Am 26. November 2009 wurde Peter Steinacker, Karl Lehmann, Navid Kermani und Salomon Korn der Hessische Kulturpreis verliehen. Im Vorfeld der Preisverleihung war es zu Irritationen um eine Veröffentlichung des muslimischen Schriftstellers Kermani gekommen. Das »Deutsche Pfarrerblatt« dokumentiert nachstehend die Preisrede von Kirchenpräsident i.R. Prof. Dr. Peter Steinacker.


Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrte Mitglieder des Kuratoriums, hochverehrte Mitpreisträger, meine Damen und Herren,

für die Ehre, mich mit dem Hessischen Kulturpreis auszuzeichnen, danke ich den Mitgliedern des Kuratoriums herzlich. Ich bin sehr bewegt, dass Sie meine Arbeit in Kirche und Gesellschaft in dieser Weise würdigen.
Gestatten Sie mir zu Beginn eine ganz persönliche Bemerkung. Wenn ich dem Kuratorium für die ehrenvolle Anerkennung meiner Arbeiten in Gesellschaft und Kultur danke, dann danke ich zugleich denen, die durch ihre private und gesellschaftliche Arbeit, durch ihre kultivierte Persönlichkeit, ihren Glauben, ihr Denken oder ihre Kunst in mir die Freude an allem geweckt haben, was in unserem Leben schöpferisch gemacht, gewollt, gedacht, gefühlt, beklagt oder besungen werden kann. Ich danke den Lehrerinnen und Lehrern des Lebens, des Denkens und des Glaubens, die in mir den Sinn weckten und Sprache dafür gaben, die kontingente Wirklichkeit nun meines eigenen Lebens, seine Abgründe und Schönheiten, im Zusammenhang mit der kulturellen Entwicklung unseres Landes und meines Glaubens nicht nur zu verstehen, sondern ihr auch in Freiheit eine Gestalt geben zu können. Und zu diesen Lehrerinnen und Lehrern des Lebens gehören Juden, Christen, Muslime und Atheisten.
Mit uns Vertretern verschiedener Religionen und Konfessionen soll ja, wenn ich es richtig verstanden habe, neben unserer Person vor allem die Bedeutung der Religion als ein schöpferischer Kulturfaktor gewürdigt werden, ohne den das Land Hessen nicht auskommt und nicht auskommen möchte. Zwar sind wir vier alle sehr unterschiedlichen Temperaments und gewiss sehr unterschiedliche Menschen, jedoch stehen wir alle dafür, dass unsere Religionen in vielfältiger Weise unsere Kultur und Gesellschaft mitgestalten. Beide sind ohne die Impulse und Traditionen des Judentums, des Christentums und des Islam – neben den Errungenschaften der Aufklärung – überhaupt nicht zu verstehen. Wenn unter Berufung auf die verfassungsgemäße Trennung von Staat und Religion gefordert würde, von diesen religiösen Impulsen ausschließlich im Religionsunterricht, oder in den jeweils gesonderten konfessionellen Vergesellschaftungen, oder gar exklusiv nur in der Privatsphäre der Menschen Gebrauch zu machen, wäre das nicht nur ein Zeichen von religionswissenschaftlicher und religionssoziologischer Ignoranz.
Unser Grundgesetz hat aus guten Gründen eine andere Perspektive auf Religion und Religionsfreiheit. Denn Religion ist in allen Sphären unserer säkularen Kultur anzutreffen, ohne sie zu dominieren. Unsere Sprache, das zentrale Medium unserer Kultur überhaupt, verarmte, wenn sie die lebendigen Wurzeln im jüdischen, islamischen und christlichen Leben nicht mehr pflegen würde. Unsere Religionen sind umfassende Lebensgestaltungen und, da sie sich zu Sozialgebilden organisieren, ein prägender Faktor öffentlichen Lebens und wesentlicher Teil unserer Kultur als der Gesamtheit aller Lebensformen.
Der Intendant eines Staatstheaters beispielsweise, der die Zusammenarbeit mit einer Religionsgemeinschaft nicht aus inhaltlichen Gründen ablehnen, sondern sich auf Artikel 140 unseres Grundgesetzes berufen würde, demzufolge in Deutschland keine Staatskirche besteht, dürfte kaum noch ein spielbares Stück für sein Haus finden. Denn es gibt ja kaum ein musikalisches oder sprachliches Kunstwerk, das sich nicht in irgendeiner Form mit Religion auseinandersetzt, als selbst noch – beispielsweise im Werk Thomas Bernhardts – in ihrer Abwesenheit prägende Form menschlicher Daseinsbewältigung.
Freilich darf man nicht davon absehen, dass sich gerade auf diesem Sektor der Kultur in den letzten beiden Jahrhunderten etwas verschoben hat. Max Weber hat schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in seiner berühmten »Zwischenbetrachtung«1 darauf hingewiesen, dass die Kunst im Zusammenhang der Entfaltung des Intellektualismus und der Rationalisierung des Lebens sich als Kosmos immer bewusster erfasster selbständiger Eigenwerte zunehmend von der organisierten Religion löst. In diesem Lösungsvorgang übernimmt die Kunst die Funktion einer innerweltlichen Erlösung. Mit dem Versprechen, nicht nur vom Alltag, sondern vor allem auch von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus zu erlösen, tritt die Kunst in direkte Konkurrenz zur Erlösungsreligion.
Weber hat diesen Vorgang äußerst kritisch gesehen, weil er meinte, dass damit jede rationale und religiöse Ethik unmöglich werde. Denn das ästhetisch vermittelte innerweltliche Erlösungsversprechen verwandelt ethisch gemeinte Werturteile in Geschmacksurteile. Eine Lebensführung oder eine Handlung ist dann nicht mehr verwerflich, sondern nur noch geschmacklos. Jede normative ethische, aber auch jede auf Kohärenz zielende theologische Debatte landet dann über kurz oder lang am Ende der subjektivistischen Fahnenstange des: »Was gut ist, oder, religiös gesprochen: was Gott ist, das bestimme ich«. Von solcher, in die Dunkelheit der inneren Grüfte des bloß noch subjektivistischen Individuums hinabgesunkenen »unsichtbaren Religion« hat schon Max Weber nichts gehalten. Die Kirchen haben keinerlei Anlass, solche Bewegungen in ihnen selber auch noch theologisch zu hofieren.
Im Gegenteil: Mein Marburger Kollege Dietrich Korsch hat Recht, wenn er der evangelischen Theologie angesichts dieser Verschiebungen die doppelte Aufgabe stellt, als Religion unter Religionen die Begründung des Glaubens ansichtig zu machen und an der religiösen Kulturdeutung zu arbeiten. »Inwiefern«, fragt er, » ist der Protestantismus dazu in der Lage, sich deutend und orientierend in die gegenwärtige Kultur einzumischen – und zwar so, dass er nicht in sozialen Moralismus ausgreift, sondern bei seinem religiösen Thema bleibt ?«
Die Religion ist nicht in erster Linie die Schatzkammer der Werte einer Kultur, wozu sie von vielen gerne gemacht wird. Aber die Beantwortung dieser Frage ist nicht leicht und ihre Bearbeitung muss sich an drei Modellen bewähren: Erstens am Bildungsbegriff; denn hier wird entschieden, welche Kompetenzen zukünftig über den Stand und Gang der gesellschaftlichen Entwicklung entscheiden sollen. Ein religiöser Bildungsbegriff umfasst eben nicht nur den selbstverständlich nicht anders als konfessionell zu verantwortenden Religionsunterricht (nebenbei: selbstverständlich auch den islamischen und keinesfalls so etwas Obskures wie Religionskunde). Vielmehr ist der Bildungsbegriff so zentral zu fassen, dass er auch gerade für den so schwierigen, aber notwendigen Prozess der Integration der neu in unser Land strömenden Kulturen unverzichtbar ist. Zweitens »auf dem Felde der Kunst«. Drittens aber auch auf dem Feld der Religionen (die hier und heute gemeinsam geehrt werden), »deren weltgeschichtliche Koexistenz nicht nur zum Dialog herausfordert, sondern zu einem klaren Begriff der Unterschiede und Gemeinsamkeiten als dessen Grundlage.«2
Gleichwohl, diese Verschiebungen der religiös geprägten Wirklichkeitsverständnisse in andere Sphären der Kultur haben stattgefunden. Sie sind nicht nur auf die Kunst beschränkt, sondern Religiöses ist in ähnlicher Weise in die Politik, in die Ökonomie und die Wissenschaften eingesickert, also in die elementaren Kultursphären neben Religion und Kunst, die schon Schleiermacher als Charakteristika einer modernen, aufgeklärten und ausdifferenzierten Kultur beschrieben hat.
Genau an dieser Stelle – um mit etwas Gemeinsamem zu beginnen – hätten die in ihren Kernen analogielos verschiedenen Theologien unserer drei Religionen die dennoch gemeinsam anzugehende Aufgabe einer theologischen Religionskritik, welche die in Politik, Ökonomie und Wissenschaft ausgewanderte und in diesen nichtreligiösen Kultursphären eben falsch institutionalisierte Religion aufdeckt und jene zu ihren Sachen, also zur Weltlichkeit der Welt, zurückruft. Eine Politik, eine Ökonomie und technisch orientierende Wissenschaften werden gefährlich, wenn sie sich religiös aufladen. Sie gehören zu den vorletzten und nicht zu den letzten Dingen des Lebens.
Zu dieser gemeinsamen religionskritischen Aufgabe unserer Religionen ist kein Konsens in den zentralen Grundwahrheiten unserer jeweiligen Religionen nötig. Mehr noch, dieser ist auch gar nicht anzustreben – und zwar nicht nur deshalb nicht, weil er aus theologischen Gründen nicht zu erreichen ist. Denn unsere drei Religionen sind sich eben nicht gleich, ja sie sind in ihrem Kernbereich, das heißt: dem jeweiligen Verständnis der Gottheit Gottes unüberbrückbar verschieden. Das hat Folgen für unsere Beziehungen. Kein Christ darf einem Moslem oder einem Juden zumuten, als Vorbedingung für einen Dialog an die Trinität oder an Kreuz und Auferstehung Jesu als das universale Heilsgeschehen zu glauben, was Versuche, die Plausibilität dieses Glaubens vernünftig darzulegen und kritische Anfragen zu beantworten nicht ausschließt. Und umgekehrt darf kein Jude und kein Moslem – aber auch kein Christ in verzerrter Form vorauseilenden Gehorsams und um des lieben Friedens willen – von Christen den Verzicht auf die Substanz ihres Glaubens als Vorbedingung für einen Dialog über Glaubensfragen verlangen, was wiederum kritische Anfragen selbstverständlich nicht ausschließt.
Im Kernbereich der Religionen bleibt eine durch keinen Konsens überbrückbare Fremdheit gegenüber der anderen: »Die Überzeugung von der ›Absolutheit der eigenen Religion‹ gehört zum unmittelbaren Eindruck des ›eigenen‹ Gottes, der in seinem Hervortreten als ›der‹ Gott – Grund und Grenze allen Seins, Sinn und Freude allen Daseins wie Möglichkeit und Zukunft allen wahren Lebens – wirksam wird ... Der Absolutheitsanspruch der Religionen ist daher für die eigene Religion unabweisbar, für jede fremde Religion nicht nachvollziehbar.«3 Möglicherweise glauben wir alle an denselben Gott – aber ist es auch der gleiche?
Natürlich ist das für Kulturpolitik eine unbefriedigende Auskunft. Hier will man verständlicherweise lieber, dass es einträchtig und friedlich zugeht auf dem Sektor Religion. Das muss es auch. Aber Konflikte können auch eine weiterführende Dynamik haben, wenn sie sich an das Gebot der Toleranz halten. Manchmal habe ich den Verdacht, dass hinter diesem Wunsch die abwegige und in einen unverantwortlichen Relativismus führende Meinung steht, auf dem Feld der Religionen ginge es eigentlich doch immer um die gleiche Sache, oder, noch populärer: Die Religionen müssten sich doch verstehen, denn »wir glauben doch alle an den einen Gott«, wenn wir überhaupt noch an »etwas« glauben.
Jedoch tun wir in den Religionen genau dieses nicht. Und, fast noch gewichtiger: Gerade die Rückkehr der Religion ins öffentliche Bewusstsein zeigt uns ja, dass die Religionen ein erhebliches Konfliktpotential in sich enthalten. Religion als Religion ist nicht per se friedfertig. Dies lehrt nicht nur die bittere, von Zwang, Blut und Unterdrückung und Selbstperversion besudelte Religionsgeschichte. Das hat auch innere Gründe, die in der durch keine Inklusivität zu entspannenden Exklusivität des jeweiligen Gottesverständnisses ihre Mitte finden. Die Versuche, diese Exklusivität abzumildern, etwa durch die Behauptung einer theologischen Verwandtschaft der sogenannten »abrahamitischen Religionen« – was ist dann mit den anderen? – oder mit der Vision einer »Ökumene der Religionen« begeben sich auf dünnes Eis, das weder der historischen, noch der systematischen Prüfung standhält.
Nein, wir müssen damit anders umgehen, weil ohne religiöse Toleranz eine moderne, pluralistische Gesellschaft, die wir alle wollen, nicht funktionsfähig ist. Die Dynamik der modernen Gesellschaften wird doch durch ihre Differenzen, auch ihre religiösen, ausgelöst. Diese Differenzen müssen zivilisiert werden (Michael Walzer). Dies geschieht in dem Konsens, dass wir alle vor dem säkular begründeten Recht gleich sind, auch und gerade vor den Menschenrechten und ihrem Toleranzgebot gegenüber anderen Überzeugungen. Diese, und nicht die im Konsens über das Gottesverständnis hergestellte Gleichheit ist die Basis der Toleranz unter den Religionen. Es ist gerade der Respekt vor der Hoheit und Schönheit des anderen, des mir fremden Gottesverständnisses, der von mir Toleranz fordert. Die Akzeptanz des mir Fremden als Fremdes und nicht seine Assimilation in meine Vorstellung, also das respektvolle Unangetastetlassen dessen, was dem anderen heilig ist, bildet die Basis einer Beziehung, die den anderen Glauben weder bejaht, noch ihm einfach indifferent gegenübersteht, also wirklich tolerant ist.4
Für mich war seinerzeit genau an dieser Stelle der Anlass zum Einspruch gegeben. Ich habe den Respekt gegenüber meiner religiösen Überzeugung vermisst, der die selbstverständlich weiter bestehende und nicht zu kritisierende inhaltliche Ablehnung meines christlichen Glaubens eben tolerant machen würde. Ich habe diesen Respekt deshalb eingeklagt, weil zentrale Partien des Artikels in der NZZ mich verletzt haben. Nach dem klärenden, respekt- und verständnisvollen Gespräch von uns vier Preisträgern sind diese Probleme ausgeräumt.
Deshalb steht die dankbare Freude über die Preisverleihung an uns vier im Mittelpunkt und der Schluss von Johann Sebastian Bachs Johannespassion ist erklungen. Mit ihm entsteht eine Aura, in der alle konfliktbeladene Erdenschwere der göttlichen Leichtigkeit des Ewigen Lebens gewichen ist: »Ach Herr, lass dein lieb Engelein am letzten End die Seele mein in Abrahams Schoß tragen...« Da geht es nicht mehr um »Werdenwollen wie Stein«, sondern um »Werdenwollen wie Auferstehen«. So hat Ernst Bloch das einst genannt5. Was wäre, wenn das unser aller Kern wäre?


Anmerkungen:

1    Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 1, Tübingen [1920], 8.Aufl. 1988, 555.
2    Religionsbegriff und Gottesglaube, Dialektische Theologie als Hermeneutik der Religion, Tübingen 2005, 29.
3    Carl Heinz Ratschow, Die Religionen, HAST Bd. 16, Gütersloh 1979, 126f.
4    Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt/M. 2003.
5    Geist der Utopie, bearb. Neuaufl. der zweiten Fassung von 1923, GA Bd. 3, Frankfurt/M. 1964, 32ff.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2010

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