Vom diskriminierend verwendeten Jargonausdruck avancierte der Begriff »Milieu« zu einer soziologischen Standardkategorie. Was kann kirchenleitendes Handeln dieser Kategorie abgewinnen? Norbert Ammermann und Dieter Beese reflektieren die Chancen milieuorientierter Gestaltung kirchlichen Handelns in Wort und Antwort.

I. Milieu, Institution und ­Organisation Kirche
(Norbert Ammermann)
Auf dem Kirchplatz einer deutschen Hauptstadt: Zwei Touristen stehen vor dem Dom. »Schon ein prächtiges Bauwerk«, sagt der eine zum anderen und: »Schade, dass gerade Messe ist – gehen wir uns ein Cafe suchen?« – Ein Mütterchen eilt, sich bekreuzigend, in den Eingang. – Ein Mercedes hält an, der Fahrer steigt aus und sucht an der Anschlagtafel: »Ach, heute spielt nur die Organistenvertretung? Na, die Toccata möchte ich mir nicht antun. Fahre lieber direkt weiter zum Golfplatz«. – Ein Elternpaar mit zwei lärmenden Kindern zieht Eis schleckend achtlos vorbei. – Ein junger Mann zückt sein Handy: »Typisch, dass hier bei diesen kolossalen Bauungetümen kein Netzempfang ist«. – Eine andere Familie kommt angeeilt: »Schnell doch, du spielst doch heute den Lazarus«, drängt die Mutter den Sohn. – Eine Skaterin schüttelt den Kopf: »Dass diese Fläche nicht asphaltiert ist, sondern aus Kopfsteinpflaster bestehen muss ...«.
Ein Ort, eine bestimmte Stunde, und verschiedenste Milieuvertreter, die ganz unterschiedlich auf Kirche, hier als Angebot eines kirchlichen Kunstbaus mit gottesdienstlicher Handlung, reagieren. Kann und soll Kirche den sozialen Milieus in unserer Gesellschaft gerecht zu werden versuchen? Wie ist ihre Aufgabe und ihr institutionelles Selbstverständnis im Milieukontext zu bestimmen1?

Die Verankerung von Milieus im ­Protestantismus
Die Verankerung von Milieus im Protestantismus wird beispielhaft deutlich im Ruhrgebiet. Die Geschichte des Ruhrgebiets, seine politische, ökonomische, soziale und kulturelle Geschichte ist nicht ohne die Geschichte der katholischen und evangelischen Kirchengemeinden in diesem industriellen Ballungsgebiet, das gleichzeitig starke agrarische und kleinbürgerliche Strukturen und Mentalitäten aufzuweisen hat, denkbar. Die evangelischen und katholischen Parochien haben eine entscheidende Rolle in der Entwicklung dieses Raumes gespielt. Mit ihren Kirchen, Gemeinde- und Pfarrhäusern, ihren Schulen und Kindergärten, ihren Krankenhäusern und anderen diakonischen Einrichtungen, ihren Vereinshäusern und ihren Friedhöfen (Verbandsprotestantismus) haben sie das äußere Bild jedes Ortes mitgeprägt. Generationen von Familien haben im Umfeld dieser kirchlichen Bauten Orientierungspunkte für ihr einzelnes und gemeinsames Leben gehabt. »Von der Wiege bis zur Bahre« wurde man von der Kirche begleitet, betreut und versorgt. In »Freud und Leid« war Verlass auf die Kirchen und ihr Personal. Der Pfarrer, die Gemeindeschwester, die Kindergärtnerin, der Küster, der Friedhofsgärtner – sie alle waren Personen, die die Institution Kirche verkörperten.
Doch schon früh stellte sich diese Milieuverankerung in Frage. Der Übergang von der Agrar- in die Industriegesellschaft, die Industrialisierung und Urbanisierung des Raumes, die modernen Emanzipationsbewegungen des bürgerlichen Liberalismus und des proletarischen Sozialismus, die naturwissenschaftlich orientierte Weltanschauung des Materialismus und des Biologismus, positivistische und atheistische Denkströmungen und viele andere moderne geistesgeschichtliche Einflüsse veränderten die Rolle und das Profil der Kirchengemeinden. Diese selbst sahen sich immer mehr in die Position der Verteidigung des christlichen Glaubens gedrängt und mussten ihre Institution mehr und mehr zu legitimieren suchen.
Seit den 80er Jahren wird auch die Gesellschaft der damaligen Bundesrepublik in den Sozialwissenschaften mehr und mehr in ihre Milieuzugehörigkeiten differenziert. Der Beginn der systematischen Entwicklung des Milieuansatzes liegt mittlerweile fast 20 Jahre zurück. Er kann auf das Jahr 1987 datiert werden, in dem das von der Volkswagen-Stiftung geförderte Forschungsprojekt »Der Wandel der Sozialstruktur und die Entstehung neuer gesellschaftlich-politischer Milieus in der Bundesrepublik Deutschland« vorbereitet wurde2. Für die Kirche im gegenwärtigen Deutschland bedeutet das, dass die Anbindung an die Milieus für die Kirchen schon lange nicht mehr selbstverständlich ist. Auch die Milieus, denen noch eine einigermaßen ungebrochene Verankerung in der Kirche zugeschrieben wird, z.B. die bürgerliche Mitte und die traditionell-konservativen Milieus, schrumpfen nicht nur, sondern sind auch in sich selbst heterogen geworden. Ein Kirchenaustritt von Milieuangehörigen bedeutet hier eine pragmatische Entscheidung, ohne dass das private religiöse oder Glaubensleben davon berührt sein müsste. Ergo: man findet immer mehr »Fromme« unter den ausgetretenen Personen auch in herkömmlichen kirchlich zugetanen Milieus.

Gegenwärtige Milieuforschung
Die gegenwärtige Milieuforschung ist ein Marktsegment geworden. Drei Ansätze sind auszumachen:
–    Das SINUS-Institut sucht die Alltagswirklichkeit der Menschen, den soziokulturellen Wandel und die Verfassung der Gesellschaft zu analysieren, um so die Forschungsergebnisse für  Trends, Zielgruppen und Märkte nutzbar zu machen. Es versteht sich als Spezialist für psychologische und sozialwissenschaftliche Forschung und Beratung und entwickelt Expertisen und Strategien für Unternehmen und Institutionen in den Bereichen Konsum, Ökologie, Kultur und Politik mit besonderem Fokus auf den Wertewandel, die Lebenswelten (»Sinus-Milieus«), die Alltagsästhetik sowie auf soziokulturelle Strömungen, Trends und Zukunftsszenarien. Überschneidungen sind natürlich gegeben3.
–    Bei den »MOSAIC-Milieus« handelt es sich um ein einzigartiges Instrument zur microgeographischen Marktsegmentierung nach psychographischen Faktoren wie Werten, Einstellungen und Lebensstilen. Sie sind eine lizenzierte Adaption des bewährten Marktforschungstools der Sinus-Milieus, die den Menschen und das gesamte Bezugssystem seiner Lebenswelt ganzheitlich ins Blickfeld rücken. So z.B. die »modernen Performer«, die als junge, unkonventionelle Leistungselite hohen Wert auf Weiterbildung legen, für Bungee-Jumping zu gewinnen sind und Zeitschriften wie »SPIEGEL«, »Cosmopolitan« oder »Fit for Fun« lesen. Durch die Verbindung der Sinus-Milieus mit MOSAIC kann dieses Marktforschungstool für räumliche Anwendungen und das Direktmarketing effektiv genutzt werden4.
–    »SIGMA Milieus« reflektieren die psychische Prädisposition der Konsumenten und vernetzen sie mit der Nutzung oder Ablehnung von Produkten und Marken. Die unterschiedlichen Milieus haben sich nicht nur als über die Zeit stabil, sondern vor allem als trennscharf erwiesen. Die über die Milieus definierten Konsumkulturen findet man weltweit: SIGMA bietet die »SIGMA Transnational Consumer Cultures« für Europa und entsprechende Modelle für USA, Japan und China5.
Erläuternd muss gesagt werden, dass die Milieus nicht mit sozialen Gruppen zu verwechseln sind. Mitglieder eines Milieus haben nicht automatisch Kontakt miteinander, können natürlich auch konkurrierend und verfeindet zueinander stehen. Die Milieuzuordnung gibt vielmehr Hinweise darauf, über welche Sprachspiele, Symbole, Inhalte, Ideen und Einstellungen am ehesten ein Zugang zu einem Milieu geschaffen werden kann. Deren Präferenzen schlagen sich in der Wahl der Medien (Zeitungen, TV-Programme ...), der Kontaktorte (Fitnesscenter, Kneipe, Internetcafe, Theater ...), der Wohnungseinrichtungen (Marmorkamin, IKEA-Mobiliar...), der geistigen Interessen (Soaps, Sinfonische Konzerte, Disko ...) u.a.m. nieder6. Und wo und wie findet sich nun Kirche in diesen Milieus?

Institution und Organisation
Ich vertrete folgende These: Kirche muss sich ihrem Auftrag gemäß Milieus zu erschließen suchen. Dazu bedarf sie sowohl institutioneller wie organisationaler Verfassungen und Strukturen. Im Rahmen des Reformprozesses der EKD in Deutschland wird tendenziell die Rolle der Institution zugunsten einer allgemeinen Organisationgestaltung vernachlässigt.
Institution (lat. institutio = Einrichtung, Erziehung, Anleitung) ist in der Soziologie eine mit Handlungsrechten, Handlungspflichten oder normativer Geltung belegte soziale Wirklichkeit, durch die Gruppen und Gemeinschaften nach innen und nach außen hin verbindlich (geltend) wirken oder handeln. Die Institution ist ein System miteinander verknüpfter, formgebundener (formaler, d.h. gesetzlich fixierter, also staatlich sanktionsbewehrter) und formungebundener (informeller, d.h. in der Gesellschaft faktisch akzeptierter) Regeln. Eine Institution hat die Funktion, individuelles – und damit soziales – Verhalten in eine bestimmte Richtung zu steuern. Institutionen sind selbstorganisierende Regeln. Die Institution bringt Ordnung in alltägliche Handlungen und vermindert damit die Unsicherheit von Individuen, was andere Individuen wohl in bestimmten Situationen tun werden7. Beispiele für Institutionen sind jegliche Regeln und Normen, Verfassung, Kartellrecht, Strafrecht, Verträge (allgemein), StVO, DIN-/ISO Norm, Unternehmensleitsätze, Landessprache, Benimmregeln, Sitten und Bräuche.
Dagegen sind Organisationen Gruppen von Personen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen. Das Merkmal der Organisationen ist die formell festgelegte Mitgliedschaft; jedes Mitglied hat sich den spezifischen Regeln der Organisation einzuordnen. Institutionen sind hingegen Regeln, die für eine ganze Gesellschaft gelten: es ist, anders als bei ökonomischen und politischen Organisationen (Unternehmen, Parteien), nicht vorgesehen, dass ein Mitglied aus irgendwelchen Gründen (Profit, politische Opportunität) ausgeschlossen wird. Eine Organisation ist ein bewusst geschaffenes, zielgerichtetes Gebilde, das Gründer und auch ein Gründungsdatum hat. Jede Organisation hat Mitglieder. Für Institutionen gilt generell, dass sie ohne Mitglieder denkbar sind. So lässt sich beispielsweise die Universität einerseits als Organisation und andererseits als Institution beschreiben. Als Organisation ist sie ein soziales Gebilde aus Lehrenden und Lernenden sowie aus Forschern, Verwaltern und anderen Bediensteten, die in einem arbeitsteiligen, planvollen Zusammenspiel miteinander agieren; als Institution ist sie eine gesellschaftliche Einrichtung, die der Vermittlung, Tradierung und Generierung von praktischem und orientierendem Wissen dient.
Als Institution versteht sich Kirche als »Geschöpf des Wortes« (creatura verbi). Ihre Legitimation liegt außerhalb ihrer selbst; institutioneller Aufbau, Leitung und Verwaltung haben sich von dem Auftrag Jesu Christi her zu legitimieren. Der Gesellschaft und den gesellschaftlichen Milieus tritt Kirche als Institution entgegen. Aber ihre Besonderheit ist, dass sie nicht fordernd, sondern ausschließlich dienend auftritt. Sie verfügt über keine Exekutive wie z.B. die Institution der Rechtssprechung oder der Polizei. Vielmehr ist ihr Auftrag als Institution ein doppelter: Sie hinterfragt die bestehenden institutionellen Ordnungen auf deren letzten Anspruch hin und stellt sich zugleich als Institution permanent selbst in Frage. Zu dieser Funktion bedarf es unaufgebbar des Amtes des Theologen bzw. der Pfarrerin. Das theologische Kerngeschäft besteht weder in der Abwicklung organisatorischer Aufgaben noch in der institutionellen Selbstgefälligkeit, dem Habitus, sondern in der Wahrnehmung dieser Doppelfunktion. Als Beispiel führe ich den Hausbesuch durch die Pfarrerin, den Pfarrer an. Diese kommen nicht als Vertreter einer Organisation, sondern einer Institution. Anders gesagt: Sinn des Besuches ist nicht die »Mission«, sondern die Selbstöffnung. Die Wahrnehmung des Gegenübers und dessen Lebenssituation, die eigene Transparentmachung und des »sich in Frage stellen Lassens« eröffnen einen Raum an Begegnung im Horizont des Reiches Gottes und des Auftrags Jesu Christi.
Die Kirche führt nicht; sie wird geführt. Sie bekennt Jesus Christus als ihr Haupt. Durch die Kirche bringt sich der für uns gestorbene und für uns auferweckte Christus in die Welt ein. Wenn Kirche auf den Milieuansatz zurückgreift, dann in dem Wissen, dass sie selbst in Milieus gefangen und »geknechtet« ist. Diese Reflexion vollzieht sie aber als Institution. Die Milieuanalyse dient der Reflexion, dass Kirche gebunden ist und selbst einer neuen Freiheit bedarf. In den Milieus, gerade in denen, die sie nicht erreicht, kommt der auferweckte Christus in seiner Verborgenheit der Kirche entgegen, um mit ihr die Menschen zu Kindern Gottes zu machen, die zur Freiheit berufen sind.
Mit dieser Position lehne ich Tendenzen ab, den Institutionsbegriff der Kirche auszuhöhlen und dem Schlagwort zu folgen »Wo Institution war, muss Organisation werden«8. Beide Begriffe beinhalten komplementäre Dimensionen; beide spiegeln eine Wirklichkeit wider. Während Kirche als Institution entlang der Werthaltungen der Milieus wahrgenommen wird und sich zu repräsentieren hat – in der Darstellung der Sinus-Milieus findet sie sich bildlich in der Vertikalen –, arbeitet Kirche als Organisation entlang der bildlichen Horizontalen der Sinus-Milieus. Und das heißt, als Organisation geht sie auf die wirtschaftlichen Eigenständigkeiten und Abhängigkeiten, Bildungsstandards, Lebensraumverhältnisse der Gesellschaft ein. Der eine Ansatz kann nicht zugunsten des anderen aufgegeben werden. Kirche nur als Institution erstarrt ohne organisationelle Aufgeschlossenheit; Kirche nur als Organisation verliert ihr Fundament ohne institutionelle Selbstbindung.

Die Sichtweise der Milieus
Von den Milieus wird Kirche als Institution unterschiedlich wahrgenommen; zugleich gibt es aber eine die Milieus übergreifende Vorstellung von dem, was Kirche als Institution zu leisten hat. Nach wie vor wird ihr von einer überwiegenden Mehrheit Vertrauen entgegengebracht; Nächstenliebe und gesellschaftliche Verantwortung werden als ihr eigen angesehen. Kirche als Institution ist bestimmt von den Kasualien, die ihr in klassischer Form zugeschrieben werden und die genuine Aufgabe der Kirche sind. Diese Institutionalisierungen sind ihrerseits mit Institutionen wie z.B. der Ehe oder der Familie verbunden. In den klassischen Aufgabenfeldern der Kasualien treffen sich die institutionellen Teilbereiche der Gesellschaft.
Klassische institutionelle Setzungen sind der Gottesdienst und der Hausbesuch. Während aber der Gottesdienst in hochkomplexer Form institutionelle und organisatorische Elemente verbindet, ermöglicht der Hausbesuch die schlichteste und persönlichste institutionelle Darstellung. Übergreifend wird der Hausbesuch von allen Milieus in der Regel wertgeschätzt, auch von jenen Menschen, die kirchenkritisch oder kirchenablehnend eingestellt sind. Traditionelle Milieus schätzen den Besuch als wertbindend, etablierte Milieus als Möglichkeit kulturspezifischer Begegnung, und moderne Performer und Experimentalisten schätzen ihn als eine für sie ungewohnte Form von Anbindung im räumlichen Lebenskontext9.

II. Kirche und Milieu (Dieter Beese)
»Besauft eich nich un bringt det Sarg wieder, die Müllern ihre Möblierte braucht’n morjen ooch.« Begriffe können Geschichte machen, zumindest aber Karriere. Der Begriff »Milieu« hat auf jeden Fall das Zeug dazu: »In seiner Kunst bevorzugte der ›Pinselheinrich‹ genannte [Heinrich Rudolf] Zille Themen aus dem Berliner ›Milljöh‹, das er ebenso lokalpatriotisch wie sozialkritisch darstellte. Seine Figuren und Szenen stammten vornehmlich aus der sozialen ‚Unterschicht’ beziehungsweise aus Randgruppen und aus den Berliner Mietskasernen«.10
»Der kommt aus dem Milieu ...« Es gab Zeiten, als »Milieu«, »asoziales« und »kriminelles Milieu« synonym gebraucht und entsprechend bewertet wurden. Das hat sich geändert. Up to date ist, wer milieubewusst und milieusensibel ist. Heute zählen auch Konservative, Etablierte, Postmaterielle und moderne Performer zum Milieu, obwohl sie die obere Sphäre der Sinuskartoffel bewohnen. Allerdings: Sie bilden nicht »das«, sondern ein je eigenes Milieu, das sich von anderen unterscheidet.

Ausschlussmechanismen zwischen den Milieus
Milieutheoretische Ansätze und deren Aufnahme in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen gehen eine Wechselwirkung ein. Pierre Bourdieu, von der sozialen Ungleichheitsforschung herkommend, setzte sich vor allem kritisch mit den Ausschlussmechanismen zwischen den Milieus auseinander. Diese Ausschlussmechanismen werden durch den Habitus, abhängig vom erworbenen Bildungskapital, wirksam. Die Milieus stabilisieren das Macht- und Geldgefälle einer Gesellschaft und verschleiern zugleich die ökonomischen Bedingungen, unter denen sie entstehen. Konsumorientierte Milieuforschung dagegen verfolgt, affirmativ gegenüber sozialer Ungleichheit, das Interesse, die Äußerungsformen sozialer Ungleichheit ökonomisch zu nutzen. Präzise angepasste Marketingstrategien dienen kundenorientiert und zielgruppengenau dem Absatz von Produkten und der Durchsetzung entsprechend kalkulierter Preise am Markt.
Kommen wir »noch« bei den Menschen an? Finden die Menschen uns »noch« wichtig und begehrenswert? Was haben andere, was wir nicht haben? Wie können wir die Menschen »wieder« erreichen? In der Kirche wird die Milieudebatte zwar auch kapitalkritisch hier oder ökonomiefreundlich dort geführt, dominant ist aber insgesamt eher die Sorge, gesellschaftliche Relevanz zu verlieren, mit seinen Angeboten nicht attraktiv zu sein und mit kirchlichen Inhalten an Plausibilität zu verlieren.
Die Kirche thematisiert sich selbst unter der Defizitperspektive »Milieuverengung« einschließlich der entsprechenden apologetischen Reflexe und setzt die lange eingeübte kirchliche Krisenrhetorik in neuem Gewande fort. Oder – das ist die andere Seite der Medaille – am Horizont zeigt sich ein Silberstreif möglicher missionarischer Erfolge. Das setzt hochgespannte Erwartungen frei. Nicht zufällig gehen die Renaissance eines eher ungeklärten Missionsbegriffs und eine Popularisierung der Milieuforschung Hand in Hand: Durch die Zauberbrille der Milieutheorie sehend gemacht und durch die Siebenmeilenstiefel zielorientierten strategischen Handelns spürbar beschleunigt, geht das Gottesvolk angestrengt der Zukunft erhofften missionarisch bewirkten Wachstums gegen den Trend entgegen.

Innerkirchliche Polarisierungen
Der Begriff »Milieu« führt in der Kirche zu erkennbaren Polarisierungen. Dabei können unterschiedliche Interessen die Diskussion dominieren, die zueinander in Spannung stehen: das institutionell-organisatorische Selbsterhaltungsinteresse, das Interesse an Glauben weckender Verkündigung, das Interesse an öffentlicher Parteinahme für verschiedene ethische Belange und das Interesse an der Verstärkung bestimmter religiöser Haltungen und Praktiken.
Innerkirchliche Auseinandersetzungen entlang den traditionellen Konfliktlinien kristallisieren sich auch am Milieubegriff. Er bietet sich an zur Legitimierung der eigenen Arbeit und zur Delegitimierung anderer Arbeitsbereiche und Zugangsweisen und somit auch Personalstellen und Budgets. Je mitgliederorientierter und zielgruppenerreichungsfähiger das Image, desto berechtigter die Position im internen Machtkampf zwischen Treue zum Eigentlichen und Selbstentäußerung an den Zeitgeist.
Polarisierungen und falsche Alternativen sind die eine Seite der Medaille, strategische und taktische Allianzen die andere: Die Berufung auf das sog. »Eigentliche« und struktureller wie mentaler Konservativismus mit dem Leitbild »Die Kirche bleibt im Dorf« gehen gern Hand in Hand; das Bestreben, hohe zahlenmäßige Akzeptanz und Zustimmung zu erwerben, verbindet sich gern mit dem Leitbild der aktiven erfolgsorientierten missionarischen Gemeinde, sei es auf dem religiösen Markt, sei es gegenüber der »Welt«. In Westfalen derzeit besonders beliebt ist das Historienspiel: Wir, die guten einzig legitimen Erben des Kirchenkampfes, gegen euch, die eigenmächtigen Macher als verkappte Nachfahren der Deutschen Christen in neuem Gewande. Kirchenkampfrhetorik aus zweiter Hand mit erhöhtem Anspruch zu ermäßigtem existentiellen Tarif wird, gern auch unverlangt, mitgeliefert.
Vermittelnde Wege des protestantischen Reformismus (ecclesia semper reformanda) setzen auf das Leitbild einer ihren Glauben lebenden, Menschen gewinnenden, Mitglieder stärkenden und Verantwortung übernehmenden Kirche in einer zusammenhängend abgestimmten pluriformen Sozialgestalt, die der Person in ihren sozialen Bezügen Anregung, Modell und Freiraum zu einem Leben im Glauben gibt.

Wechselspiel von Institution, ­Organisation und Person
Von besonderer Bedeutung für die Kommunikation des Evangeliums in unterschiedlichen Milieus ist, wie Norbert Ammermann mit Recht darlegt, das Wechselspiel von Institution, Organisation und, so würde ich ergänzen, Person. Mir leuchtet diesbezüglich die Differenzierung ein, die Christoph Hubig entwickelt hat11. Er unterscheidet die Institution als System von Orientierungen gegenüber der Organisation als System von Chancen und dem Individuum als dem tatsächlichen Akteur. Wer die (Mit-)Verantwortung für die Entwicklung einer Kirchengemeinde, eines Kirchenkreises oder anderer kirchlicher Arbeitsfelder trägt, findet hier eine recht unkompliziert handhabbare aber zugleich auch hinreichend differenzierungsfähige Hilfestellung zur Analyse und Gestaltung.
Unterschiedliche Milieus zeichnen sich dadurch aus, dass die Personen, die ihnen angehören, besonderen Orientierungen in Fragen des Lebensstils, der politischen und religiösen Auffassungen und Kommunikations- und Vergesellungsformen folgen. Um derartigen Orientierungen entsprechen zu können, bedarf es passender Gelegenheiten, eben sozialer und mentaler Chancen, welche die Personen nutzen oder auch nicht nutzen können. So nimmt zugesagte Freiheit, wie sie in der Rechtfertigungslehre auf den theologischen Begriff gebracht wird, die soziale Form institutionell vermittelter Selbstbestimmung an.
Aus kirchlicher Sicht dürfte die besondere Herausforderung darin bestehen, bewusst Chancen religiöser Praxis zu organisieren, die pluralen Kirchenbildern entsprechen. Dabei sollen diese Chancen gleichermaßen die Individualität der Person und die Einheit der Kirche symbolisieren und in der Kommunikation des Evangeliums Milieuspezifika sowohl aufnehmen als auch irritieren.
Die Kirche hält eine möglichst große und erkennbare Außenoberfläche verlässlich zur Begegnung vor. Ihre ehemaligen, aktuellen und künftigen Glieder entscheiden selbst über Zeitpunkt, Häufigkeit und Form, derartige Möglichkeiten wahrzunehmen, von der flüchtigen Begegnung bis zur Erfahrung verbindlicher dauerhafter Gemeinschaft. Sie suchen und finden die lokalen, institutionellen oder existentiellen Orte, die sie brauchen, damit ihr Glaube Nahrung, Bestätigung und Gelegenheit zur Entfaltung findet. Dies setzt voraus, und das ist die entscheidende organisationsethische Herausforderung, der die Kirche sich selbst zu stellen hat, dass die Kirche sensibel und kompetent mit ihren eigenen internen Milieudifferenzierungen umgeht und dies in ihrer Selbstgestaltung auf allen Ebenen und in allen Bereichen deutlich macht.
Ermutigend in dieser Hinsicht sind eine Reihe positiver Beobachtungen: In der Kircheneintrittsforschung (Münster) konnten wir an individuellen Biografien bemerkenswerte Lebens- und Glaubenswege nachvollziehen: (Ehemalige) Gemeindeglieder entwickeln Lebensgeschichten, in deren Verlauf sehr verschiedene kirchliche Begegnungssituationen, schicksalhafte Widerfahrnisse und spontane Intuitionen in die Bekräftigung einer persönlichen Glaubensgeschichte münden (Believing). Dies kann auch zu einem (Wieder-) Eintritt in die Kirche führen (Belonging). Die neue oder erneuerte Zugehörigkeit manifestiert sich zwar nicht unbedingt in einer traditionellen kirchlichen Normalpraxis, kann auch nicht ohne weiteres als Effekt einer missionarischen Strategie verifiziert werden, ist aber dem Gläubigen selbst gewiss und klar und hat auch empirisch nachvollziehbare Konsequenzen.
Eine weitere Beobachtung aus der Kircheneintritts- und Konversionsforschung (Greifswald)12 lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass Glaubensgeschichten alters-, geschlechts- und milieuunabhängig begonnen und wieder aufgenommen werden können. Ermutigend dabei ist, dass auch organisationsbedingte Hürden hartnäckig überwunden werden, wenn der Wille zum Wiedereintritt erst einmal gefasst ist. Es darf also bei allen Versuchen der Optimierung kirchlichen Handelns auch etwas schief gehen.
Motivierend für den Wiedereintritt (wenn er im Einzelfall auch erst zehn Jahre nach dem ersten inneren Impuls erfolgen mag) sind gelungene Kontakte an irgendeiner Stelle der großen Außenoberfläche der Kirche vorausgegangen. (Derartige Außenoberflächen können übrigens wie bei einem Schwamm auch innen, also dem äußerlichen Blick zunächst verborgen liegen. Der Schweizer Käse, der nach allen Seiten offen und deshalb nirgendwo ganz dicht ist, erscheint in dieser Perspektive als durchaus gleichnisfähig für die Kirche: offen, nahrhaft und wegen seiner besonderen Mischung der Masse mit ihren Gärungsblasen eigenwillig würzig.)
In einer milieusensiblen Perspektive kommt es ganz wesentlich darauf an, dass alle Formen des persönlichen, öffentlichen und kirchlichen Christentums immer im Blick bleiben. Für die konkrete Verantwortungsregion heißt dies: Die gesamte evangelische Verbands-, Vereins- und Initiativfamilie ebenso wie die unterschiedlichen Gemeinden, Einrichtungen und Dienste mit ihren Ebenen und Handlungsfeldern bedürfen nicht nur allgemein der Aufmerksamkeit sondern auch einer kulturstärkenden Kommunikation und eines systematischen Schnittstellenmanagements. Dies ist jedenfalls dann geboten, wenn wir die Sozialgestalt der Kirche als einen Auftrag verstehen, den wir gegenüber Gott und den Menschen zu verantworten haben, und wenn wir sorgsam mit den uns anvertrauten Menschen und Gütern umgehen wollen.

Lernschritte einer öffentlich-rechtlich verfassten Kirche
Innerhalb der öffentlich-rechtlich verfassten Kirche liegt noch ein weites Feld zu erbringender öffnender und integrativer Lernschritte vor uns: Die Aufgaben und Ziele auf allen Ebenen und in allen Bereichen z. B. einer Landeskirche, eines Kirchenkreises und einer Kirchengemeinde (mit ihrer kommunalen und regionalen Nachbarschaft) theologisch stimmig, organisationspraktisch passend und vor allen Dingen menschlich wohlwollend und mit einem Vorschuss an Vertrauen abzustimmen, bleibt eine Herausforderung, die uns täglich bis zum Ende der Zeiten begleiten wird. Die Kirche ist eine Dauerbaustelle, ein stets auf sein Haupt zuwachsender Leib, das ständig wandernde Gottesvolk, eine Bürgerschaft, die hier keine bleibende Statt hat, sondern die zukünftige sucht.
Ein derartiges Vorhaben wird sich mit erheblichen Widerständen auseinanderzusetzen haben, liegt doch der Verdacht des theologischen Ekklesiasmus und des organisatorischen Zentralismus ebenso schnell auf der Hand wie der Vorwurf konfessioneller oder moralischer Beliebigkeit. Hinter scheinbar großen theologischen und religiösen Begriffen und Ambitionen einschließlich der je eigenen verbergen sich ebenso wie hinter dem frömmsten Augenaufschlag gern die Macht der Gewohnheit und die Gewohnheit der Macht.
Die latente milieubedingte wechselseitige Ablehnung unterschiedlicher innerkirchlicher Glaubens- und Sozialformen äußert sich gern in der Verweigerung von Transparenz, Rechenschaft, Verbindlichkeit, Wertschätzung und Zusammenarbeit. Warum soll es uns mit unseren innerkirchlichen und innergemeindlichen Konflikten und Widerständen heute besser ergehen als den Korinthern in ntl. Zeit? Der Leib Christi war schon damals mehr als nur einer Zerreißprobe ausgesetzt, die Sturmwinde rüttelten schon damals an den Häusern und die Sehnsucht nach den Fleischtöpfen Ägyptens bleibt dem wandernden Gottesvolk stets treu.
Gerade der Umgang mit diesen Widerständen ist aber die Probe aufs Exempel. Das rechte Maß von wahrhaftigem Glauben und geschwisterlicher Liebe bildet den Qualitätsmaßstab für das Widerstandsmanagement auf der Suche nach einer dem Wort Gottes entsprechenden Sozialgestalt der Kirche heute, die anschlussfähig ist für die soziale Umwelt. Dass die Kirche Jesu Christi immer Menschen gewinnen und erfüllen wird, steht außer Zweifel; denn Gottes Wort kommt nicht leer zurück. Ob dies aber in der Form einer offenen und öffentlichen evangelischen Kirche in der Tradition der Reformation geschehen wird, ist nicht zuletzt eine Frage sowohl der persönlichen, organisatorischen und institutionellen Verantwortung der Kirche wie auch der Gesellschaft, in der die Kirche lebt.
In dem Maße, wie die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern zwischen der Pflege des Status quo und überambitionierten intentionalen Missionsanstrengungen aufgerieben wird, sinken die Chancen, eine zukunftsfähige Gestalt des kirchlichen Protestantismus zu realisieren. Gleichzeitig gibt es Grund zu der Hoffnung, dass wechselseitige Unterstützung und entsprechende sich gegenseitig verstärkende Rückmeldungen zur täglichen Erfahrung gehören können. Dann wachsen die Bereitschaft und Motivation, sich auf dieses Wechselspiel von Institution, Organisation und Person in der Kommunikation des Evangeliums einzulassen.
Eine Garantie des Erfolgs gibt es nicht. Die Kirche sollte allerdings bei ihrer Selbstgestaltung in Freiheit und Verantwortung aus Glauben möglichst viele Chancen des Gelingens ergreifen und nutzen. Der Geist weht, wo er will; und wenn er will, warum nicht in einer Kirche, die ihre Reform gleichermaßen als Zusage wie als Gestaltungsauftrag wahrnimmt und annimmt?

III. Der Milieuansatz als – ­selbstkritische Evaluation ­kirchlicher Arbeit
(Norbert Ammermann)
Zwei wichtige Anregungen nehme ich aus dem Beitrag von Dieter Beese mit: Zum einen die Forderung nach einem systematischen Schnittstellenmanagement und zum anderen die Warnung vor einer missionarischen Engführung und die damit verbundene Forderung nach Instanzen selbstkritischer Reflexion kirchlicher Arbeit.
Gemeindearbeit, diakonische Arbeit, funktionale Dienste und Verwaltungsarbeit sind als Lebensäußerungen der Organisationsform Kirche aufzufassen. Alles das, was an Wissen von praktischer Theologie, Humanwissenschaften, Sozialwissenschaften, Kybernetik, Systemwissenschaften u.v.a.m. erarbeitet wird, wird in der Regel auf den Einsatz und die Verwertbarkeit in der organisationalen Selbstäußerung geprüft. Das fängt an bei der Predigtmeditation zum Predigttext des Sonntags und führt bis in die systematische Teamentwicklung der Mitarbeitenden einer Kirchengemeinde und eines Kirchenkreises. Die Säulen der organisationalen Selbstentwicklung sind Verkündigung und Gottesdienst, Öffentlichkeit und Kultur, Diakonie und gesellschaftliche Verantwortung, Erziehung und Bildung, Leitung und Verwaltung u.a.m. Wie können diese kritisch im Sinne eines kybernetisch-selbststeuernden Prozesses in die kirchliche Arbeit eingebunden werden?
Milieuanalyse kann als Regelelement in der Kybernetik eines Kirchenkreises verstanden werden. Beispielhaft führe ich hier auf, wie dieser Ansatz in einer Kirchengemeinde im Ev. Kirchenkreis Münster entwickelt wird: Milieus begegnen uns in den »subjektiven Theorien« von Menschen, die in ihren Lebensformen und Lebensinhalten auf bestimmte Milieuvorgaben zurückgreifen. Was zählt, sind nicht unsere Theoreme über Milieus, sondern die Milieusichtweise der Menschen in Kirchenkreis und Kirchengemeinde. Ein wesentlicher Zugang besteht im Verfahren qualitativer Interviews, die die »subjektiven Theorien« von Menschen zu erfassen helfen. Im Ev. Kirchenkreis Münster der EKvW haben sich folgende Wege ergeben:
–    Interviews von Menschen, die über die Wiedereintrittsstelle ihren Weg in die Kirche gefunden haben
–    Interviews von Menschen, die am Amtsgericht ihren Kirchenaustritt vollzogen haben
–    Online-Feedbacks im Internet, die an Kirchengemeinden angebunden sind
–    Kurzinterviews nach Zufallsauswahlen
–    zielgerichtete Kurzinterviews mit Menschen in bestimmten Milieus.
Diese werden beständig ausgewertet nach folgenden Fragestellungen: Welche Kategorien bilden Menschen, um Kirche in sich repräsentiert zu sehen? Welche Korrelationen ergeben sich zwischen Milieuzugehörigkeiten und Sicht von Kirche? Welche biografischen Entwicklungslinien zeigen die Personen auf und wie konnte Kirche an diesen Linien »andocken« oder warum wurde sie abgelehnt?
Aus diesen Fragen können strategische Handlungsziele auf Verantwortungsebenen abgeleitet, z.B.: Welche Repräsentationsformen sollten für welche Zeit bevorzugt werden? Wie ist auf bestimmte Lebensräume und deren Milieus zuzugehen?
Der zweite wesentliche Zugang erfolgt über die Analyse von Indikatoren in geographischen Informationssystemen (GIS). Diese Systeme ermöglichen nicht nur die Abbildung der räumlichen Verteilung der Gemeindemitglieder nach unterschiedlichsten Kategorien, sondern in Zusammenarbeit mit den kommunalen Verwaltungen und Statistikämtern die Hinzuschaltung unterschiedlichster Layers wie Beschäftigungsgrad eines Bezirkes, Infrastrukturen, Verkehrsanbindungen, wirtschaftliche Strukturen usw. Hier wird eine Zusammenarbeit mit der Stadt Münster entwickelt, die solche Daten bis auf Stadtzellengröße liefern kann.
Aus diesen Beobachtungen können verschiedene Prozesse entwickelt werden: Kirchengemeinden analysieren ihren Lebensraum, z.B. durch Stadtteilbegehungen, die von unterschiedlichsten Milieuvertretern geführt werden (eine Person des etablierten Milieus wird Lebensraum und Gemeinde anders wahrnehmen als eine Person der überlebensorientierten konsummaterialistischen Milieus); die Anordnung der Milieus wird auf Fragen der Gemeindekonzeption angewendet; der Bildungsauftrag von Kirchenkreis und Gemeinde wird entsprechend überprüft und neu ausgerichtet, was natürlich auch für die restlichen Handlungsfelder von Gemeinde gilt.
So suchen wir Gemeindekonzept und Lebensraum ineinander abzubilden, um bestimmte Engführungen zu vermeiden, als da z.B. wären: Gemeindearbeit rein traditionalistisch als Wahrnehmung von Amtshandlungen und Gebäudeverwaltung engzuführen und andere Milieus damit auszublenden, oder als anderes Extrem: Gemeindearbeit funktional völlig aufzulösen und nur noch als speziellen Dienstleistungsservice für bestimmte Milieus zu betrachten. Wir haben positive Erfahrungen gesammelt:
–    Menschen aus unterschiedlichen Milieus des Lebensraumes führen sich gegenseitig durch ihren Stadtteil und ihr Wohnquartier und wir lernen, unseren Lebensraum aus der Perspektive des anderen wahrzunehmen, aus hedonistischen, konsumorientierten, etablierten, bürgerlichen und weiteren Perspektiven.
–    Kirchengemeinden erkennen, dass sie Lösungen zu Problemen und Aufgaben beitragen können, die sie vorher gar nicht zu sehen vermochten (Mitgestaltung von Jugendtreffs, Marktleben, Stadtteil-Ästhetik, offene Gottesdienste ...).
–    Die gegenseitige Vernetzung wird gefördert; indem Institutionen, Organisationen und Einrichtungen im Lebensraum nicht mehr nur ihr »Eigenes« zu betreiben versuchen, gelangt man gemeinsam zum »Eigenen und Eigentlichen«, nämlich Lebensmöglichkeiten zu fördern und die gute Botschaft des Evangeliums so gemeinsam erlebbar und erfahrbar zu machen.
Ich greife abschließend den »Schweizer Käse, der nach allen Seiten offen und deshalb nirgendwo ganz dicht ist« von Dieter Beese auf. Mathematisch ausgedrückt ist der Idealfall des Schweizer Käse das Möbiusband. Man erhält dieses Band, indem man ein Ende einmal verdreht und die Enden dann zusammenklebt. Dieses Band kennt keine Innen- und Außenfläche mehr. Indem ich es abschreite, gelange ich von dem, was ich als »innen« definiere, zu dem, was dann ein »außen« ist, und doch kann dieses »außen« jederzeit immer als »innen« und das »innen« als »außen« verstanden werden. Genau das bietet aber der milieuanalytische Ansatz für Kirche und Gemeinde: gängige Konstrukte wie »Zugehörigkeit – Nicht-Zugehörigkeit«, »Kerngemeinde – Randgemeinde«, »Adressat – Absender« u.v.a.m., mit denen wir glauben, die Welt unseres kirchlichen Handelns erfassen zu können, hinterfragen zu müssen und sich in eine Bewegung von Kirche und Gesellschaft, Gemeinde und Kommune hineinzubegeben, die einen gemeinsamen Horizont aufleuchten lässt, den wir als Christen und Theologen als Reich Gottes verstehen.

Anmerkungen:
1    Den folgenden Ausführungen liegen Forschungsprojekte und Programmentwicklungen des Ev. Kirchenkreises Münster/Westf. zugrunde, in denen Milieuanalyse konzept- und anwendungsbezogen entwickelt werden (s. www.mikig.de).
2    Dieses Projekt, dessen Ergebnisse unter dem Titel Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel zuerst 1993 und später in einer vollständig überarbeiteten und aktualisierten Auflage 2001 veröffentlicht wurden (vgl. Vester u.a. 1993, 2001), wurde zum Wegbereiter weiterer Studien und zum Markenzeichen der hannoverschen Milieuforschung. Dabei sind einige Voraussetzungen für diese Forschung schon längerfristig geschaffen worden. Bereits in den 1960er Jahren arbeiteten Michael Vester und Peter von Oertzen gemeinsam mit anderen an einem Konzept gesellschaftlicher Klassen, das der eigensinnigen Beteiligung sozialer Akteure am Zustandekommen der Alltagspraxis stärker Rechnung trug als es im Mainstream der deutschen Sozialwissenschaften üblich war (vgl. Vester 2003: 198f).
3    http://www.sociovision.de.
4    http://www.sigma-online.com/de.
5    http://www.microm-online.de.
6    Beispiele unter www.mikig.de.
7    Ein einfaches Beispiel: die Institution der STVO, ohne die ein geregelter Verkehr nicht möglich wäre.
8    So Prof. Dr. Wolfgang Nethöfel auf der 3. KVI-Tagung 2008, s. http://www.netzwerkkirchenreform.de/institution_organisation.html.
9    In einem Forschungsprojekt des Ev. Kirchenkreises Münster zum Selbstverständnis Wiedereingetretener zeigt sich die Tendenz, dass Wiedereintritte in eine institutionell wahrgenommene, nicht organisational wahrgenommene Kirche erfolgen. Das heißt, für die Wiedereingetretenen sind Aktivitäten von Gemeinde ohne Interesse; selbst Gottesdienste bilden nicht unbedingt einen »Attraktor«. Vielmehr wird gesagt, dass es in »unserer Landschaft« doch eine Einrichtung, eine Institution gegen muss, die auch »dahinter« blickt und kritisch gegenüber der Politik und dem Staat sein kann und aus dieser Einstellung heraus ggf. Lobbyarbeit für diejenigen wahrnehmen kann, die sich sonst nicht mehr vertreten sehen.
10    http://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Zille.
11    Hubig, Christoph: Die Modellierung institutionellen ökonomischen Handelns. In: Berliner Debatte Initial 5/6, 2004, 101-111.
12    Wie finden Erwachsene zum Glauben? Einführung und Ergebnisse einer Studie des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung in Greifswald (epd-Dokumentation 15.12.2009, Nr. 52).

Über die Autorin / den Autor:

Dr. Norbert Ammermann, evang. Pfarrer im Kirchenkreis Münster, apl. Prof. für Prakt. Theologie an der Kirchl. Hochschule Bethel, Forschungsschwerpunkte: Organisationsethik, Milieuana­lyse; s. www.norbert-ammermann.de.

Superintendent Dr. Dieter Beese, Superintendent des Evang. Kirchenkreises Münster, apl. Prof. für Prakt. Theologie an der Ruhruniversität Bochum (Evang.-Theol. Fakultät), Arbeitsschwerpunkte: Kirchliche Zeitgeschichte, Sozialethik, Kybernetik, Diakoniewissenschaft.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2011

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