Michael Hanekes preisgekrönter Film »Das weiße Band« nimmt die Verhältnisse in einem fiktiven norddeutschen Dorf kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs ins Visier. Dem evangelischen Pfarrhaus schenkt Haneke dabei besondere Beachtung; an seinem Beispiel möchte er zeigen, wohin die Verabsolutierung einer Religion oder Ideologie führt, nämlich zur Unmenschlichkeit. Gunther Schendel analysiert das Bild, das der Film vom evangelischen Pfarrhaus zeichnet, und fragt danach, ob sich dieses Bild kirchengeschichtlich verifizieren lässt.

1.  Das Pfarrhaus im Film »Das Weiße Band«

Das Pfarrhaus ist nach Haneke ein gutbürgerlicher Haushalt. Der Pfarrer und seine Frau leben mit ihren sechs Kindern in einem geräumigen Haus. Das Wohnzimmer ist mit gediegenen Möbeln ausgestattet, an der Wand hängen Bilder, auf dem Wohnzimmerschrank steht eine Schrankuhr und Keramik. Zum Bild eines gutbürgerlichen Haushalts passt auch, dass mindestens eines der Kinder beim Dorfschullehrer Klavierunterricht erhält. Einen eindeutig bildungsbürgerlichen Einschlag erhält das Pfarrhaus dadurch, dass der Pfarrer ein eigenes Amtszimmer mit Schreibtisch und gut bestückter Bücherwand hat. Damit wird deutlich: Neben dem Arzt ist der Pfarrer der einzige Dorfbewohner mit Universitätsstudium.

In diesem bildungsbürgerlichen Rahmen des Pfarrhauses herrscht ein autoritäres Klima, das sich immer wieder in der strengen Bestrafung der Kinder niederschlägt. Aber auch jenseits der Bestrafung ist das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern von Distanz geprägt. Die Kinder müssen die Eltern siezen und reden den Vater mit »Herr Vater« an; vor dem Zubettgehen verabschieden sie sich von ihren Eltern mit Handkuss. Auch das Verhältnis zwischen den Eltern ist nach außen hin distanziert; in Erziehungsfragen hat der Vater die Entscheidung.

Damit beansprucht der Pfarrer zuhause dieselbe Rolle wie im Dorf – als »geistlicher Führer«. Das Erziehungsziel, das er mit seinem Konfirmandenunterricht verfolgt, verfolgt er mehr oder weniger ausgesprochen auch mit seiner häuslichen Erziehung: »Seit Monaten bemühe ich mich, Euch Gottes Wort nahezubringen und Euch in seinem Geiste zu verantwortungsvollen Menschen zu formen.«

Was der Pfarrer unter Verantwortung versteht, wird in mehreren Szenen des Films deutlich. »Verantwortung« ist zunächst die Verpflichtung, eine selbst gewählte Aufgabe bis zum Schluss zu erfüllen und für ein anderes Wesen da zu sein; so versteht der Pfarrer diesen Begriff, als sein Sohn Gustav einen verletzten Vogel pflegen will. Vorherrschend ist aber ein anderer Verantwortungsbegriff: Er wird deutlich, wenn er in anderen Szenen der Verantwortung ein Verhalten »ohne jede Disziplin und Menschenwürde« entgegensetzt oder von seinen Kindern »Sitte und Anstand« erwartet. Die Aufgabe ist, sich in die bestehende Ordnung einzupassen und so z.B. den Eltern oder dem Lehrer zu gehorchen.

Als störend empfindet der Pfarrer darum alle Impulse, die diesem Ziel zuwiderlaufen. Wenn er an einer Stelle vor »Sünde«, »Selbstsucht«, »Neid«, »Unkeuschheit«, »Lüge« und »Faulheit« warnt, dann wird hier ein sehr negatives Bild des Menschen gezeichnet: Der Pfarrer geht davon aus, dass die spontanen Impulse und Gefühle von Kindesbeinen an bekämpft werden müssen und dass darum die Erziehung v.a. Formung bedeutet. Am deutlichsten wird dies, als er seinem Sohn Martin sexuelle Selbstbefriedigung unterstellt und ihn davor warnt, sich da zu schaden, »wo das Gebot Gottes heilige Schranken errichtet hat«.

Dieses Zitat zeigt: An der christlichen Religion sieht der Pfarrer das einschränkende Gesetz, weniger das freimachende Evangelium. Dazu passt es, dass sowohl in der Dorfkirche als auch im Amtszimmer ein großes schwarzes Kreuz hängt – ohne das Bild des gekreuzigten Christus. Das Christentum ist hier weniger eine Einladung zur persönlichen Gottesbegegnung als eine Religion der Beschränkung und der Entsagung: Genauso schwarz wie das Kreuz ist die Amtskleidung, die der Pfarrer auch zuhause trägt, und die Kleidung der Pfarrfrau. Auch der Gesichtsausdruck der beiden ist meistens kontrolliert, unpersönlich, ohne einen Anflug von Lächeln. Beide scheinen unter einem erheblichen inneren Druck zu stehen, der wohl auch mit ihren strengen Normen zu tun hat. Die Liebe zu seinen Kindern, von der der Pfarrer durchaus spricht, besteht dann im Beharren auf diesen Normen, weil nur in ihren Grenzen ein Leben möglicht scheint.

Angesichts der Bedrohung, die in seinem Denken die »Sünde« darstellt, ist »Unschuld und Reinheit« ein wichtiges Anliegen. Dem sollen auch die strengen Strafen dienen, die der Pfarrer bzw. seine Frau über die Kinder verhängen: Das »weiße Band«, schon bei den kleinen Kindern eine Erinnerung an »Unschuld und Reinheit«, wird Klara und Martin noch einmal umgebunden, als sie zu spät zum Abendessen kommen. Auch die verhängte Prügelstrafe wird vom Pfarrer als Reinigungsakt dargestellt (»wenn Ihr durch die Züchtigung gereinigt sein werdet«). Und als Martin ans Bett gefesselt wird, um ihn an der Selbstbefriedigung zu hindern, wird ihm dies als Schutz vor »den Versuchungen deines jungen Leibes« erklärt.

Von der Grausamkeit dieser Strafen ist nicht die Rede. Stattdessen möchten die Eltern (durch z.T. suggestive Fragen) das Einverständnis der Bestraften gewinnen; außerdem stellt der Pfarrer nicht die Kinder, sondern die Eltern als die eigentlich Betroffenen dar: »Eure Mutter und ich werden heute eine schlechte Nacht haben, weil wir wissen, dass wir euch morgen wehtun müssen, und weil uns das mehr schmerzen wird als euch die Schläge.« Die Schläge werden hier nicht als willkürliche Strafe, sondern als eine notwendige Erziehungsmaßnahme dargestellt; den Bestraften wird zugemutet, mit den strafenden Eltern noch Mitleid zu haben.

Als Strafmittel missbraucht der Pfarrer schließlich auch die Feier des Abendmahls, als er seiner ältesten Tochter bei der Konfirmation sekundenlang den Kelch vorenthält. Als Möglichkeit der Sündenvergebung spielt das Abendmahl für den Pfarrer eigentlich eine große Rolle. Nicht umsonst hängt das Bild eines Abendmahlskelchs in seinem Amtszimmer, und außerdem hat er die Vorbereitungszeit zum Abendmahl seiner Tochter gegenüber als »Zeit des Glücks und der Bereicherung« bezeichnet. Dass er ihr den Kelch der Vergebung zunächst vorenthält, hängt mit der Vorbildfunktion zusammen, die er von ihr erwartet. Als »Tochter des geistlichen Führers« erwartet er von ihr ein besonderes »Verantwortungsgefühl«. Diese erwartete Vorbildfunktion macht noch einmal deutlich, wieweit der Beruf des Vaters in die Familie hineinreicht: Er ist nicht nur Vater, sondern immer auch Pfarrer. Und seine Kinder sind nicht nur Kinder, sondern sie sollen immer auch vorbildliche Kinder sein. Neben den strikten Normen ist es diese Vorbildfunktion, die zur überaus strengen Erziehung im Pfarrhaus führt.

Auf die Erziehung reagieren die Kinder mit Anpassung (bei der ältesten Tochter geht das bis zur Karikatur), aber auch mit der Flucht in Aggression gegen sich oder andere. Am Tag nach der Verhängung der Prügelstrafe balanciert der Pfarrerssohn Martin auf dem Brückengeländer und kommentiert dies nachher mit den Worten: »Ich habe Gott die Gelegenheit gegeben, mich zu töten; er hat es nicht getan. Also ist er zufrieden mit mir.« Klara, die älteste Pfarrerstochter, schleicht sich nach ihrer öffentlichen Bloßstellung durch den Vater (bei der sie in Ohnmacht fällt) heimlich in das Amtszimmer und ersticht den väterlichen Käfigvogel. Dabei ist es ein besonderes Symbol, dass sie diesen Vogel auf einer Schere »kreuzigt« und das Tier so auf dem Schreibtisch hinterlässt. Die Tochter benutzt hier das Kreuzeszeichen aus der Religion ihres Vaters, um sich an ihm zu rächen. Klara ist auch die Anführerin der Kinderbande, die für die Unfälle und Gewalttaten im Dorf verantwortlich ist. Jedenfalls legt der Film die Vermutung, dass die Kinder hinter diesen Vorfällen stehen, nahe.

Als der Lehrer diese Vermutung dem Pfarrer gegenüber äußert, stößt er auf heftigen Widerstand, der aus zweierlei Gründen bezeichnend ist: Zum einen zeigt er, wie sehr dem Pfarrer der Ruf der »unbescholtene[n] Familien« und damit auch das Ansehen seiner eigenen Familie am Herzen liegt. Zum anderen wird hier aber auch deutlich, dass der Pfarrer an den Folgen der eigenen Erziehung vorbeisieht bzw. vorbeisehen will. Als »Seelsorger« meint er über die »Sünde« Bescheid zu wissen. Aber seine Vorstellungen von der »Sünde« haben mit dem wirklichen Treiben (und der wirklichen Not) der Kinder nur wenig zu tun. Genauso wenig kann er mit seinen religiös unterlegten Vorstellungen von »Unschuld und Reinheit« den Kindern weiterhelfen. Sie gehen an dem, was die Kinder für ihre Entwicklung nötig hätten, weit vorbei. Stattdessen kommt es zu tiefen Beschädigungen, die über das Pfarrhaus hinauswirken. Der Pfarrer wünscht sich das Pfarrhaus als Vorbild; mit seiner Art der Erziehung sorgt er für das glatte Gegenteil.

2.  Das Pfarrhaus in kirchen­geschichtlicher Perspektive

Das evangelische Pfarrhaus entwickelte sich in den Jahrzehnten und Jahrhunderten nach der Reformation bis ins 20. Jh. hinein zu einer ganz eigenen Lebensform, die ein bestimmtes Bild der Kirche bis fast in das letzte Dorf brachte. Vom Haus »neben der Kirche« wurde eine klare Vorbildfunktion erwartet:

– Hier sollte vorbildlich der christliche Glaube gelebt werden.

– Hier sollte in Haus, Garten und auf dem Feld vorbildlich gewirtschaftet werden (bis ins 19. Jh. waren viele Pfarrhäuser zum Lebensunterhalt mit einem Pfarrhof verbunden).

– Hier sollten die Kinder vorbildlich erzogen werden.

2.1 »Vorbildliches« Leben im Pfarrhaus

In einem verbreiteten Buch über das Pfarramt schrieb der preußische Generalsuperintendent Büchsel 1861: »Das Pfarrhaus ist das Siegel auf die Predigt oder es ist die praktische Verkündigung des Evan­ge­li­ums«.1 Eine solche Feststellung zeigt den hohen Erwartungsdruck, der auf dem Pfarrhaus lag: Wort und Tat sollten beim Pastor und seiner Familie möglichst nicht auseinander klaffen. Vorbildlich sollte nicht nur das Miteinander im Pfarrhaus sein, sondern auch das bewusste Leben aus dem Glauben: »In jedem Pfarrhaus soll durch Hausandacht, Besuch des Gottesdienstes und Rücksicht auf ein vorbildliches Leben eine gute soziale Frucht reifen«, schrieb ein anderer Theologe 18812. Haneke hat die Prägung des Alltags durch die tägliche Hausandacht und das regelmäßige Tischgebet in seinem Film nicht dargestellt. Hier nahm der Pastor jedoch als »Hausvater« die Rolle ein, die seiner Autorität in der Familie zugrunde lag – und die nach lutherischer Tradition eigentlich die Aufgabe jedes Vaters war: »Ein Vater soll ein Bischof und Pfarrer seines Hauses sein.«3

Das Pfarrhaus war damit patriarchalisch geprägt; der Pastor war unbestritten der Herr des Hauses. Diese patriarchalische Prägung entsprach bis ins 20. Jh. hinein der gesellschaftlichen Normalität, wurde aber durch die Bibel und ihr patriarchales Gesellschaftsbild noch einmal bestätigt und in eine bestimmte Richtung gelenkt. Gefordert war eine Haltung der Harmonie, die unter den besonderen Bedingungen des Pfarrhauses aber auch zur Harmonisierung und zur Verschleierung der Machtverhältnisse führen konnte. So schreibt ein Historiker: »Da das Pfarrhaus eine ›Wohnung des Friedens‹ sein musste, wurde die Struktur der häuslichen Gewaltverhältnisse hier für die Kinder nie so sichtbar wie in anderen Familien, wurde die Pfarrmutter zum Inbegriff christlicher Demut, der Vater zum – auch für sie – nicht hinterfragbaren Herrn des Hauses«4.

Allerdings gab es im 19. Jh. auch Ansätze zu einer Veränderung, und zwar durch die Romantik: Im Bürgertum entstand das Ideal der romantischen Liebe: »Die Beziehungen zwischen Mann und Frau wurden enger, die Ehen intimer. Die Rollenfixierungen und strengen Formen der Arbeitsteilung lockerten sich«5. Das Paar in Hanekes Film ist von einer solchen Nähe und Lebensbejahung allerdings weit entfernt. Hier herrscht eine Distanz und Strenge, die wohl die ganze Strenge der traditionellen Erbsündenlehre auf den Punkt bringen soll. An diese Strenge erinnerten im 19. Jh. die Vertreter der konservativen Erweckungsfrömmigkeit und des Neuluthertums. Allerdings lässt sich der Pfarrer in Hanekes Film nicht eindeutig als Anhänger dieser theologischen Richtung identifizieren; schließlich ging es dem Regisseur ja nicht um die negativen Folgen einer bestimmten Theologie, sondern um den Hinweis darauf, wohin es führt, wenn »jemand ein Prinzip, eine Ideologie oder eine Religion verabsolutiert«6.

2.2 Vorbildliche Erziehung

Vorbildlich sollte das Pfarrhaus auch in der Erziehung der Kinder sein. Büchsel schrieb: »Die Erziehung der Kinder ist auch eine Aufgabe, die der Pastor und seine Frau besonders ernstlich ansehen müssen. Es ist ein gar böses Ding, wenn des Predigers Söhne die wildesten und ungezogensten sind im ganzen Dorfe, und des Predigers Töchter putzsüchtig und hochmüthig einhergehen und den Leuten allerlei Veranlassung zu Erzählungen von ihrer Hoffart und Leichtfertigkeit geben. Das Wort Gottes fordert von den Kindern, dass sie den Eltern gehorsam sein sollen, aber von dem Pastor heißt es noch besonders, er habe gehorsame Kinder.«7 Damit wurde der Gehorsam der Kinder als ein wesentliches Erziehungsziel festgeschrieben; bei dieser Forderung bezog sich der Autor auf zwei Bibelstellen aus der »Haustafel« des Kleinen Katechismus (Eph. 6,1; 1. Tim. 3,4).

Dieser Gehorsam war nicht zweckfrei gedacht, sondern sollte einem disziplinierten und sozial angepassten Verhalten dienen. Faktisch konnten Pastorenkinder damit in eine Vorbildfunktion geraten. So formuliert ein Spross einer Pastorendynastie, wenn auch sehr pauschal: »Die Pastorenkinder spielten im Ort eine wichtige Rolle. Sie mussten Vorbild sein. Das ganze Dorf blickte auf sie, wobei die berechtigte Frage nach dem gelebten Glauben bestimmend war.«8

Die Erziehung im Pfarrhaus war durch die Verbindung von christlichem Glauben und Bildung geprägt. Die Pastoren waren oft die einzigen Akademiker im Dorf, und im 19. Jh. entwickelte sich das evangelische Pfarrhaus dann zum »Prototyp des bildungsbürgerlichen Hauses«9 – ein wenig davon klingt ja auch in Hanekes Film an. So konnten und wollten die Pastoren ihren Kindern in der Regel eine hervorragende Bildung vermitteln. Das galt jedenfalls für die Jungen. Zentraler Bildungsinhalt waren natürlich die Themen des christlichen Glaubens, und so gingen viele Pastorensöhne selber wieder ins Pfarramt. Dies war von vielen Eltern durchaus erwünscht, und wenn die Kinder nicht Theologie studierten, dann sollten sie als Akademikerkinder ein anderes Studium aufnehmen. Damit standen die Kinder oft unter einem »enorme[n] Leistungsdruck«10.

Ein anderer potentieller Konfliktpunkt war die Auseinandersetzung mit der religiösen Prägung des Pfarrhauses, die fraglos und alternativlos vorgegeben war. Mitunter gab es bei den Kindern eine »Reaktion gegen zu engen und strengen Geist und gelegentliche religiöse Überfütterung«11. Nicht umsonst schrieb Büchsel: »Dass ein Pastor bekehrte und gläubige Kinder habe, ist nicht gefordert […]. Es ist gewiss eine Verirrung des krankhaften Pietismus, wenn er den Kindern Formen und Worte aufzwingen will, die ihnen den Schein der Gottseligkeit geben […].«12

2.3  Das Erziehungsziel: »von der Sünde wegziehen und zu Christo hinziehen«

Ein zentrales Thema in Hanekes Film sind die Erziehungsmethoden und das dahinter stehende Menschenbild. Darum ist es interessant, wie diese Themen in der Pfarrhausliteratur und in Erziehungsbüchern beschrieben werden. Auch hier sind die Ausführungen Büchsels aufschlussreich. Für ihn ist Erziehung nicht in erster Linie die Vorbereitung für »die künftige bürgerliche Stellung«13, sondern eine religiöse Aufgabe: »Erziehen soll heißen von der Sünde wegziehen und zu Christo hinziehen, und die beste Bildung ist die, welche darauf hinausgeht, das verloren gegangene Ebenbild Gottes wiederherzustellen«14. Wie bei Hanekes Pfarrer steht auch hier die Vorstellung von der grundlegenden Sündigkeit des Menschen im Vordergrund. Wenn das Gottesverhältnis des Menschen von Geburt an grundlegend gestört ist und der Wiederherstellung bedarf, so ist es verständlich, dass in der Erziehung der religiöse Aspekt vorherrscht. Eigentliches Erziehungsziel ist die »Furcht vor dem lebendigen Gott und die Liebe zu dem Herrn«; Gott sollte als Kontrollinstanz und Schutzfaktor verinnerlicht werden, damit heranwachsenden Kinder »auch da, wo des Vaters Auge sie nicht sieht, wissen, dass Gottes Auge sie sieht, und dass, wo des Vaters Hand sie nicht schützen und halten kann, der Herr ihnen nahe ist«15. An diese Verinnerlichung der väterlichen Kontrollinstanz erinnert im Film das Verhalten von Martin, der sich bei seinem riskanten Gang über die Brücke dem Gericht Gottes überlässt.

2.4  Erziehungsmethoden mit und ohne »Rute«

Die skizzierte Erziehungsvorstellung musste nicht zwangsläufig den Einsatz körperlicher Züchtigung bedeuten, die in den älteren christlichen Erziehungslehren des 16. bis 18. Jh. aber noch ganz selbstverständlich empfohlen wird. Hier wird vom »Hausvater« die Verbindung von Liebe und Strenge erwartet: Die »Rute« soll den bösen Eigenwillen des Kindes brechen und damit den Einfluss des Teufels schwächen16. Allerdings findet sich in diesen Erziehungslehren auch die Warnung vor übertriebener Härte, die die Kinder nur »scheu« macht und »verbittert«17. Darum wird den Eltern ein kontrolliertes, »kühle[s] Strafen« empfohlen18; außerdem soll das Kind überzeugt werden, »dass es seine Strafe zu recht bekommt«19. Auch für diese Erziehungsratschläge wurden biblische Belegstellen herangezogen, die das Strafhandeln Gottes als Ausdruck seiner Liebe interpretieren (Hebr. 12,6), aber auch dazu auffordern, die Kinder nicht zu erbittern (Eph. 6,4 und Kol. 3,21). Wenn der Pfarrer in Hanekes Film betont, dass seine Frau und ihn das Bestrafen mehr schmerzen wird als die Kinder, so hat das eine fast wörtliche Entsprechung in einer viel gelesenen Predigt über Erziehung aus dem 19. Jh. (das Strafen »thut ihnen [den Eltern] weher als dem Kinde, welches Schläge bekommt«20).

Die älteren Erziehungslehren wirkten weit in das 19. Jh. hinein. Ein prominenter Vertreter der Erweckungsbewegung sprach sich noch nach 1850 für eine harte Zucht der Kinder aus; Prügel würden die Kinder keineswegs erbittern und gegen ihre Eltern aufbringen: »Nein, ich sage euch, wenn sie Schläge kriegen, sind sie nachher umso zärtlicher, und wenn sie noch nicht ganz vom Teufel besessen sind, kommen sie nachher und fallen Vater und Mutter um den Hals und bitten um Vergebung«.21 Allerdings gab es im 19. Jh. auch schon andere Vorstellungen. So bezeichnete Friedrich Schleiermacher die »Gewalt« in der Erziehung als »gefährliche[n] Weg«: »Wie wenig durch Gewalt auf Menschen gewirkt werden kann, das sehen wir genugsam in anderen menschlichen Verhältnissen …«.22 Nach Schleiermacher soll die Gewalt nur dem Selbstschutz dienen; um das Innere des Menschen zu erreichen, seien allein »Vernunft und Liebe« hilfreich.23 In der Orientierung an »Vernunft und Liebe« werden Akzente sichtbar, die dann zu Beginn des 20. Jh. auch in der Reformpädagogik und ihrem Denken »vom Kinde aus«24 Eingang fanden.

Diese verschiedenen Erziehungskonzepte schlugen sich auch im Erziehungsalltag der Pfarrhäuser nieder. Darum darf man die Zustände in den Pfarrhäusern nicht über einen Kamm scheren. In aufgeklärten bzw. liberalen Pfarrfamilien wurde anders erzogen als in Pfarrfamilien, die durch den Pietismus oder durch die Erweckungsbewegung geprägt waren.25 Außerdem darf der Einfluss der Militärbegeisterung nicht unterschätzt werden, die während des deutschen Kaiserreiches 1871-1918 auch in Pfarrhäusern eine große Rolle spielen konnte (und die von Haneke in seinem Film wohl aus dramaturgischen Gründen weitestgehend ausgeklammert wird – das Militärische bringt ja dann erst mit dem Beginn des 1. Weltkriegs eine zweifelhafte Befreiung aus den Gewaltverhältnissen im Dorf). Die Unterschiede in der Erziehung werden auch deutlich, wenn im Folgenden einige Pastorenkinder und ihre Äußerungen über das elterliche Pfarrhaus vorgestellt werden. Sie sind alle während des deutschen Kaiserreichs geboren, in dem ja auch Haneke seine Filmhandlung spielen lässt.

3.  Pastorenkinder und ihr ­Verhältnis zum elterlichen ­Pfarrhaus – vier Fallbeispiele

3.1  Der Heimatschriftsteller Diedrich Speckmann (1872–1938)

Speckmann wurde 1872 als erster Sohn des Missionsinspektors Friedrich Speckmann und seiner Frau Meta in Hermannsburg geboren. Er wuchs in Hermannsburg und zwei anderen Orten der Lüneburger Heide auf, in denen sein Vater als Gemeindepastor wirkte. Diedrich Speckmann wurde ebenfalls Pastor, ließ sich aber im Alter von 40 Jahren von seinen pfarramtlichen Aufgaben entbinden. Der Grund waren gesundheitliche Beschwerden, aber auch der Wunsch, sich ganz seiner schriftstellerischen Tätigkeit widmen zu können. Speckmann veröffentlichte zahlreiche Heideromane. 1933 unterzeichnete er mit zahlreichen anderen Autoren das »Gelöbnis treuester Gefolgschaft« für Adolf Hitler.

Speckmann erlebte nach eigenen Worten eine »glückliche Jugend«.26 Das Pfarrhaus bot viel Raum »zur Entfaltung«, den Pfarrhof empfand er als »Tummelplatz«,27 und besonders stark ist der Eindruck der Landschaft, die sein Vater zusammen mit den Kindern auf ausgedehnten »Spaziergänge[n]« erkundet.28 Allerdings hat die Kindheit im Pfarrhaus auch andere Seiten. Eine einschneidende Erfahrung ist die empfindliche Tracht Prügel, die Diedrich als Anderthalbjähriger von seinem Vater bekam. Nach Aussage des Vaters, einem Anhänger der Erweckungsbewegung, sollte mit dieser Züchtigung der »Eigensinn« des Sohns gebrochen werden,29 der sich in »fortgesetzte[m] nächtliche[n] Brüllen« manifestierte. Der Sohn bescheinigte dieser Strafe rückblickend, sie habe »prächtig gewirkt, und nicht nur für eine Nacht.«30 Damit übernahm er die Interpretation seines Vaters.

Problematisch war auch der strenge Unterricht, den der Vater seinen Kindern im Pfarrhaus erteilte. Als Landpastor konnte er die Kinder nicht aufs entfernte und teure Gymnasium schicken, außerdem wollte er die Kinder noch länger unter dem »Einfluss des frommen Elternhauses« halten.31 Den heimischen Sprachenunterricht hat der Sohn später als »Tragik« empfunden: Hier wurde der »Vater, der seine Kinder zärtlich liebte« und förderte, »zum Peiniger«.32 In seinen Lebenserinnerungen hat der Vater diesen Unterricht und die Überforderung der Kinder übrigens aufs Tiefste bedauert.33

3.2  Der Arzt und Dichter Gottfried Benn (1886-1956)

Benn wuchs in brandenburgischen Pfarrhäusern auf. Erst begann er auf Wunsch seines Vaters, der selber Pastorensohn war, ein Studium der Theologie. Dann konnte er schließlich doch Medizin studieren und praktizierte jahrzehntelang als Arzt. Zugleich reüssierte er als Autor expressionistischer Lyrik. 1932 wurde er in die Preußische Akademie der Künste berufen, 1951 erhielt er den Georg-Büchner-Preis. Sein Verhältnis zum Nationalsozialismus war vielschichtig: Einerseits stand sein Name unter dem bereits erwähnten »Gelöbnis treuester Gefolgschaft« für Adolf Hitler; andererseits entwickelte er zum NS-Staat bald eine gewisse innere Distanz. 1938 wurde er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und erhielt Schreibverbot.

Nach Benns Worten »durchdrang das Religiöse [s]eine Jugend ganz ausschließlich«, und so war die Prägung durch die religiöse Atmosphäre des Pfarrhauses, besonders aber die Auseinandersetzung mit dem Vater, eines seiner Lebensthemen. Den Vater empfand er als starke »Persönlichkeit«: »heroisch in der Lehre, heroisch wie ein Prophet des Alten Testaments, von großer individueller Macht«34. Diese Stärke hatte für den Sohn zwei Seiten: Einerseits war der Vater für ihn »ein großer Zelot (= Eiferer) u. Fanatiker«, auf der anderen Seite empfand er die »Stärke« seines Vaters auch als beeindruckend: »Es ging eine Stärke aus, wie ich sie nie wieder an irgendeinem Menschen erlebt habe; wenn er neben Ihnen stand, konnten Ihnen nichts passieren u. Sie konnten nicht sterben«35.

Die Stärke des Vaters war dafür verantwortlich, dass Benn ohne innere Neigung ein Theologiestudium begann. Zum kurzzeitigen Bruch zwischen Vater und Sohn kommt es, als Benns Mutter schwer an Krebs erkrankt und der Sohn – inzwischen Mediziner – eine Behandlung mit Schmerzmitteln empfiehlt. Der Vater lehnt die Behandlung mit dem religiösen Hinweis ab, dass der Schmerz gottgewollt sei. Hier scheint die Seite auf, die Benn zu der Kennzeichnung seines Vaters als »großer Zelot u. Fanatiker« veranlasste. Nach dem Krebstod seiner Mutter verarbeitete Benn diese Erfahrung in dem Gedicht »Pastorensohn«, in dem er seinen Vater verfluchte und ihm indirekt die Kastration wünschte.

Trotz des Konflikts mit seinem Vater sah Benn jedoch auch die Prägung, die er der geistigen »Atmosphäre« des Pfarrhauses verdankte.36 Obwohl sein Vater »gänzlich unintellektuell« war,37 sprach Benn vom »Erbmilieu d. protestantischen Pfarrhauses«, das für ihn in der »Kombination von denkerischer und dichterischer Begabung« bestand.38 Und obwohl er sich »früh […] von der Lehre der [christlichen] Glaubensgemeinschaft entfernte« und der ›fanatischen‹ Seite seines Vaters kritisch gegenüberstand, sah er sich noch als Künstler durch den »Fanatismus zur Transzendenz« geprägt. Darunter verstand die Haltung der Kunst, »jeden Materialismus historischer oder psychologischer Art als unzulänglich für die Erfassung des Lebens abzulehnen.«39

3.3  Der Theologe Wolfgang Trillhaas (1903-1995)

Trillhaas wurde 1903 in Nürnberg geboren; er war das Kind eines bayrischen Militärpfarrers und der Absolventin eines Lehrerinnenseminars. Als der junge Trillhaas 17 Jahre alt war, wurde der Vater Pastor einer Zivilgemeinde; zuvor hatte die Familie nicht in einem klassischen Pfarrhaus, sondern einem Mietshaus gewohnt. Nach seinem Philosophie- und Theologiestudium wurde Trillhaas Gemeindepfarrer, schlug aber schließlich eine akademische Laufbahn ein: Nach Promotionen in Philosophie und Theologie wurde er nach dem 2. Weltkrieg Professor der Theologie, nachdem während der NS-Zeit eine Berufung auf einen Lehrstuhl zurückgezogen worden war; er hatte sich kritisch über NS-treue Theologen geäußert.

Anders als Speckmann hat Trillhaas seine Kindheit ausdrücklich nicht als »besonnte Vergangenheit« geschildert.40 Während er an seiner Mutter die »freilassende Liebe« schätzte,41 hat er seinen Vater als durchaus zwiespältig erlebt. Sein Vater war ein liberaler Theologe, »eine mächtige Gestalt, ein von Gerechtigkeitsliebe und Ehrgefühl erfüllter, absolut unklerikaler Mann. Er war ein Familienvater, wie er nur sein konnte, als originales Vorbild auf Herrschaft im Leben der Kinder und Kindeskinder von Natur aus angelegt«.42

Obwohl er seine Fähigkeiten bewunderte, empfand Trillhaas den Vater auch als »drückende Gestalt«. »Sein Ideal von männlichen Tugenden konnte sich wie ein Alptraum auf den Knaben legen: Mutproben bestehen, über seine Ehre wachen, Gerechtigkeit und Vaterlandsliebe.«43 Durch diese Männlichkeitsvorstellung, die sich beim Vater mit »Soldatenliebe« und »Bismarck-Nationalismus« verband,44 fühlte sich der Sohn überfordert. Dazu kamen auch überzogene Erwartungen an seine Schulleistungen, die beim jungen Trillhaas zu »nachhaltige[n] Insuffizienzgefühlen« führten.45 Respekt konnte er sich erst durch akademischen Titel erwerben.46 Während er sich damit noch in der Wertewelt seines Vaters bewegte, distanzierte sich er sich vom nationalistisch und militaristisch geprägten Männlichkeitsideal, das sein Vater vertrat: Der väterlichen Studentenverbindung trat er nicht bei.47

3.4  Der nationalsozialistische Agitator und Straßenkämpfer Horst Wessel (1907-1930)

Wessel kam 1907 in Bielefeld als ältestes Kind von Dr. Ludwig Wessel und seiner Ehefrau Margarete (einer Pastorentochter) zur Welt. Sein Vater, damals Pastor in Bielefeld, stieg in der Folgezeit zum Pfarrer an einer zentralen Berliner Innenstadtkirche und schließlich sogar zum Geheimen Oberkonsistorialrat auf. Er verstarb 1922, als sein Sohn Horst 15 Jahre alt war. Wessel begann ein Jurastudium, das er aber 1929 endgültig abbrach; danach finanzierte er sich durch Gelegenheitsarbeiten und die Unterstützung der Familie. Schon als Gymnasiast hatte er sich in rechten Jugendorganisationen engagiert. Sein Engagement war durch eine rasche Radikalisierung und das Drängen auf gewaltsame Aktion gekennzeichnet. 1926 stieß er zu den Nationalsozialisten und machte hier »Karriere«: Er galt als »politischer Nachwuchsfunktionär, der über direkte Kontakte zu Goebbels verfügte«.48 1929 wurde er SA-Sturmführer und organisierte den Straßenkampf in einem Berliner Arbeiterstadtteil; bereits 1928 wurde gegen ihn wegen gemeinschaftlich begangenen Landfriedensbruchs ermittelt. Außerdem trat er in Berlin als Propagandaredner auf. 1930 starb er an den Folgen einer Schussverletzung, die ihm ein KPD-Mitglied in seiner Wohnung beigebracht hatte.

Beim Weg »vom Pastorensohn zum SA-Schläger«49 spielte der Vater eine wichtige Rolle. So »wurden die politischen Ansichten des Heranwachsenden maßgeblich von diesem bestimmt«:50 Der Vater, im 1. Weltkrieg zunächst als Militärprediger und dann als »vaterländischer Agitator« im Einsatz,51 »machte seinen ältesten Sohn Horst von Kindestagen an mit nationalistischen Grundüberzeugungen und völkischen Parolen bekannt«;52 im 1. Weltkrieg vertrat er einen »rassisch grundierte[n], aggressiven Pangermanismus«.53 Damit lernte der Pastorensohn früh ein politisches Weltbild kennen, das für den späteren Nationalsozialismus offen war. Spuren des väterlichen Nationalprotestantismus, in dem sich Christentum und völkischer Nationalismus verbanden, finden sich auch noch in Wessels Kampflied »Die Fahne hoch«, wenn auch in säkularisierter Form: Statt des christlichen Kreuzes ist hier das »Hakenkreuz« das Hoffnungszeichen.

Außerdem dürften das gewalttätige Naturell des Vaters sowie sein früher Tod einen erheblichen Einfluss auf den Weg des Sohnes gehabt haben. Der Vater liebte »militärische[n] Schneid«54 und hatte sich in der Öffentlichkeit nicht immer im Griff. Nach gewalttätigen Übergriffen (gegenüber Juden) wurde er als Militärgeistlicher wegen »leichter vorsätzlicher Körperverletzung« verurteilt.55 Ob er seine Kinder schlug, ist nicht bekannt, aber denkbar.

Wessels spätere Äußerungen lassen sowohl Nähe als auch Distanz zum Vater erkennen. Bei ihm lernte er jedenfalls schon früh die Gewalt als Handlungsmöglichkeit kennen. Der frühe Tod Ludwig Wessels verhinderte »eine[.] denkbare[.] Revolte des pubertierenden Sohnes gegen den strengen Vater«56 Jedoch suchte sich der Sohn in den militärischen Männerbünden und schließlich bei den Nationalsozialisten eine »Ersatzfamilie«, einen »Freundeskreis«.57 Den bürgerlichen Lebensentwurf, den er von seinen Eltern her kannte, gab er schließlich zugunsten dieser Ersatzfamilie und des politischen Kampfes auf. Allerdings konnte er hier auch die »Talente des Pfarrersohnes« einbringen, und die »lagen vor allem im rhetorischen, strategischen und musikalischen Bereich.«58

4.  Fazit: Das Pfarrhaus und seine Kinder

Die vier biographischen Fallbeispiele haben deutlich gemacht, wie unterschiedlich die Kindheit in einem Pfarrhaus der Kaiserzeit sein konnte – und wie verschieden die Lebenswege von Pastorenkindern sein konnten. Sicher gab es Konstanten: die dominante Rolle der Väter, die Vorzeichnung eines akademischen Bildungsweges, die frühe Begegnung mit Religion, auch wenn diese schließlich ganz verschieden verarbeitet wurde. Für die Unterschiede war nicht nur die jeweilige theologische und politische Ausrichtung, sondern auch der jeweilige Charakter der Eltern verantwortlich: Zwischen dem autoritären, aber auch selbstkritischen Friedrich Speckmann und dem gewalttätigen und militaristischen Ludwig Wessel klaffen Welten.

Haneke zeigt in seinem Film also nicht den Regelfall; aber er verweist auf eine echte Problematik. Ihm geht es um den Zusammenhang zwischen der Absolutsetzung einer Ideologie, der daraus folgenden Unmenschlichkeit und dem darin wurzelnden Terrorismus. Anschauungsmaterial für die Unmenschlichkeit einer verabsolutierten Ideologie haben die Fallbeispiele mehrfach geboten. Während des Kaiserreiches waren es der anwachsende Nationalprotestantismus sowie eine enge und ängstliche Frömmigkeit, die als »Ideologie« im Sinne Hanekes verabsolutiert werden konnten. Haneke geht davon aus, dass die daraus resultierende Unmenschlichkeit schließlich »Terrorismus« hervorruft. Und dass dieser Terrorismus auch versteckte und subtile Formen haben kann, zeigt er in seinem Film.

In den vier Fallbeispielen werden verschiedene Strategien deutlich, mit der im Pfarrhaus erlebten Strenge umzugehen: Trillhaas geht so früh wie möglich einen eigenen Lebensweg; Speckmann trauert über die »Tragik«, die seinen Vater zum Hauslehrer und damit zum »Peiniger« seiner Kinder werden ließ, Benn rächt sich an seinem Vater mit einem kritischen Gedicht und den darin niedergelegten Gewaltphantasien und Wessel greift ganz offen zum Mittel des Terrorismus, indem er gewaltsam dieselben Feinde bekämpft, denen auch die Abneigung seines Vaters galt. In ganz verschiedener Form zeigt sich demnach bei Benn und Wessel etwas von dem »Terrorismus«, von dem Haneke spricht – einmal in subtiler und einmal in ganz handgreiflicher Gestalt. Wessel fand schließlich die gewaltbereite Organisation, die er suchte.

Haneke zeigt in seinem Film »eine Generation, die dem Faschismus entgegentreibt.« Freilich hat sich der Regisseur gegen die Reduzierung seines Films »auf den deutschen Faschismus« gewahrt.59 So lässt sich »Das weiße Band« auch als Illustration jener Zwangs-Pädagogik verstehen, die erst jüngst bei der Aufarbeitung der kirchlichen Heimerziehung wieder ans Licht kam. Damit ist dieser Film – gerade in seiner kammerspielartigen Zuspitzung – auch ein Stück »Fremdprophetie«: Er erinnert an die Schattenseiten der eigenen Geschichte, und er lässt sensibel werden für die Aufgabe, die Erziehung im Pfarrhaus heute bedeutet – in einer Situation, in der sich Pfarrhaus und Gesellschaft und auch unser Verständnis des Christlichen doch weitgehend gewandelt haben.

Anmerkungen:

1 Karl Büchsel, Erinnerungen aus dem Leben eines Landgeistlichen, Berlin 21861, 154.
2 Wilhelm Wiener, Das evangelische Pfarrhaus in seiner sozialen Bedeutung. Ein Wort zur Aufklärung und zum Verständigung, Gotha 1881, 197 [Hervorhebungen im Original].
3 Luther, WA 24,225,11, zit. n. Kurt Aland (Hrsg.), Lutherlexikon, Berlin 1956, 381.
4 Andreas Gestrich, Erziehung im Pfarrhaus. Die sozialgeschichtlichen Grundlagen, in: Martin Greiffenhagen (Hrsg.), Das evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, Stuttgart 21991, 66.
5 Gestrich, 73f.
6 Margret Koehler: Interview: Michael Haneke über »Das weiße Band«, Quelle: Bayerischer Rundfunk, http://www.br-online.de/bayerisches-fernsehen/kino-kino/interview-michael-haneke-das-weisse-band-ID1245397714824.xml (Zugriff: 10.7.2010).
7 Büchsel, 165.
8 Nicolaus Heutger, Das evangelische Pfarrhaus in Niedersachsen als Beispiel für die Bedeutung des evangelischen Pfarrhauses, Frankfurt/M., 1990, 46.
9 Gestrich, 72.
10 A.a.O., 78.
11 Hermann Werdermann, Der evangelische Pfarrer in Geschichte und Gegenwart, Leipzig 1925, 116.
12 Büchsel, 165.
13 Büchsel, 166.
14 A.a.O., 165f.
15 A.a.O., 166.
16 Julius Hoffmann, Die »Hausväterliteratur« und die »Predigten über den christlichen Hausstand«. Lehre vom Hause und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jhdt., Weinheim u. Berlin 1959, 152.
17 Hoffmann, 154.
18 A.a.O., 154.
19 A.a.O., 155.
20 Louis Harms, Katechismuspredigten, hrsg. von Theodor Harms, Hermannsburg 1872, 473.
21 A.a.O., 471.
22 Friedrich Schleiermacher, Predigten über den christlichen Hausstand (1818), hrsg. von Johannes Bauer, Leipzig 1911, 95f.
23 A.a.O., 96.
24 Ralf Koerrenz, Art. Reformpädagogik, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 7, Tübingen 2004, Sp. 192.
25 Vgl. Gestrich, 67f.
26 Diedrich Speckmann, Eine Kindheit in der Heide. Erinnerungen, Hamburg 1934, 73.
27 A.a.O., 26.
28 A.a.O., 27.
29 Friedrich Speckmann, Als Hirte in der Heide. Die Lebenserinnerungen von Pastor Friedrich Speckmann nach seinen Aufzeichnungen, hrsg. von Manfred Heinecker und Heiner Wajemann, Hermannsburg o. J. (1996), 129.
30 D. Speckmann, Eine Kindheit, 8.
31 Fr. Speckmann, Als Hirte, 132.
32 D. Speckmann, Eine Kindheit, 60f.
33 Fr. Speckmann, Als Hirte, 132.
34 Gottfried Benn, Fanatismus zur Transzendenz, in: Gesammelte Werke IV, Stuttgart 1981, 235.
35 Gottfried Benn an Hans Egon Holthusen, 16.5.1954, in: Benn, Ausgewählte Briefe, Wiesbaden 1957, 265.
36 Benn, Fanatismus zur Transzendenz, 235.
37 Gottfried Benn, Briefe an F. W. Oelze 1932-1945, Wiesbaden 1977, 220.
38 Gottfried Benn, Lebensweg eines Intellektualisten (1934), in: Gesammelte Werke IV, 23.
39 Benn, Fanatismus zur Transzendenz, 235.
40 Wolfgang Trillhaas, Aufgehobene Vergangenheit. Aus meinem Leben, Göttingen 1976, 21.
41 A.a.O., 22.
42 A.a.O., 16.
43 A.a.O., 20.
44 A.a.O., 16.
45 A.a.O., 20.
46 A.a.O., 21.
47 Ebd.
48 Daniel Siemens, Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten, München 2009, 79.
49 So der Titel eines Artikels von Frieder Leipold, Focus 14.1.2010, in: http://www.focus.de/wis­sen/bil­dung/Ge­schich­te/na­tio­nal­so­zia­lis­mus/tid-16846/horst-wessel-vom-pas­to­ren­sohn-zum-sa-schlaeger_aid_470438.html.
50 Siemens, 35f.
51 A.a.O., 42.
52 A.a.O., 36.
53 Manfred Gailus, zit. bei Siemens, 41.
54 Zitat bei Siemens, 39.
55 Zitat nach Siemens, 42.
56 Siemens, 45.
57 A.a.O., 72.
58 A.a.O., 76.
59 Margret Koehler im Interview mit Michael ­Haneke.

Über die Autorin / den Autor:

Pastor Dr. Gunther Schendel, Jahrgang 1964, Pastor der hann. Landeskirche in Uelzen; kirchengeschichtliche Studie über die Hermannsburger Mission in der NS-Zeit (»Die Missionsanstalt und der Nationalsozialismus«, LIT-Verlag Münster 2009).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 9/2011

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