In jüngster Zeit findet man in einschlägigen sog. »islamkritischen« Internetforen Bezüge auf Äußerungen von Susanne Zeller-Hirzel, einem der letzten überlebenden Mitglieder der Wider­stands­gruppe »Weiße Rose«. Rainer Oechslen ist den Spuren und zusammenhängen nachgegangen.

1. Das Leben von Susanne Hirzel

Susanne Hirzel wurde am 7. August 19211 als ältestes von sechs Kindern in einer Pfarrerfamilie in Untersteinbach im Hohenlohekreis geboren. 1928 wurde der Vater Ernst Hirzel an die Martin-Luther-Kirche in Ulm, seiner Heimatstadt, berufen und blieb dort bis zu seinem Wechsel an die Martinskirche in Sindelfingen im Herbst 1945. Der Vater galt als liberaler Theologe, eng befreundet mit Rudi Daur in Stuttgart, einem der Häupter des liberalen Protestantismus in Württemberg und in der Nachkriegszeit Landesvorsitzender des Internationalen Versöhnungsbundes.
Von 1932 an besucht Susanne Hirzel das humanistische Gymnasium in Ulm. Einer ihrer Klassenkameraden ist Jörg Zink, der später eine der bekanntesten Persönlichkeiten des deutschen Protestantismus werden soll. Bei der Hitlerjugend bzw. beim »BDM« (Bund deutscher Mädchen) lernt sie 1935 Inge Scholl (Jahrgang 1917) als »Führerin« kennen und wird von ihr ins Elternhaus eingeladen. Dort begegnet sie erstmals deren jüngerer, mit ihr selbst gleichaltriger Schwester Sophie, mit der sie sich rasch anfreundet. Um dem Arbeitsdienst zu entgehen, melden sich beide nach dem Abitur im Frühling 1940 am »evangelischen Fröbel-Seminar Ulm-Söflingen«2 zur Kindergärtnerinnenausbildung an und werden aufgenommen. Von nun an begegnen sich beide täglich. Susanne Hirzel beschreibt Sophie Scholl in ihrem Erinnerungsbuch so: »Wie ihre Mutter hatte sie eine leise Stimme, wirkte zuweilen fast sanft, konnte aber auch, wie früher in ihrer burschikosen Phase, knabenhaft keck und übermütig sein. Sie war geradlinig, offen und ehrlich, manchmal leicht ironisch, verschwiegen in ihren privaten Angelegenheiten. Auffallend war ihre elementare Naturliebe, ihre einfache Freude an den großen Gaben der Natur: an warmen Sonnenstrahlen, an einer Wiese voller Blumen, an Kindern, am Wandern durch Feld und Auen. Aus dieser Empfänglichkeit heraus entstanden religiöse Fragen, entstand Verantwortungsgefühl und Furcht, timor dei, und ihre großartige Unbedingtheit, die mich fesselte.«3
Im folgenden Jahr 1941 trennen sich die Wege der beiden jungen Frauen. Susanne Hirzel besteht die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule und geht zum Studium nach Stuttgart, Sophie Scholl muss noch Arbeitsdienst leisten, um an der Universität München studieren zu dürfen. Im Dezember 1942 jedoch kommt es zur entscheidenden Begegnung: »Ende Dezember besuchte mich Sofie (sic!) von München aus in meiner Stuttgarter Wohnung im Haus Daur bei der Markuskirche, während Hans Scholl einen Freund Vater Scholls aufsuchte. Vorsichtig versuchte sie, mich für ihren Freundeskreis zu interessieren. Sie erzählte, nach langen Überlegungen seien sie zu dem Entschluss gekommen, Flugblätter herzustellen und sie zu verbreiten in Form von Briefen.«4 Hans Hirzel arbeitet inzwischen bereits bei der »Weißen Rose« mit. Am 27. Januar 1943 fragt er seine Schwester, ob sie bereit sei mitzuhelfen. Sie willigt ein und geht eine Nacht lang in Stuttgart von Briefkasten zu Briefkasten, um die Briefe mit den Flugblättern einzuwerfen. Am 22. Februar, dem Tag des Prozesses und der Hinrichtung von Sophie und Hans Scholl und Christoph Probst, besucht Susanne Hirzel ihre Familie in Ulm, weil ihr Bruder Peter auf Urlaub von der Front gekommen ist. Am Abend dieses Tages werden Hans und Susanne Hirzel verhaftet.
Beim zweiten Prozess gegen Mitglieder der »Weißen Rose« am 19. April 1943 in München fallen Todesurteile gegen Alexander Schmorell, Willi Graf und Kurt Huber. Hans Hirzel wird zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, Susanne Hirzel aufgrund einer sehr geschickten Verteidigung zu einem halben Jahr, das sie in der Frauenstrafanstalt Gotteszell absitzt.
Nach dem Krieg, den alle acht Mitglieder der Familie Hirzel überleben, geht Susanne Hirzel als Musiklehrerin in die Schweiz. Nach dreizehn Jahren kehrt sie in ihre schwäbische Heimat zurück. Hans Hirzel, Susannes um drei Jahre jüngerer Bruder, arbeitet nach dem Krieg als Assistent beim Frankfurter Institut für Sozialforschung. Über seine berufliche Tätigkeit danach finden sich keine Angaben. 1976 tritt er der CDU bei; er wechselt 1993 zu den Republikanern, wird deren stellvertretender Bundesvorsitzender und kandidiert 1994 gegen Roman Herzog als Bundespräsident. Dem Vernehmen nach weist er immer wieder darauf hin, dass er nun wirklich nicht im Verdacht stehe, ein »alter Nazi« zu sein. Hans Hirzel stirbt im ­Juni 2006 in Wiesbaden.

2. Erinnerungen an »eine ­schwäbische Jugend«

Susanne Hirzel tritt erst 1998 mit der Geschichte ihrer schwäbischen Jugend an eine breitere Öffentlichkeit. Das Buch gliedert sich nach einer Einführung »Familie und Kindheit« in dreizehn Kapitel, die jeweils eines der Jahre von 1933 bis 1945 behandeln. Jedes Kapitel beginnt mit Daten zur politischen Geschichte des Jahres und fährt fort mit Überlegungen zu den politischen Ereignissen. Erst am Schluss berichtet Susanne Hirzel von ihrem persönlichen Ergehen.
Die Fakten, die Hirzel benennt, konzentrieren sich durchaus auf das Wesentliche und lassen auch den erstaunlichen Mangel an Widerstand gegen das Naziregime bei der breiten Mehrheit der Bevölkerung klar erkennen. Hirzel neigt allerdings dazu, ausdrücklich auf das hinzuweisen, was ich die »Schuld der anderen« nennen möchte. In der Einleitung zum Bericht über das Jahr 1933 etwa schreibt sie: »Am 20. März wird das KZ Dachau gegründet und durch Eicke ausgebaut. Damit folgt man dem Vorbild Stalins, der Millionen Menschen verschleppte, und dem Vorbild der Engländer, die als erste in der modernen Geschichte während des südafrikanischen Bürgerkriegs (1898-1901) KZ errichteten, in denen sie Frauen und Kinder der um ihre Unabhängigkeit kämpfenden Buren einsperrten unter unmenschlichen Bedingungen und mit der Folge massenhafter Toter.«5
Immer wieder kommt Hirzel auf die Sinnlosigkeit der alliierten Bombenangriffe zu sprechen, insbesondere auf den verheerenden Luftangriff auf Ulm am 17. Dezember 1944, den sie miterlebt hat und bei dem sie allein die Verantwortung für ihre jüngsten Geschwister tragen musste. So schreibt sie etwa: »Was eigentlich bezweckten die Briten mit der Bombardierung fast aller großen und mittelgroßen deutschen Städte? Wenn sie vorhatten, die Menschen zu zermürben, so musste ihnen doch klar sein, dass diese Menschen keine Möglichkeit hatten, Zermürbung zum Ausdruck zu bringen … Wenn es Rache war, so konnte man es verstehen. Doch ist Rache immer etwas Unwürdiges und Erbärmliches, erst recht gegenüber einem Kollektiv. Am wahrscheinlichsten ist doch die Vermutung: Sie wollten – und zwar völkerrechtswidrig – möglichst viele Deutsche ausrotten und mit der Zerstörung der Städte nichts anderes als schaden. Dies übrigens war auch die Propagandathese der Nazis, die durch die Bombenangriffe erst recht glaubwürdig wurde.«6

3. Hirzels Verhältnis zur ­»Islamkritik«

Unter dem Stichwort »Islamkritik« tummeln sich in den Medien und im Internet ganze Scharen von Publizisten und selbsternannten Experten. Man findet darunter niemanden, der Theologie oder Religionswissenschaften, und kaum jemanden, der Islamwissenschaften oder Arabistik studiert hätte. Manche Autoren erklären sich selbst zum Experten mit dem Hinweis, dass sie »jahrelang in einem islamischen Land« lebten. Das ist dann aber auch das Höchstmaß von Expertise. Dafür wimmelt es, etwa im Internetportal »Politically Incorrect«, von Verunglimpfungen. So werden Muslime als »Musels« bezeichnet, Leute, die sich um Kontakt und Verständigung mit Muslimen in Deutschland bemühen, sind »Dhimmis« und ihr Verhalten ist »Dhimmitum«. (Dhimmis waren in den islamischen Staaten Juden und Christen, die eine Kopfsteuer entrichten mussten und vom Militärdienst sowie von höheren Staatsämtern ausgeschlossen waren.) In den Internetforen der »Islamkritiker« – deren Layout häufig sehr professionell und offensichtlich teuer ist – werden unter stetiger gegenseitiger Zitation immer neue Schreckensmeldungen über Untaten von Muslimen und die »schleichende Islamisierung« Europas verkündet.
Irgendwann muss Susanne Hirzel zu diesen »Islamkritikern« Kontakt bekommen haben. Nach der Veröffentlichung der Erinnerungen wurde es zunächst einmal wieder still um sie. Offenbar tritt sie häufig in Schulen und Bildungsveranstaltungen als Zeitzeugin auf. Ario Ebrahimpour Mirzale berichtet, dass sie »schon im Jahr 2002 der national-konservativen Wochenzeitung ›Junge Freiheit‹ ein Interview (gab), in dem sie klar rechtspopulistische und vaterländische Positionen einnimmt.«7 Wikipedia verzeichnet, dass sie Mitglied der »Bürgerbewegung Pax Europa« sei.
Der von Udo Ulfkotte 2006 gegründete Verein »Pax Europa« fusionierte 2008 mit dem »Bundesverband der Bürgerbewegungen« zur »Bürgerbewegung Pax Europa«, einem Verein mit Sitz in Wetzlar. Ulfkotte, der seinerseits durch »islamkritische« Schriften hervorgetreten war, verließ im Dezember 2008 den Verein wegen dessen »zunehmend extremistischen Kurses«, nachdem er zuvor erfolglos gegen im Internet verbreitete Zeichnungen protestiert hatte, auf denen »Muslime als Schweine, Pädophile und Terroristen abgebildet«8 waren. Sein Antrag auf »eine klare Verurteilung dieser rassistischen und womöglich volksverhetzenden Bilder im Stürmer-Stil«9 war gescheitert. Zuvor hatte Jörg Lau auf »Zeit Online« von einer »Horde von ziemlich zwielichtigen Anti-Islam-Hysterikern … darunter etwa von deutscher Seite der bekannte Herr Ulfkotte mit seinem ›Pax Europa‹-Verein« gesprochen10.
Wie Susanne Hirzel in diesen Verein gelangt ist, konnte ich nicht ermitteln. Ihre eigenen islamkritischen Äußerungen werden sehr häufig zitiert und kolportiert. Als Quelle konnte ich aber ein ausführliches Interview mit der inzwischen 88jährigen vom 9. September 2009 ausmachen, das im – ebenfalls recht zwielichtigen – Internetportal »Zölibat & Mehr« am 11. Oktober 200911 veröffentlicht wurde. Hirzels Interviewpartner stellt sich vor als Conny Axel Meier. Meiers Unterschrift findet man etwa unter einem Aufruf »Einreiseverbot für Mahmud Ahmadinedjad« vom Juni 2006 (anlässlich der Fußballweltmeisterschaft)12 neben den Unterschriften von Seyran Ates, Henryk M. Broder oder Ralph Giordano. Dort gibt Meier neben seinem Namen an: »Publizist – Gemmingen«. An anderer Stelle im Internet erfährt man, Meier sei Landesgeschäftsführer von »Pax Europa« in Baden-Württemberg, an wieder anderer Stelle wird er »Bundesgeschäftsführer« genannt. Dieser Herr Meier erklärt nun, »Kendra Adams, die Mitbegründerin der amerikanischen Organisation ›Stop Islamization of America‹ (SIOA)« habe am 30.8.2009 einen Artikel »Abandoning Sophie Scholl and the White Rose« veröffentlicht. Darauf habe er Adams angeboten, ein Interview mit Susanne Zeller-Hirzel zu führen und für die Veröffentlichung in Amerika zur Verfügung zu stellen. Wenige Tage später fand das Gespräch statt.

4. Das Interview

Die Qualität des Interviews, das Meier mit Susanne Zeller-Hirzel führt, zeigt sich bereits in der ersten »Frage«, die alles andere als eine Frage ist: »Es ist bekannt, dass Hitler vom Islam fasziniert wurde und ihm sehr zugetan war. Nationalsozialismus und Islam, speziell soweit es Totalitarismus, Hass auf Juden und Kriegsbereitschaft betrifft, sind sozusagen zwei Seiten derselben Münze. Hitler sagte einmal im Gespräch, dass er sich wünschte, Deutschland wäre islamisch; er meinte, das deutsche Volk würde dann rücksichtsloser kämpfen können. Verständlicherweise werden die Juden ja auch von Mohammed und Allah verachtet. Die Verfolgung und Tötung von Juden ist neben anderem eine der wesentlichen Gemeinsamkeiten von nationalsozialistischer und islamischer Agenda. Waren Ihnen diese Zusammenhänge damals zu Zeiten der ›Weißen Rose‹ schon bewusst? Gab es damals schon Moslems in München? Hat Prof. Huber oder ein anderes Mitglied der ›Weißen Rose‹ dies jemals innerhalb der Gruppe thematisiert?«
Darauf kann Frau Zeller-Hirzel nur antworten: »Nein, der Islam und die Moslems waren damals überhaupt kein Thema bei uns … Auch Hitlers Zusammenarbeit mit Mohammed Al-Husseini, dem Großmufti von Jerusalem, der sich seit 1941 in Berlin aufhielt und dann sogar SS-Divisionen aus bosnischen Muslimen aufstellte, war uns allen unbekannt.«
Es gibt also eingestandenermaßen keinen Bezug der »Weißen Rose« zum Islam. Dafür wird nun auf die Rolle des Großmuftis von Jerusalem angespielt, der tatsächlich ein fanatischer Parteigänger der Nazis war und von 1941 bis 1945 in Deutschland lebte. Der Bezug auf die »SS-Divisionen« aus bosnischen Muslimen ist eine immer wieder kolportierte Geschichte, der kaum jemand auf den Grund gegangen ist. In der Kulturgeschichte Bosniens von Ivan Lovrenović, einem bosnischen Kroaten, wird berichtet, dass es in dem faschistisch beherrschten »Unabhängigen Staat Kroatien« von 1941 bis 1945 in Bosnien Bestrebungen gab, »Bosnien-Herzegowina als autonome Provinz Berlin direkt zu unterstellen. Das hat die Schaffung der bekannten 13. SS-›Handžar‹-Division, einer muslimischen Formation im Verband der deutschen Armee zur Folge, was politisch aber keine Ergebnisse bringt. Anstatt, wie erhofft, muslimische Dörfer und Siedlungen gegen alle möglichen Angreifer zu verteidigen, werden die Rekruten der ›Handžar‹-Division zur Ausbildung nach Frankreich geschickt, wo sie kroatischen Pionieren zugeteilt werden. Unter bis heute nicht völlig geklärten Umständen bricht unter der Führung von Ferid Džanić eine Revolte aus, die Rebellen nehmen ihre deutschen Offiziere gefangen, verurteilen sie zum Tode und erschießen sie. Ihr Plan, sich der französischen Résistance anzuschließen, scheitert: die Revolte wird von der deutschen Armee erstickt, mehr als 150 Aufständische werden dabei getötet.«13
In der Antwort auf die nächste Frage wendet sich Susanne Zeller-Hirzel gegen Leute, die dem Islam in Deutschland mit Aufmerksamkeit und Verständnis begegnen: »Ich war sehr verbittert und enttäuscht mit anzuschauen, wie Lehrer, Professoren und der Rektor ohne Not nach und nach im Braunhemd zur Schule und zur Uni kamen … Ich denke, heutzutage würden sich die gleichen Lehrer und Professoren als islamophile Multikulturalisten profilieren und sich den Moslemverbänden als Handlanger andienen, so wie damals die Nazis.«

Exkurs: »Wir sind eine verkannte ­Minderheit«

Die Selbstdarstellung als vom medialen Mainstream ausgeschlossene Gruppe ist ein Kennzeichen fundamentalistischer Bewegungen. Dazu gehört, dass sich radikalisierte Muslime etwa in Ägypten in der Minderheit sehen – die Mehrheit der Muslime und die öffentliche Kultur Ägyptens ist in ihren Augen ja nicht mehr wirklich muslimisch. Ebenso fühlen sich orthodoxe bzw. ultraorthodoxe Juden in Israel in der Minderheit. Dazu gehört aber auch, dass sich die »christliche Rechte« sogar in den USA und auch unter der Präsidentschaft von George Bush wider alle Empirie als Minderheit sieht, die unter einem liberalistisch-agnostischen Meinungsmonopol in den Medien leidet. Die immer wieder vorgetragene These von der »schleichenden Islamisierung« Deutschlands ist nichts anderes als eine Variante des Themas »Wir sind in unserem eigenen Land zur Minderheit geworden« – ohne jede Reflexion darüber, dass auch das Christentum seine Verbindungen zur zeitgenössischen Kultur zumindest lockert14.
In seiner evangelikalen Variante erklärt das Christentum den Bezug auf außerbiblische Bildungsgüter überhaupt für religiös irrelevant. Und während die Religion sich von der Kultur zurückzieht, wird auch die Kultur mehr und mehr religions- oder eigentlich »gottesvergessen«. So werden Christentum und Kultur voneinander gelöst und die kirchliche Verkündigung verliert den Anschluss an das Bildungsniveau der Gesellschaft15. Aus der Trennung von Religion und Kultur ergibt sich dann das Minderheitenbewusstsein mit seiner Tendenz zu Selbstbezüglichkeit und Isolation. Im schlimmsten Fall bekommt der Bezug der Religion zur zeitgenössischen Kultur paranoiden Charakter.
Was für die Religionen gilt, das kennzeichnet auch die »Islamkritik«. Man fühlt sich verfolgt oder wenigstens verkannt, auch wenn man statistisch nach wie vor in der Mehrheit ist. Es gehört zum Weltbild der sog. »Islamkritiker«, sich als verfolgte Minderheit darzustellen oder mindestens als Randgruppe, die auf die Medien und die politischen Eliten des Landes kaum Einfluss hat – und das ganz unabhängig davon, dass Henryk Broder Kolumnist des »SPIEGEL« ist, dass Ralph Giordano für seinen Einspruch gegen den Moscheebau in Köln in ganz Deutschland Beachtung fand, dass Necla Kelek den Hildegard-von-Bingen-Preis erhielt, dass Thilo Sarrazin Senator in Berlin war und später dem Vorstand der Bundesbank angehörte16 usw.

Zurück zum Interview mit Susanne Zeller-Hirzel. Auf die Frage »Sehen Sie Ähnlichkeiten zwischen dem Islam und dem Nationalsozialismus?« gibt sie die wenig überraschende Antwort: »Der Fanatismus, der absolute Wahrheitsanspruch und die geistige Einfältigkeit sind sich sehr ähnlich, wie im Islam so auch im Nationalsozialismus.« Die entscheidende Frage aber ist, wie Frau Hirzel eigentlich zu ihrer Position kam, welche Erkenntnisse sie über den Islam auf welchem Wege gewonnen hat. Die Antwort erstaunt: »Ich las viele, viele Bücher zum Thema, vor allem die Bücher von Mark Gabriel.« Das ist alles.
Mark A. Gabriel ist ein Pseudonym. Unter diesem Namen sind Schriften vor allem in evangelikalen Kreisen sehr verbreitet. Der Autor wirbt für sich vor allem mit seiner Biografie. Nach den Angaben in seinem Buch »Against the Tides in Middle East: The true story of Mustafa, former teacher of Islamic history«17 hat der 1957 geborene Ägypter an Al-Azhar in Kairo studiert und wurde Imam in Gizeh. Auf Reisen in östliche und westliche Länder kam er zu der Erkenntnis, die Geschichte des Islam, sei »from its commencement to date ... filled with violence and bloodshed without any worthwhile ideology or sense of decency«18. Er wird, als diese Auffassung bekannt wird, von Al-Azhar verwiesen und muss die Position des Imams niederlegen. 1994 lernt er in Südafrika eine christliche Familie kennen und bekehrt sich zum Christentum. Als nach seiner Rückkehr in Ägypten sich sein Übertritt herumspricht, wird er verhaftet und gefoltert. Auf abenteuerlichen Wegen kann er fliehen. Seither sieht er seine Aufgabe darin »to tell the peope everywhere what Jesus did«19.
Der durchaus freundliche englische Wikipedia-Artikel notiert vor dem Referat des Lebenslaufs: »Gabriel’s former name has not been revealed and his biography has not been independently verified« und resümiert schießlich: »Mustafa/Gabriel’s life story is retold with number of discrepancies (for example, that he awarded a doctorate by Al Azhar) and various additions, including accounts of miraculous events ...«20.
Also: Die Urteile Susanne Zeller-Hirzels beruhen auf Schriften eines obskuren Autors, dessen Biografie voll ist von Unstimmigkeiten und der sich selbst mit mirakulösen Geschichten stilisiert. Bei »Mark Gabriel« ist eigentlich nur eines authentisch – die evangelikale Rhetorik und Phraseologie.

5. Ein Besuch

Dieses Ergebnis befriedigte mich noch nicht. Inzwischen ist noch ein neues Interview mit Susanne Hirzel aufgetaucht, ein Video, das man im Internet betrachten kann. Ich fragte mich daraufhin erst recht: Was war wohl das Motiv für Susanne Hirzels Islamfeindlichkeit, die eine so schwache Basis zu haben scheint? Ich rief Frau Hirzel an und bat, sie besuchen zu dürfen. Im Oktober 2010 empfing sie mich in ihrer Wohnung im Raum Stuttgart. Ich traf eine sehr freundliche alte Dame, die vor allem darunter leidet, dass so viele Angehörige ihrer Generation schon dahingegangen sind. Auf meine Frage hin, wer sie für die Bürgerbewegung »Pax Europa« gewonnen habe, konnte sie sich nicht recht erinnern. Ein Interview mit Cem Özdemir, das vor Jahren im Fernsehen gesendet wurde, habe sie geärgert. Vermutlich, so meinte sie, habe sie dann auf einen Brief oder eine Annonce von »Pax Europa« hin einen kleineren Betrag gespendet und sei so in die Kartei gelangt. Die Leute – vor allem Michael Stürzenberger aus München – die sie für das Internet interviewt hätten, seien ausgesprochen nett und höflich gewesen. Sie selber habe das Video noch nicht gesehen. Es fehlen in ihrem Haus auch die technischen Möglichkeiten hierfür.
Ich frage Susanne Hirzel nach ihrem Verhältnis zum Islam und zu den Muslimen. Sie antwortet: »Ich weiß zu wenig Genaues über den Islam.« Sie kennt eine einzige türkische Familie am Ort, aber zu der hat sie keinen näheren Kontakt. Aber wenn der Sohn dieser Familie tatsächlich eine weiterführende Schule besuchen sollte, wäre Frau Hirzel gerne bereit, ihm bei den Hausaufgaben zu helfen. Dann sagt sie: »Ich möchte gerne einen gebildeten Muslim kennen lernen, der glaubt und in die Moschee geht und mir seinen Glauben erklären kann.« Ich antworte, dass sich so jemand in Stuttgart sicher finden lässt. Wir scheiden nicht einig, aber durchaus freundlich voneinander.

Anmerkungen:
1    Die biografischen Angaben zu Susanne Hirzel folgen im Wesentlichen ihrem Buch »Vom Ja zum Nein«, das 1998 erstmals erschien. Benutzte Ausgabe: Susanne Hirzel, Vom Ja zum Nein. Eine schwäbische Jugend 1933 bis 1945, Tübingen 2000. Einige Daten zum Leben von Susanne und Hans Hirzel sind den jeweiligen Wikipedia-Artikeln entnommen.
2    A.a.O., 128.
3    A.a.O., 129.
4    A.a.O., 180.
5    A.a.O., 27f.
6    A.a.O., 263f. Es fällt auf, dass Beatrice Eichmann-Leutenegger in ihrer Besprechung auf diese Tendenz nicht eingeht. Beatrice Eichmann-Leutenegger, Wie konnte es dazu kommen? – Susanne Hirzels Erinnerungen »Vom Ja zum Nein«, Orientierung (Zürich) 62 (1998), 205f.
7    Ario Ebrahimpour Mirzale, Wie Rechte den Widerstand von Sophie Scholl missbrauchen, Zeit Online, 22. Mai 2010. Über die »Junge Freiheit« weiß Mirzale: Sie »wird regelmäßig von Rechtsextremismus-Experten kritisiert und soll der rassistischen Denkschule der ›Neuen Rechten‹ nahe stehen.«
8    Till-R. Stoldt, »Stürmer-Stil«: Publizist Ulfkotte verlässt islamkritische Bewegung, Welt Online, 2.12.2008.
9    A.a.O.
10    Jörg Lau, Darf man in Brüssel gegen die Islamisierung Europas demonstrieren?, Zeit Online 27.8.2007.
11    http://zölibat &mehr/ Die Weiße Rose und der Islam.
12    Die Quelle, bei der ich den Aufruf, der im Jahr 2006 in der politischen Diskussion eine wichtige Rolle spielte, heute abgedruckt finde, ist selbst äußerst anrüchig: http://kritiknetz.de/judenhetze. Dort wird Gideon Joffe, der Initiator des Aufrufs zunächst »Vorsteher der Berliner Judengemeinde« und anschließend »aus Lettland nach Deutschland eingewanderter Jude« genannt. Nach meiner Überzeugung handelt es sich bei den Auseinandersetzungen zwischen islamfeindlichen und antisemitischen Gruppen im Internet um einen Konflikt zwischen verschiedenen »Sekten« des rechten Spektrums, denen eine Voraussetzung gemeinsam ist: die rassistische Grundstruktur der Argumentation.
13    Ivan Lovrenović. Bosnien und Herzegowina. Eine Kulturgeschichte, Wien und Bozen 1998, 163. Es wäre dringend zu wünschen, dass weitere historische Forschung den Mythos von den muslimischen SS-Divisionen auflösen würde.
14    Der Religionssoziologe und Islamwissenschaftler Olivier Roy spricht in seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch ausführlich auch von der »Dekulturalisierung« des Christentums. Olivier Roy, Heilige Einfalt, München 2010. Das Original erschien 2008 in Paris unter dem Titel: »La sainte ignorance. Le temps de la religion sans culture«.
15    Olivier Roy bringt ein schönes Beispiel für die Trennung von Religion und Bildung. Die ehemalige Leiterin eines Gästehause für Evangelikale in Jerusalem schreibt in einem Blog: »… ist es nicht viel wichtiger, nach dem Bild von JESUS CHRISTUS verändert zu werden, als ›Schreiber‹ zu werden, die von vielen Kenntnissen aufgeblasen sind? Der Apostel PAULUS sagt: ›Die Erkenntnis macht aufgeblasen.‹ Und das stimmt immer noch. Ich muss nicht Hebräisch können, um zu verstehen, dass ich mein ›Ich‹ ablegen muss, damit der HEILIGE GEIST mich täglich nach dem Bild CHRISTI verändert …«, Roy, a.a.O, 204f.
16    Im Fall Sarrazin ist es so, dass er die Thesen seines am 30.8.2010 erschienenen Buches »Deutschland schafft sich ab« schon lange vorher in Interviews und kürzeren Zeitschriftenbeiträgen vertreten hat. Auszüge aus dem Buch hat der »SPIEGEL« im August 2010 in mehreren Folgen vorabgedruckt. Selbst die »ZEIT« stellte ihm am 26.8.2010 zwei große Seiten für ein ausführliches Interview zur Verfügung. Bezeichnend ist dabei die erste Frage: »Herr Sarrazin, Sie waren ein guter Berliner Finanzsenator und haben in der Integrationsfrage viel Wichtiges angesprochen. Aber, um es vorweg zu sagen: Ihr neues Buch hat uns verzweifeln lassen, weil es rassistisch missverstanden werden kann.« Man fragt sich, was es da eigentlich misszuverstehen gibt.
17    Erschienen 1997 im Verlag des »International Academic Centre for Muslim Evangelism in South Africa« unter dem Autorennamen »Mustafa«.
18    Zit. nach dem (englischen) Wikipedia-Artikel »Mark A. Gabriel«.
19    A.a.O.
20    A.a.O.

Über die Autorin / den Autor:

Dr. Rainer Oechslen, Beauftragter für den interreligiösen Dialog und Islamfragen in der Evang.-luth. Kirche in Bayern.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2011

2 Kommentare zu diesem Artikel
30.10.2017 Ein Kommentar von Anna Fierz Danke für diesen Artikel. Bis heute erlebe ich im weiteren bis engsten Umfeld, dass Islamophobie ansteckend ist. So stossen Leute, die noch nie mit einem Moslem gesprochen haben, beim Nachlesen auf die Werke von Evangelikalen wie z.B. Thomas Schirrmacher. Der über Missionswissenschaft promoviert hat (das gibt es) und sich dementsprechend äussert. Ihr Beitrag verunglimpft niemanden, sondern zeigt exemplarisch, wie das passiert. Der obenstehende Kommentar meines Vaters ist für die öffentliche Meinung in der Schweiz nicht repräsentativ. Lieber Lukas: insbesondere muss ich der Ansicht widersprechen, Karen Blixen sei „eine Kennerin der muslimischen Länder“ gewesen. Kenias Naturreligionen waren vor Ankunft der Baronesse von christlichen Missionaren verdrängt worden; islamisch war höchstens ein Küstenstreifen, fernab der Farm der Blixens. Wie gerne verdrängen wir, dass der Holocaust im Herzen des christlichen Abendlands stattgefunden hat! So lange ist es noch nicht her. Der deutsche Schuld“komplex“ ist mir weit weniger unheimlich als das, was in Polen mit der Judikative passiert. Dort fand keine vergleichbare Aufarbeitung statt. Bereits Boleslaw Prus konnte in „Lalka“ Interessantes über die Wurzeln des grassierenden Antisemitismus berichten. (Die englische Übersetzung „The Doll“ ist besser lesbar als die uralte deutsche.) Ebenfalls wärmstens empfohlen: Matthias Neukirchs „Hans Schleif“, in Zürich alle Jahre wieder ausverkauft. Die schweizerischen Komplexe sind weniger schuldbeladen, aber therapieresistenter dadurch, dass sie sich auf unseren Bankkonten niederschlagen... Tatsache bleibt: In den letzten Jahren wurde der einzige aktenkundige Angriff auf einen Juden in Zürich 2015 durch einen Neonazi verübt. Das einzige Gotteshaus, das in Zürich unter Beschuss geriet, war 2016 eine Moschee. Die Ärztinnen aus Pakistan und der Türkei, mit denen ich gearbeitet habe, habe ich als kultivierte Mitmenschen kennengelernt. Und erst diese Woche hat uns eine muslimische Flüchtlingsfrau einen Kürbis für Halloween geschenkt. Was bei mir ein dankbares kleines Fragezeichen zum Respekt vor eigenen und fremden Traditionen hinterlässt.
24.02.2017 Ein Kommentar von Lukas Fierz Ich war von 1949-1955 in Basel Cello-Schüler bei Susanne Hirzel, die eine untadelige, aufrechte, immer fröhliche und fleissige Pädagogin war. Sie hat damals nie von der Weissen Rose erzählt und niemand wusste davon.Ich bin erst ca. 2001 auf ihr Buch "Vom Ja zum Nein" gestossen und habe mit Schrecken gelesen, was diese Frau durchgemacht hatte und mit welcher Tapferkeit und Geistesgegenwart sie dem Henker entkam. Von der Schweiz aus sieht man seit langem zumindest mit Verwunderung zu, wie die Gefahren der muslimischen Masseneinwanderung in Deutschland unter den Teppich gekehrt werden, und wie deren Kritiker ohne Sachdiskussion ausgestossen werden. Man kann sich das nur durch den übermächtigen Deutschen Schuldkomplex, durch Nazikeule und Tugendwahn erklären. Susanne Hirzel nun, ohne Deutschen Schuldkomplex und unempfindlich gegen Nazikeule und Tugendwahn, war früh in der Lage, Dinge zu sehen, die den politisch Korrekten unsichtbar waren. Die Parallelen von Nazi-Deutschland zum (frühen) Islam hat nicht Susanne Hirzel erfunden. Sie wurden von Karen Blixen - einer langjährigen Kennerin Afrikas und der muslimischen Länder - 1940 in Deutschland beobachtet und in einem sehr erhellenden Artikel beschrieben (siehe "Halbmond und Hakenkreuz", in O. Lubrich (Hsg.) Reisen ins Reich 1933-1945, Eichborn-Velag 2004): Gemeinsamkeiten wären das Entstehen aus einer Kriegerfantasie, das übersteigerte Selbstwertgefühl der Anhänger, der Glaube bis zum Tod, der Ausschluss von Minderheiten, die Einmischung in Erziehung und Privatleben, die Missachtung des Individuums usw. Dass Angehörige solchen Glaubens in Deutschland in wenigen Jahrzehnten wieder die Mehrheit haben werden kann man sich ausrechnen, und dies müsste jedem verantwortliche Staatbürger zu denken geben. Susanne Hirzel gab es zu denken, es besteht keine Veranlassung, sie dafür zu verunglimpfen.
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