen nur wenige Tage, viele mehrere Wochen; vermutlich ist fast ein Drittel mindestens fünf Wochen ab den Pyrenäen oder gar ab dem Heimatland unterwegs. Pilgern ist aber mehr als nur die Jakobswege. Bekannt sind Franziskuswege nach Assisi, die Via Francigena von Canterbury nach Rom und sogar im lutherischen Norwegen wird auf Olavswegen gepilgert.

Jakobswege gibt es auch außerhalb Spaniens. Die Karte der Jakobswege in Deutschland zeigt ein Netz von Wegen, das jährlich dichter wird. Auch in Deutschland kommen weitere Wege hinzu, die nicht auf Santiago ausgerichtet sind. In Bayern etwa finden sich Via Nova, Crescentia-Weg, Benediktweg, Prälatenweg, Gunthersteig, Bruder-Konrad-Weg und Kapellenwege.

Pilgern ist zum Tourismus-Faktor geworden. Wenn Kirche sich hier engagiert, kann sie mit breiter Resonanz rechnen, trifft sie auf neugierige Menschen und interessierte Kooperationspartner und zeigt sich in einem sehr positiv besetzten Feld auf der Höhe der Zeit. Die mediale Präsenz des Jakobsweges ist immens. Vierstellig ist die Zahl der allein auf Deutsch erschienenen Bücher, das Stichwort zeigt einige Million Google-Ergebnisse; Kerkelings »Ich bin dann mal weg« avanciert zum erfolgreichsten Sachbuch, das jemals in deutscher Sprache erschienen ist. Pilgern trifft den Nerv der Zeit. Auch wer selber nicht Zeit oder Mut zum Aufbrechen hat, ist neugierig. Pilgern hat Resonanz weit über die hinaus, die sich auf den Weg machen.

Was fasziniert so am Pilgern? Warum finden wir es gerade heute so attraktiv?

3. Pilger-Erfahrungen

Was Pilger äußerlich machen, lässt sich leicht beschreiben. Schwerer aber lässt sich sagen, was mit den Pilgern innerlich passiert, welche Erfahrungen sie machen – vieles ist ihnen selbst unbewusst und nicht zugänglich. Was ich hier als religiöse Erfahrung von Pilgern schildere, speist sich aus mehreren Quellen: meiner eigenen Erfahrung als Pilger und insbesondere aus den bald 10 Jahren, in denen ich jährlich mehrere Wochen Pilgergruppen leite. Dies war Anlass meiner theologischen Untersuchungen, die in mein Buch »Sich fremd gehen. Warum Menschen pilgern« gemündet sind. Außerdem ein Forschungsprojekt, bei dem ich Pilger interviewe. Obwohl Gott und Glaube in meinen Fragen gar nicht explizit vorkommen, schildern die Interviewten erstaunlich dichtes religiöses Erleben. Ich möchte mit einem dieser Pilger ein Stück seines Wegs teilen: Sven mag etwa 50 Jahre alt sein, Angestellter. Wie kühl ist es morgens und wie heiß mittags, wie gut tut ein Schluck Wasser aus dem Brunnen; der gleichförmige Rhythmus des Gehens, der Muskelkater lässt jeden einzelnen Kilometer spüren; eine Matratze für die Nacht suchen … Sven ist bei ganz elementaren Vollzügen des Menschseins. Seit einer Woche ist er nun auf dem spanischen Jakobsweg unterwegs:

»Ich kann auf dem Weg stille sein, mich in mich kehren. Ich kann mich auf tiefe Gespräche einlassen, weil ich genug Zeit habe, ohne dass etwas dazwischen kommt. Oder ich kann einfach mal zwei Stunden ruhig sein und die Umgebung auf mich wirken lassen, meinen eigenen Gefühlen nachspüren. Der Alltag ist so unheimlich voll und dicht gedrängt – ich genieße hier die Freiheit.«

Für Sven ist Pilgern eine Auszeit aus dem eng getakteten Alltag. Und er bekommt Lust, etwas von sich zu erzählen. Er spürt sich, seinen Körper und seine Gefühle. Er kann sich öffnen, weil er mit den Pilgern eine Gemeinschaft nur auf Zeit bildet. Außerdem merkt Sven, wie seine Gedanken in Bewegung kommen. Was der Körper macht, färbt auch auf den Geist ab. Wie viel leichter lässt es sich beim Gehen miteinander reden. Und der Pilgerweg wird ihm zum Symbol seines Lebensweges. Aufbrechen und loslassen, Unterwegssein und Ziele verfolgen, Ankommen und zur Ruhe kommen, in Gemeinschaft sein und doch selber gehen zu müssen – vieles bietet Parallelen zum Alltag, weckt Assoziationen. Der Weg wird ihm zur verdichteten symbolischen Darstellung seines Lebens, ermöglicht Auseinandersetzung, Verstehen und Klären.

Die ungewohnte Nähe lässt auch Macken zutage treten. Beim Umziehen zeigen sich kaputt gelaufene Füße, nachts fällt er als Schnarcher auf. Aber es ist schön, Teller und Becher zu teilen – was ihm sonst eklig und peinlich ist, gelingt hier problemlos. Wer seine eigenen Gebrechen spürt, geht gnädiger mit den Macken des Anderen um. Von selbst geschieht »consolatio fratrum« vom Pflaster bis zum kilometerlangen Gespräch. Schließlich hat man sich etwas zu sagen: Alle kommen aus der gleichen Richtung und haben das gleiche Ziel vor Augen.

Es ist nicht üblich, die Unterkünfte zu reservieren. Sven ist sozusagen obdachlos, weil er nicht weiß, ob und wo er einen Unterschlupf für die Nacht findet. Er muss das Bitten erst wieder lernen. Ansprüche erheben geht nicht, zumal viele Herbergen in Spanien von ehrenamtlichen Hospitaleros betreut werden. Sven erlebt, dass er die Situation nicht mehr in seiner Hand hat. Aber immer finden sich Gastgeber – für einen Plausch am Wegesrand, für die Ruhe der Nacht und zum Verbinden seiner Wunden. Sven wird so viel reicher beschenkt als erwartet. Er erlebt sich angewiesen auf Andere – und darin bewahrt. Seine meist positiven Erfahrungen stärken sein Vertrauen.

Endlos scheinen Sven seine Tagesetappen, Hitze und Steigungen, Blasen und Gelenke lassen ihn an seine Leistungsgrenzen kommen. Es ist schön zu merken, was alles in ihm steckt. Und er wird sensibler, Gefühlsschwankungen treten deutlich zutage. Was Sven an sich selbst am meisten überrascht: er kann sich öffnen, wird sensibel für sich selbst und das Leben um ihn herum: »Ich verspür eine Verbundenheit mit dem, was um mich herum ist, ich bin achtsamer, nehme mehr wahr. Ich fühl mich da eins mit dem um mich herum, so das Gefühl: Ich lebe jetzt.« Und: »Ich spüre am ganzen Körper eine tiefe Dankbarkeit, dass ich lebe. Ein ganz tiefes Lebensgefühl ist das, ganz intensiv.« Deutlich wird dass, als sich vor ihm eine hüglige Landschaft mit weiten Getreidefeldern öffnet: »Ich hab das Gefühl, dass ich alles umarmen könnte, mich irgendwie reinlegen. So ein Gefühl wie ein riesiges weiches Bett, in das ich mich reinfallen lassen könnte, das hat was ganz heimeliges. Das ist wie wenn du ganz traurig bist und dich an einen anderen Menschen ankuscheln kannst und seine Hand auf deinem Kopf spürst und so einen Trost erfährst.«

Verbundenheit wird für Sven zur zentralen Erfahrung. Nach außen, mit der Natur, auch mit anderen Menschen und dann mit dem Grund des Lebens fühlt er sich verbunden. Er erlebt sich im Austausch mit Pflanzen und Tieren und auch mit dem, der allem zugrunde liegt. Verbunden erfährt er sich auch nach innen, er spürt, dass er lebt. Das klingt banal, ist für Sven aber so beglückend, weil es ganz anders ist als im Alltag. Da fährt er mit dem Auto zur Arbeit und ist mit dem Flugzeug unterwegs, Entfernungen spielen keine Rolle – jetzt wird die Strecke bis zum nächsten Dorf ziemlich spürbar. Im Büro arbeitet er am Bildschirm, seine Wirklichkeit ist zweidimensional. Statt etwas zu berühren, bedient er eine Maschine. Gespräche führt er per Telefon. Freunde hat er bei »Facebook«. Sven kommt seine Welt zunehmend künstlich und konstruiert vor. Sein Alltag gibt ihm immer weniger das Gefühl, in Kontakt zu den Dingen zu stehen. Er verliert auch den Bezug zu sich selbst. Immer neue Identitäts-Angebote lernt er kennen – aber wer ist er und was will er eigentlich tatsächlich? Alles ist möglich, aber nichts mehr wirklich. Nichts ist sicher und bietet einen tragfähigen Grund.

Im Alltag muss er funktionieren, wird fremdbestimmt, hat immer etwas vor. Auch seinen Körper muss er zu Hause funktionalisieren, seine Emotionen kontrollieren. Jetzt aber kann er Gefühle zulassen, hantiert nicht an der Welt herum, sondern überlässt sich ihr. Sven sagt das so: »Die Welt ist mehr als ein Rohstoff, mit dem ich etwas anstelle. Wir – sie und ich – gehören zusammen.« Was wir als Subjekt-Objekt-Spaltung bezeichnen, dass der Mensch sich als unterschieden von anderen Dingen und Menschen sieht, daraus wird nun ein Zusammenhang: Kopf und Herz, ich und mein Körper, der Mensch und alle anderen Geschöpfe – alles gehört zusammen, bildet eine sinnvolle Einheit. Sven gewinnt eine tiefe Vertrautheit mit sich selbst und Vertrauen, dass die Welt ein guter Lebensraum ist.

Sven muss für seine Erfahrungen nach Worten suchen. Er kennt religiöses Vokabular aus der Kirche, aber kann es nicht selbst anwenden. Auch scheinen ihm die Geschichten und Symbole der Bibel nicht zu seinem Erleben zu passen – es ist ja eher eine Ahnung von Gott, keine spektakulären Offenbarungen, sondern ein Fühlen, dass Gott da ist. Wie kann Sven das ausdrücken? Dass er nicht allein ist auf der Welt, verloren und einsam. Dass er sich anlehnen kann und sich einem Anderen überlassen. Dass die Welt gut zu ihm ist, des Vertrauens und der Zuversicht wert. Die Welt ist nicht kalt und ignorant, vielmehr spendet sie Trost, ist mir wohl gesonnen, wie ein Du, das mich anschaut und sich mir zuwendet. Sven möchte alles umarmen, so erfüllt ist er von dieser Erfahrung, so gewiss ist er, dass es keine Einbildung ist, mehr als nur ein kurzer Moment, sondern das, was die Welt eigentlich ausmacht. Das wird ihm mehr als ein bloßer Satz, nämlich eine Glaubens-Gewissheit. Das spürt Sven, in sich, an den Dingen dieser Welt. Und manchmal findet er dann doch christlich-religiöse Worte dafür: »Ich habe gespürt: Ich stehe in der Schöpfung und bin ein Teil von ihr, Gottes Schöpfung ist um mich herum.«

Sven ist eigentlich ein bodenständiger Mensch, kein spiritueller Hochseiltänzer. Für ihn werden aus diesen Glaubensaussagen auf einmal Lebensgewissheiten. Und Sven ist kein Einzelfall. Was er an Vertrauen und Gewissheit schildert, höre ich sehr häufig. »Ich hab mich auf dem Weg des Öfteren begleitet gefühlt. Ich bin dankbar, dass ich das erleben kann, denn das war lange nicht so. Das kann mein Schutzengel sein, oder sag Gott dazu.«

In Svens Pilgererfahrungen finden wir vieles wieder, was unseren Glauben ausmacht: Ich bin wertvoll. Ich habe Energie und kann etwas. Ich werde gehalten. Unsere Welt ist als guter Lebensraum geschaffen. Gott blickt mich an und kümmert sich um mich.

4. Pilgern fördern

Das alles geschieht beim Pilgern – von selbst und doch auch nicht ganz von selbst. So wenig sich Glauben machen lässt, so sehr gibt es Rahmenbedingungen, die förderlich sind:

Tradition einspielen: Pilgern bietet starke Erfahrungen. Aber dass diese in christlicher Perspektive gedeutet werden, geschieht nicht automatisch. In meinen Gruppen halten wir täglich zwei Andachten. Sie helfen bei der Vermittlung zwischen biblischen Geschichten und den Erfahrungen beim Pilgern. Diese Angebote werden gern angenommen, weil sie Augen öffnen und das eigene Erleben in Worte fassen helfen.

Leben teilen: Als Geistlicher werde ich beim Pilgern zu einem Menschen aus Fleisch und Blut: Man glaubt mir, weil ich das schlichte Frühstück teile, wie die Anderen unter meinem Rucksack schwitze und, wie sie, meine Not an langen Etappen habe. Das macht mich menschlicher, nahbarer und vor allem glaubwürdiger. Oft muss ich meine Andacht umschreiben, weil ich merke, sie ist zu vollmundig, das kann ich nach einem solchen Tag nicht mehr sagen – aber dann nimmt man sie mir auch ab. Das ermöglicht auch bewegende Gespräche; Pilgern ist ambulante Seelsorge. Täglich richte ich für meine Gruppen selbst Frühstück und Mittagessen. Und wer beim Frühstück mit Kaffee und Müsli nährt, kann auch beim Abendmahl mit Brot und Wein stärken. Wer einem beim Rucksackpacken hilft, den lass ich auch mein Leben ordnen. Wer die Tagesetappe erklärt, dem traut man auch zu, beim Finden des Lebensweges behilflich zu sein.

Alltags-Distanz: Nach meiner Erfahrung ist es hilfreich, einen möglichst großen Abstand zum Alltag zu suchen. Je mehr die Pilger in einen anderen Lebenskontext kommen, desto mehr erfahren sie von den anderen, sonst verdeckten Seiten ihres Lebens. Maximal 10kg im Rucksack stellen vor die Frage: Was ist wirklich notwendig und was überflüssiger Ballast? Wer sich frei macht von den Problemen des Alltags, auf Handy und Mail verzichtet wird frei für das Kommende. Nur ein leeres Gefäß kann gefüllt werden. Einfach leben, Waschtrog statt Waschmaschine, Brunnen statt Cola-Automat, Massenlager statt Einzelzimmer … indem ich anders lebe, werde ich anders. Ich gehe mir sozusagen fremd, um mich neu zu finden. Das Schöne ist, dass das spielerisch geschieht: Man lässt sich für einige Tage oder Wochen darauf ein, probiert sich einmal aus – und einiges wird dann in den Alltag mitgenommen.

5. Warum als Kirche engagieren?

Meine Überlegungen zum Pilgern sind einen weiten Weg abgeschritten: Biblisch-theologisch haben wir gefragt, inwieweit das Pilgern zu unserem Glauben gehört. Wir sind Sven gefolgt und seiner dichten religiösen Erfahrung. Deutlich wurde, warum gerade heute das Erleben von Gewissheit und Verbundenheit so wichtig ist. Das mündet in unseren letzten Gedankenschritt: Warum soll Kirche sich beim Pilgern engagieren? Ich nehme dabei eine religionssoziologische Perspektive ein: Wie sind Menschen heute religiös? Und ich merke: Vieles, was für moderne Religiosität typisch ist, findet sich beim Pilgern, weshalb es eine gutes Übungsfeld ist.

Menschen wollen ausprobieren, erleben und spüren, was sie glauben. Religion muss erlebnisintensiv sein. Dass es sich zu glauben lohnt, soll nicht nur behauptet werden, sondern so unmittelbar erfahrbar sein, dass es einleuchtet. Überzeugend ist, was am eigenen Leib erfahren werden kann. Pilger sagen »ich habe das erlaufen«. Mit allen Sinnen wird wahrgenommen, mit dem ganzen Körper gehandelt und leiblich-intuitiv beglaubigt. Wir Menschen lernen von außen nach innen, wir sind nicht nur Geist, sondern auch Körper; was wir erlaufen haben, kann im Herzen Wurzeln schlagen.

Wenn Menschen sagen, sie suchen Spiritualität, dann sind wir dicht an dem, was Pilgern ausmacht. Spiritualität ist das existenzielle Sich-Gründen in einem Ganzen. Sie ist »Suche nach Sinn, der sinnlich zu erfahren ist, in der Tiefe der Seele zu fühlen« (Wilhelm Gräb).

Pilgern steht an der Grenze von Religion und Nicht-Religion. Die meisten Pilger wissen selbst nicht recht, ob sie eine religiöse Absicht haben. Das hört sich bei Kerkeling so an: »Anscheinend weiß ich ja nicht einmal so genau, wer ich selbst bin. Wie soll ich da herausfinden, wer Gott ist? Also fange ich erst einmal bei mir an und suche danach, wer ich bin.« Und dann kommt unvermutet doch Gott ins Spiel. Das ist typisch für viele moderne Formen des Religiösen. Therapieformen, Ritualarbeit, östliche Körpertechniken – ist das Arbeit am eigenen Selbst oder Religion? Diese so genannte Diffusion des Religiösen, die die Grenzen verschwimmen lässt, macht es manchen Menschen leichter, sich darauf einzulassen: Man kann sich ans Pilgern machen, weil es gesund ist oder einen guten Abenteuerfaktor hat. Und wenn sich dann auch noch was Religiöses ergibt – umso besser.

Kirche kann das als Chance sehen, ihre eigenen Schätze ins Spiel zu bringen – wenn sie an die Erfahrungen der Pilger anknüpft; wenn Kirche dafür ausdrucksstarke Symbole anbietet; wenn die Erfahrungen so transparent werden für Gott. Wie wir eingangs gesehen haben, ist die Bibel voller Geschichten zum Unterwegssein. Gut, wenn an ihnen die bewegenden Eindrücke der Pilger reifen können.

Kirche kann Gastgeber werden. Die EKD hat in ihrem Positionspapier zum Tourismus2 den Begriff der Oase stark gemacht. Eine Oase hält die Menschen nicht fest, bindet nicht. Menschen kommen und gehen. Hoffentlich gehen sie mit einer guten Erinnerung und gestärkt weiter – vorübergehend Kirche. Kirche gibt mit, was sie hat: ein gutes Wort, ein hilfreiches Gebet, einen Segen, die Erinnerung an einen atmosphärisch dichten Raum. Wie Kirche das im Einzelnen umsetzen kann? Liturgische Materialien entwickeln3, Pilgerbegleiter ausbilden, spezielle Zielgruppen wie Männer oder Familien ansprechen, Pilgern mit Pfarrkonventen zur Anregung des geistlichen Lebens der Pfarrer, das breite Spektrum vom kurzen Besinnungsweg bis zum Langstreckenweg, Kirchen öffnen und erschließen, Gastgeber werden – Möglichkeiten gibt es genug für die Kirchen, und viel lässt sich von den Erfahrungen anderer Landeskirchen profitieren.

Zwei berühmte Deutsche haben sich zum Thema Pilgern geäußert. Mit dem einen – Martin Luther – bin ich eingestiegen. Mit dem anderen möchte ich schließen: HaPe Kerkeling beendet seinen Reisebericht mit einem Bekenntnis: »Wenn ich meine Pilgerwanderung Revue passieren lasse, hat mich Gott auf dem Weg andauernd in die Luft geworfen und wieder aufgefangen. Seine Botschaft an mich war: Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet dein Fänger sein. Wir sind uns jeden Tag begegnet.«

Pilgern lässt uns Vertrauen in Gott am ganzen Leib erfahren. Motivieren wir Pilger dazu, öffnen wir unsere Kirchen, seien wir gute Gastgeber, bringen wir unsere Bilder und Geschichten ins Gespräch, gehen wir selbst auf den Weg, wachsen wir gemeinsam mit den Pilgern. Pilgern, so glaube ich, bietet uns als Kirche große Chancen.

Anmerkungen:

1 Vortrag auf der Landessynode der Ev.-luth. Landeskirche in Bayern in Rosenheim am 22.11.2011.
2 EKD-Texte 82: Fern der Heimat: Kirche. Urlaubs­seel­sorge im Wandel; http://www.ekd.de/download/ekd_texte_82.pdf.
3 Detlef Lienau/Esther Zeiher: Hoffnungsspuren. Materialheft für Pilgerinitiativen (zu bestellen unter [email protected]).

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer Detlef Lienau, Forschungsprojekt zur religiösen Erfahrung von Pilgern, Leiter von Pilgerwanderungen und Mitglied der Kommunität Beuggen in Rheinfelden/Baden; Veröffentlichung: »Sich fremd gehen. Warum Menschen pilgern« (Ostfildern 2009, ISBN 978-3-7867-2757-6).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 6/2012

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