Der Suizid der Fußballnationalspielers Robert Enke hat die deutsche Öffentlichkeit auf tragische Weise überrascht. Er hat Themen wie Suizid, Depression, Selbstüberforderung und Verzweiflung auf die Tagesordnung der öffentlichen Debatte gesetzt. Eberhard Martin Pausch diskutiert vor diesem Hintergrund die ethischen Probleme von Suizid und Sterbehilfe.1


Jeder von uns muss am Ende sterben, so wie wir alle einmal geboren wurden. Jeder Mensch lebt sein Leben und jeder Mensch stirbt seinen Tod. In der Sprache der Philosophie: »Keiner kann dem anderen sein Sterben abnehmen.« (Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1. Aufl. 1927, 240) Martin Luther hat diese auch philosophisch evidente Tatsache in einprägsame Worte gefasst: »Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert, und keiner wird für den anderen sterben, sondern jeder in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen. In die Ohren können wir wohl schreien, aber ein jeder muss für sich selbst geschickt sein in die Zeit des Todes: Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir.«2
Wir alle werden sterben müssen – jeder für sich – jeder zu seiner Zeit; aber wann wird das geschehen? Vielleicht wichtiger noch: Wie, unter welchen Umständen? Auf welche Art und Weise? Als Gemeindepfarrer in Frankfurt am Main war ich bei einem sehr rüstigen alten Herrn eingeladen, der seinen 85. Geburtstag feierte. In dem Bürgerhaus, in dem ich am Morgen seines Geburtstags eintraf, tummelten sich weit über hundert Personen: Familie, Freunde, Honoratioren. Es wurden Reden gehalten, es wurde musiziert, es wurde gegessen und getrunken. Am frühen Nachmittag schloss die Veranstaltung, der Jubilar verabschiedete jeden einzelnen seiner Gäste und ging dann selbst nach Hause. Dort goss er sich eine Tasse Kaffee ein, aß ein Stück Kuchen und schlief dann auf seinem Sofa friedlich ein. Sein 85. Geburtstag – der Tag seines Todes. Ein so wunderbar abgeschlossenes, rundes Leben habe ich weder früher noch später jemals wieder erlebt. Eine Gnade, wem so zu sterben vergönnt ist.
Oft enden Menschenleben indes sehr viel weniger friedlich und schön. Manchmal enden sie viel zu früh, ein andermal sehr spät. Und wann kam der Tod schon jemals zum richtigen, zum passenden Zeitpunkt? Nicht immer kann man von den Sterbenden noch Abschied nehmen. Oft gehen Krankheit und Schmerzen dem Tod voraus. Manchmal wünschen Menschen sich deshalb den Tod. Manchmal legen sie sogar selbst Hand an, um ihn herbei zu führen. Wenn Menschen sterben wollen, kann es sein, dass sie versuchen, Suizid zu begehen. Oder dass sie andere bitten, ihnen beim Suizid zu helfen – etwa, weil sie selbst aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in dieser Hinsicht handlungsfähig sind.
Im Folgenden ist synonym von »Suizid« oder »Selbsttötung« die Rede. Die sehr wahrscheinlich von Martin Luther3 geprägte Rede vom »Selbstmord« (»sein selbs mörder« = seiner selbst Mörder) möchte ich vermeiden, weil sie rein begrifflich schon eine negative Wertung einschließt. Ein Mord hat die Konnotationen der Heimtücke und der niedrigen Gesinnung. Die von Friedrich Nietzsche im »Zarathustra« eingeführte Rede vom »Freitod« (freien Tod)4 tendiert dagegen dazu, zu verharmlosen bzw. ein Euphemismus zu sein. Auch diesen Begriff werde ich daher nicht verwenden.
Mein Referenzpunkt in den folgenden Ausführungen ist der im Herbst 2008 in der Reihe der EKD-Texte als Nummer 97 veröffentlichte Beitrag des Rates der EKD »Wenn Menschen sterben wollen: Eine Orientierungshilfe zum Problem der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung«, die auch im Internet erhältlich5 ist. Ich gehe auf vier Aspekte des komplexen Problemfeldes ein. Erstens: Dürfen Christenmenschen sich selbst das Leben nehmen, also: Ist ihnen grundsätzlich der Suizid erlaubt? Zweitens: Dürfen Christen möglichen Suizidanten helfen, dürfen sie anderen Menschen Beihilfe zur Selbsttötung leisten? Drittens: Soll es Ärzten rechtlich freigestellt werden, Beihilfe zur Selbsttötung zu leisten? In einem abschließenden, vierten Teil will ich versuchen, die praktische Haltung der Christen zu Tod und Sterben so klar und knapp wie möglich zusammen zu fassen.


I. Dürfen Christen sich selbst das Leben nehmen?

Das Leben ist aus christlicher Sicht ein Geschenk, eine kostbare Gabe Gottes. Deshalb ist das Leben immer wertvoll und lebenswert, auch wenn es endlich und zerbrechlich ist. Der Wert eines Menschenlebens ist freilich nicht quantitativ zu verstehen, weshalb etwa der Theologe Eberhard Jüngel lieber von der »Würde des befristeten Menschenlebens«6 spricht. Der Begriff der Würde hat mindestens zwei Vorzüge: Er ist zum einen anschlussfähig an die säkulare Sprache unseres Grundgesetzes (Art. 1,1 GG), und er zieht zum anderen eine klare Grenze gegen eine mögliche Quantifizierbarkeit und somit »Verrechenbarkeit« des menschlichen Lebens. Die Würde ist etwas kategorial anderes als der Wert – nach Jüngel ist sie deshalb, provokativ gesprochen, »wertlos«. Würde gründet nach christlichem Verständnis in der Gottebenbildlichkeit des Menschen; sie ist einzigartig und gleichsam das »Alleinstellungsmerkmal« menschlichen Lebens.7
Wenn das menschliche Leben mit unantastbarer und unverwechselbarer Würde begabt ist, dann sollten Christenmenschen es nicht einfach leichtfertig durch einen Suizid beenden – auch nicht in Situationen des Leidens und der Ausweglosigkeit. »Das Evangelium wirbt dafür, dass Menschen sich durch es bestimmen lassen in der eigenen Lebensführung, aber es zwingt nicht und hindert sie nicht daran, ihr Leben anders zu begreifen und zu gestalten. Es beansprucht den Menschen in der Freiheit des eigenen Gewissens. Und man wird nicht die Augen verschließen dürfen davor, dass es verzweifelte Situationen und Lebenslagen gibt, die ein Außenstehender nicht ermessen kann. Auch wenn der unbedingt nötige Ausbau der Palliativmedizin vorangetrieben wird, können solche verzweifelten Lebenssituationen, in denen ein Mensch nur noch seinem Leben ein Ende machen möchte, nicht ausgeschlossen werden. Ein Urteil darüber steht niemandem zu.« (Wenn Menschen sterben wollen, 28)
Viele Jahrhunderte lang war der Suizid in der christlichen Kirche strengstens verboten. Der Kirchenvater Aurelius Augustinus (354-430) hatte – im Gegensatz zu manchen Philosophen seiner Zeit, besonders Stoikern – die Selbsttötung für unerlaubt erklärt. Leben sei ein Geschenk Gottes, das man nicht einfach wegwerfen dürfe. Außerdem gelte das 5. Gebot »Du sollst nicht töten« auch für einen selbst. Der Mainstream der christlichen Theologie folgte Augustinus bis in die Neuzeit hinein. Eine wirkungsgeschichtlich wichtige Zwischenstation bildete im Hohen Mittelalter Thomas von Aquin (1225-1274). Er nennt in seiner »Summe der Theologie« drei Gründe, warum man gegen den Suizid sein müsse: Zum einen sei ein Suizid nicht naturgemäß, sondern widernatürlich, da jedes Lebewesen von Natur aus sein Leben erhalten wolle; zum anderen vergehe man sich an der Gemeinschaft, da man Teil eines Ganzen sei und nicht nur sich selbst gehöre; schließlich sei das Leben – hierin folgt er selbstverständlich dem Augustinus – ein Geschenk Gottes. Der Suizid war daher über viele Jahrhunderte als »Selbstmord« verpönt; noch Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werther« schließt mit dem bekannten Satz »Kein Geistlicher hat ihn [den unglücklichen Werther] begleitet.« Im römisch-katholischen Kirchenrecht war die Selbsttötung noch bis ins 20. Jh. hinein ein Ausschlussgrund für ein christliches Begräbnis.
Heute würden wir wohl in beiden großen Kirchen mehrheitlich sagen: Wenn ein Mensch in großem Leiden und in tiefster Verzweiflung sich das Leben nimmt, so ist dieser Suizid in jedem Falle sehr zu bedauern. Aber der Mensch, der ihn begangen hat, ist nicht zu verurteilen. Die jahrhundertelange theologische Denunziation des Suizids als aus christlicher Perspektive verbotener »Selbstmord« ist falsch und muss aufgegeben werden. Gleichwohl muss aus christlicher Sicht für das Leben geworben werden und Einsicht dafür geweckt werden, dass es dem christlichen Glauben entspricht, dem Kommen des Todes realistisch und gefasst entgegen zu sehen und ihn, wenn man ihn denn nicht zum Beispiel durch medizinische Maßnahmen und Heilbehandlungen abwenden kann, anzunehmen. Daher ist es auch angemessen, sehr alte und schwer kranke Menschen, bei denen eine Verbesserung ihres Gesundheitszustandes nicht erwartet werden kann, sterben zu lassen. Weil wir allzu oft nicht loslassen können, müssen wir das Sterben-Lassen lernen.
Jedes Jahr sterben in Deutschland aufgrund von Suiziden etwa so viele Personen, wie in einer mittleren Kleinstadt wohnen: 10.000 oder 11.000 Menschen8; es kommt eine gewisse Dunkelziffer hinzu. Die meisten tun dies wohl aus Verzweiflung und Depression. Der jüngste Fall des Fußballspielers Robert Enke wirft ein Schlaglicht auf diese Zusammenhänge. Paul Tillich (1886-1965) hat in seinem theologischen Hauptwerk, der »Systematischen Theologie«, den Konnex von Entfremdung, Verzweiflung und Suizidgefährdung des Menschen ebenso tiefsinnig wie einfühlsam thematisiert.9
Wo Suizide drohen, da ist die Suizid-Prävention wichtig – in diesem Zusammenhang kommt der Seelsorge im Allgemeinen und der Telefonseelsorge im Besonderen eine wichtige Rolle zu. Aber auch über das Internet wird heute Seelsorge praktiziert. Hier ist Suizid-Prävention besonders schwierig, weil das Medium Internet seine eigenen Gesetze und Tücken hat. Ebenso ist die qualifizierte Nachsorge von großer Bedeutung, wenn eine Person einen Suizid-Versuch überlebt hat. Immerhin stimmt es nachdenklich, dass jedenfalls die meisten Menschen (etwa zwei Drittel), die einen Suizidversuch überlebt haben, keinen zweiten mehr unternehmen.
Insgesamt gilt: »Eine absolute Normierung im Sinne eines strikten Verbots des Suizids ist evangelischer Ethik nicht möglich.«10 Etwas ausführlicher argumentiert: »In der Selbsttötung verneint der Mensch sich selbst. Vieles kann zu einem solchen letzten Schritt führen. Doch welche Gründe es auch sein mögen – keinem Menschen steht darüber von außen ein Urteil zu. Die Beweggründe und die Entscheidungsmöglichkeiten eines anderen bleiben ebenso wie eventuelle Auswirkungen einer Krankheit im letzten unbekannt. Für den Christen bedeutet die Selbsttötung eines anderen Menschen eine enorme Herausforderung: Er kann diese Tat im letzten nicht verstehen und nicht billigen – und kann dem, der so handelt, seinen Respekt doch nicht versagen. Eine Toleranz gegenüber dem anderen noch über das Verstehen seiner Tat hinaus ist dabei gefordert. Doch die Selbsttötung billigen und gutheißen kann der Mensch nicht, der begriffen hat, daß er nicht nur für sich lebt. Jeder Selbsttötungsversuch kann für ihn nur ein ›Unfall‹ und ein Hilfeschrei sein.«11
Mein Fazit zu diesem Themenaspekt kann ich in den Titel einer bekannten Schrift fassen, die schon 1989 vom Rat der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz gemeinsam herausgegeben wurde: »Gott ist ein Freund des Lebens«. Das heißt nun freilich nicht, dass Menschen, die zum Entschluss kommen, nicht mehr weiterleben zu wollen, der Respekt versagt wird. Es heißt aber: Es ist eine vorrangige Aufgabe der Kirche, Menschen zum Leben zu ermutigen und ihnen Mut zu machen, ihr eigenes Leben und Sterben als von Gott geschenktes, gewolltes, begleitetes und zum Ende hin geleitetes anzunehmen.


II. Dürfen Christen möglichen Suizidanten Beihilfe zur Selbsttötung leisten?

An diesem Punkt ist die evangelische Kirche in Deutschland sowohl aus grundsätzlichen – die Aufgabe des Lebensschutzes und das 5. Gebot betreffenden – als auch aus besonderen historischen Gründen sehr zurückhaltend, weil in der Zeit des Nationalsozialismus ein grausames und schändliches sog. »Euthanasieprogramm« durchgeführt wurde, dem unzählige körperlich und geistig kranke Menschen, nicht zuletzt sehr viele Kinder, zum Opfer fielen. Sie wurden als »lebensunwertes Leben« oder als »unnütze Esser« deklariert und ermordet. Die Kirchen protestierten seit Beginn des Zweiten Weltkrieges gegen solche Maßnahmen, etwa Landesbischof Theophil Wurm aus der Württembergischen Kirche, der später erster Ratsvorsitzender der EKD werden sollte (oder Bischof Galen auf der römisch-katholischen Seite).
Aber man muss zur Thematik bzw. zur hier vorgelegten Frage ja zunächst einmal durchaus unterschiedliche Fälle unterscheiden:
a) In aller Grundsätzlichkeit ist Menschen das Töten anderer Menschen nach dem Tötungsgebot des Dekalogs untersagt. Zwar war damit ursprünglich, also historisch gesehen, im alten Israel nur die hinterlistige und grausame Tötung anderer Menschen gemeint, doch wurde und wird der Sinn dieses Gebots im Kontext der christlichen Aufgabe umfassender Nächsten- und Feindesliebe immer genereller verstanden.
b) Die sog. »Euthanasie« als Tötung »lebens­unwerten Lebens«, wie sie im Nationalsozialismus praktiziert wurde, widerspricht aller »Ehrfurcht vor dem Leben« und ist absolut unmoralisch.12
c) Auch »aktive Sterbehilfe« (=Tötung auf Verlangen, zB. Verabreichen eines tödlich wirkenden Gifts auf Wunsch eines Patienten) wird aus evangelischer Sicht verworfen; dies entspricht, jedenfalls in Deutschland, auch dem geltenden Recht. Demzufolge ist die Tötung auf Verlangen ein Straftatbestand innerhalb der Tötungsdelikte. Er ist sowohl im deutschen Strafgesetzbuch (§216 StGB), wie auch im österreichischen (§77 StGB) und im schweizerischen (Art. 114 StGB) enthalten.
d) Davon wiederum zu unterscheiden ist die »passive Sterbehilfe«, bei der auf Therapie verzichtet oder diese begrenzt wird, worunter beispielsweise auch die Reduzierung oder das Absetzen der künstlichen Beatmung gefasst wird. Diese ist grundsätzlich rechtskonform, wenn der Patient seinen Willen etwa in einer Patientenverfügung ausdrücklich bekundet hat.
e) Schließlich gibt es die sog. »Sterbebegleitung«, d.h. die Unterstützung und Begleitung eines Menschen im absehbaren oder begonnenen Sterbeprozess. Wahrgenommen wird sie von nahen Angehörigen, Pflegepersonal, Seelsorgern und Seelsorgerinnen, den »grünen Damen« im Krankenhaus und vielen anderen Personen, die mit einem sterbenden Menschen zu tun haben. Die Sterbebegleitung ist grundsätzlich erlaubt, ethisch problemlos und selbstverständlich straffrei.
Aus Sicht gegenwärtiger evangelischer Theologie ist somit die »aktive Sterbehilfe« klar abzulehnen, und auch die »passive Sterbehilfe« ist jedenfalls ethisch nicht unproblematisch. Denn der Titel der Schrift »Gott ist ein Freund des Lebens« ist Programm, ihm gemäß treten die Kirchen für das Leben ein (und nicht für den Tod). Und auch das Unterlassen ist ja eine Form von Handeln, die Konsequenzen hat und ethisch bewertet werden kann und muss. Leben und Sterben eines Menschen und auch sein Sterben-lassen sind somit aus christlicher Perspektive immer schon und vorrangig unter der Perspektive des Lebens zu betrachten; der Tod eines Menschen unter der Perspektive des ewigen Lebens.13
Daraus folgt ethisch: »Von den anderen ist jeder Sterbende als der zu achten, der sein Sterben selbst lebt. Deshalb kann auch beim Sterben eines Menschen alle Hilfe nur Lebenshilfe sein. Die Hilfe im Sterben, derer der Betroffene angesichts der Einsamkeit des Todes bedarf, besteht folglich in intensiver Zuwendung und in bestmöglicher ärztlicher Versorgung und Pflege.«14


III. Soll es Ärzten rechtlich freigestellt werden, Beihilfe zur Selbsttötung zu leisten?

Wenn Menschen sterben wollen und dies selbst nicht mehr herbeizuführen vermögen, wenden sie sich oft an andere Personen, die ihnen nahe stehen und bitten diese um Hilfe. Dabei ist zu unterscheiden, wer der in der jeweiligen Situation Angesprochene ist bzw. wer um Hilfe gebeten wird: Sind es Verwandte oder Freunde? Sind es Geistliche oder Psychologen? Sind es Ärzte bzw. ist es anderes medizinisches Fachpersonal? Die Rolle derjenigen, die hier angesprochen werden, ist durchaus unterschiedlich zu sehen. Deshalb fokussiert die EKD in ihrer Schrift aus dem Jahr 2008 »Wenn Menschen sterben wollen« auf eine ganz bestimmte Personengruppe, in diesem Fall die Ärzte als leitend verantwortliches medizinisches Fachpersonal. Hier geht es demnach um den besonderen Status des Arztberufs. Dieser Beruf bewegt sich innerhalb geltender gesetzlicher Regelungen und Festlegungen. Darüber hinaus hat er wie jeder Beruf ein ihm eigenes Berufsethos. Ärzte haben, das ist ein Rechtstatbestand, eine besondere »Garantenpflicht«15 gegenüber ihren Patientinnen und Patienten. Zudem entspricht es nicht nur gemäß dem sog. »Hippokratischen Eid«, sondern auch nach allgemeiner standes- und berufs­ethischer Konvention dem Beruf des Arztes, für die Heilung, Linderung und Begleitung im Krankheitsfalle zuständig zu sein. Zu seiner ärztlichen Aufgabe würde, wenn es ihm erlaubt wäre, Beihilfe zur Selbsttötung zu leisten, auch grundsätzlich die Möglichkeit zur Beendigung von Menschenleben gehören. Wie passt das zusammen? Worauf könnten Patienten sich im Blick auf den Arzt verlassen, wenn dem so wäre? Welche Folgen hätte dies für das Berufsbild des Arztes? Welche Vertrauensbasis würde zwischen Ärzten und Patienten bestehen bzw. gerade nicht mehr bestehen? Deshalb muss die Garantenpflicht des Arztes unverbrüchlich gelten. Und eben deshalb »sollte das Recht in dieser Hinsicht so restriktiv wie möglich ausgestaltet werden.« (Wenn Menschen sterben wollen, a.a.O., 33)
Damit soll jedoch nicht der Beurteilungs- und Handlungsspielraum des Arztes im Einzelfall eingeschränkt werden. Im Gegenteil: Die Einzelfallgerechtigkeit (Epikie) ist von herausragender Bedeutung. Aber man kann und darf aus Einzelfällen und Einzelfallentscheidungen niemals eine Regel machen. An diesem Punkt muss man unterscheiden zwischen der individual- und der sozial- bzw. institutionsethischen Betrachtungsweise. So kann jemand in individualethischer Perspektive der persönlichen Überzeugung sein, dass die Beihilfe zum Suizid keine mögliche Handlungsoption ist, und er kann gleichwohl aus Respekt vor dem Andersdenkenden dafür eintreten, dass jeder es damit halten können soll, wie er es für richtig hält, und dass folglich die Suizidbeihilfe rechtlich unter Straffreiheit gestellt werden sollte. Und es kann umgekehrt jemand in individualethischer Perspektive die Suizidbeihilfe im konkreten Einzelfall für vertretbar halten und gleichwohl gegen die rechtliche Liberalisierung der Suizidbeihilfe votieren aufgrund der Auswirkungen und Folgen, die er für diesen Fall befürchtet. Dies zeigt, dass nicht unmittelbar von der individualethischen Beurteilung der Suizidbeihilfe auf deren rechtliche Regelung geschlossen werden kann.16
Wenn Menschen sterben wollen, aber erst recht, wenn sie sehr schwer krank sind, aber (noch) nicht sterben wollen, müssen sie die unumstößliche Gewissheit haben, dass Ärzte ihnen aus rechtlichen und standesethischen Gründen nicht Beihilfe zur Selbsttötung leisten dürfen. Diese grundsätzliche Klarheit ist für alle Seiten orientierend und wichtig. Dies gilt umso mehr in einer Situation, in der neben den existenziellen auch ökonomische Aspekte immer mehr in den Vordergrund treten und kommerzielle Interessen und Begehrlichkeiten im Blick auf die sog. »Sterbehilfe« erkennbar werden.
Kommerziell orientierte »Sterbehilfeorganisationen« wie »Exit« und »Dignitas«, die beide in der Schweiz beheimatet sind, aber Büros auch in anderen europäischen Ländern eröffnet haben, tragen dazu bei, die Angst vieler Menschen vor dem qual- und leidvollen Sterben zu einem Marktsegment zu machen und bieten gegen Geld die Beihilfe zum Suizid als Dienstleistung an. Auch werden Mechanismen und Maschinen zur Selbsttötung vorgestellt und angeboten. Über das Internet sind sog. »Exit-Bags« erschwinglich, die einen humanen »Tod aus der Tüte« versprechen. Man nimmt Betäubungsmittel ein und schlingt sich eine Plastiktüte um den Kopf. Ein solcher Tod geschehe, so die Aussage der Anbieter der »Exit Bags«, rasch und praktisch schmerzfrei.
Vor dem Hintergrund derartiger Entwicklungen ist zum einen rechtliche Klarheit gefordert. Diese muss den Auftrag der Ärzte einschließen, aber auch auf ein Verbot der geschäftsmäßigen Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung und damit auf ein Verbot der Tätigkeit von Sterbehilfeorganisationen abzielen. Zum anderen ist theologische und ethische Klarheit erforderlich: Was denken Christen im Blick auf Tod und Sterben? Was ist ihre Haltung und Antwort, wenn Menschen sterben wollen und/oder müssen?


IV. Christen im Umgang mit Tod und Sterben

Was können und sollen Christenmenschen tun im Blick auf den Tod und das Sterben? Insbesondere: Wie sollten sie damit umgehen, dass es unter uns Menschen gibt, die sterben wollen und andere womöglich darum bitten, ihnen dabei im Sinne eines assistierten Suizids zu helfen?
Im späten Mittelalter entstand eine Literaturgattung17, die sich »Ars moriendi« nannte – »die Kunst des Sterbens«. An sie anknüpfend, verfasste Martin Luther im Jahr 1519 in ganz und gar seelsorglicher Absicht seinen »Sermon von der Bereitung zum Sterben«. In dieser kleinen Schrift finden sich wichtige Gesichtspunkte, die auch heute noch für unseren Umgang mit Tod und Sterben Geltung beanspruchen können. Ganz allgemein kann man sagen: Nach Luther ist der Tod ein doppelter Abschied von dieser Welt. Er hat eine »leibliche« und eine »geistliche« Dimension. Mit der leiblichen Dimension des Abschieds beginnt der Sermon ganz schlicht, prosaisch und weltlich, indem er festhält: »Zum ersten. Weil der Tod ein Abschied ist von dieser Welt und all ihrem Treiben, ist es nötig, daß der Mensch sein zeitliches Gut ordentlich verteile…«18. Luther will damit sagen: Macht ein Testament, damit es keinen Streit um euer Erbe gibt, wenn ihr einmal nicht mehr da seid. An dieser Stelle, wo von rechts-relevanten Regelungen die Rede ist, könnte man aus heutiger Sicht den Rat ergänzen, eine Patientenverfügung anzufertigen, damit möglichst klar dokumentiert ist, wie jemand im Fall einer schweren, unheilbaren Krankheit, eines sich über längere Zeit hin erstreckenden Komas oder unter anderen Umständen am voraussichtlichen Ende seines Lebens behandelt werden möchte. Eine Hilfestellung dazu bietet die 1999 erstmals in ökumenischer Gemeinsamkeit erarbeitete »Christliche Patientenverfügung«. Diese befindet sich zurzeit, nach der aktuellen Beschlussfassung des Deutschen Bundestages zur Verbindlichkeit von Patientenverfügungen in seinem am 1.9.2009 in Kraft getretenen Patientenverfügungsgesetz, in der Überarbeitung. Eine Neuauflage ist in Vorbereitung. Ebenso ist, in Ergänzung zur Patientenverfügung, die Anfertigung einer »Vorsorgevollmacht« ratsam, die klarstellt, welche Betreuungsperson für den »Fall der Fälle«, also den Fall der Nichteinwilligungsfähigkeit, vorgesehen ist.
Sofern das Lebensende von schwerer Krankheit und großen Schmerzen überschattet wird, ist es aus christlicher Sicht notwendig, alles nur erdenklich Mögliche zu tun, um die Schmerzen zu lindern und den Abschied zu erleichtern. Deshalb setzt sich die EKD für den weiteren Ausbau der Palliativmedizin und die Errichtung von Sterbehospizen ein, wo todkranke und sterbende Menschen Schmerzlinderung sowie eine liebevolle und würdige Begleitung erfahren können. Niemand soll unzumutbare Schmerzen aushalten müssen, jeder Mensch soll auf seinem letzten Weg Freundlichkeit und Zuwendung erfahren können.
Nach Luther – und hier ist er ein echter Vertreter der klassischen »Ars moriendi« – müssen Menschen sich aber auch und sogar vor allem auf ihren geistlichen Abschied sorgsam vorbereiten. Dazu gehört es, so der Reformator, auf die Stimme des Evangeliums zu hören und die heiligen Sakramente hoch zu achten. Wer im Sterben liegt, der soll sich an seine Taufe erinnern, kraft derer er mit Christus verbunden ist. Er soll in der Bibel lesen oder vorgelesen bekommen. Geistliche Lieder können die Sterbenden trösten und stärken.19 Wenn es möglich ist, ihnen ein Hausabendmahl zu spenden, soll dies geschehen. Eine Beichte, ein letztes seelsorgliches Gespräch kann ein großer Trost beim Sterben sein. (In der römisch-katholischen Kirche ist zusätzlich das Sakrament der »Krankensalbung« von Bedeutung.) Deshalb sagt Luther in seinem Sermon, man solle »ja zusehen mit allem Ernst und Fleiß, daß man die heiligen Sakramente hoch achte, sie in Ehren halte, sich frei und getrost darauf verlasse und sie gegen Sünde, Tod und Hölle so in die Waagschale werfe, daß sie weit darüber ausschlagen.«20 Ferner schreibt Luther: »Zum achtzehnten soll kein Christenmensch an seinem Ende daran zweifeln, daß er nicht allein sei in seinem Sterben. Sondern er soll gewiß sein, daß nach der Aussage des Sakraments auf ihn gar viele Augen sehen. Zum ersten Gottes selber und Christi, weil er seinem Wort glaubt und seinem Sakrament anhängt; danach die lieben Engel, die Heiligen und alle Christen (…) Wenn aber Gott auf dich sieht, so sehen ihm nach alle Engel, alle Heiligen, alle Kreaturen; und wenn du in dem Glauben bleibst, so halten sie alle die Hände unter. Geht deine Seele aus, so sind sie da und empfangen sie, du kannst nicht untergehen.«21
Daraus folgt für die christliche Kirche, dass sie die Todkranken und Sterbenden seelsorglich begleiten muss. Jeder, der auf seinem letzten Weg Trost und geistliche Hilfe braucht und der nach Hoffnung dürstet, der soll diese Hilfe, jenen Trost und solche Hoffnung erfahren können. Wenn Luther Recht hat, dann ist aber auch und vor allem Gott selbst bei den Sterbenden. Mit seinen Engeln und Heiligen zusammen ist er da und fängt die Seelen der Sterbenden auf. So kann niemand verloren gehen.
Ich fasse zusammen: Nach Gottes Willen geht niemand verloren! Sondern alle Menschen sind für das Leben bestimmt und sollen das Geschenk des Lebens empfangen: Leben in Fülle. Das ist ein Grund zur Freude für Christen und Christinnen – und ein Fundament, auf dem man sein Leben bestehen und sein Sterben annehmen kann. Selbst dann, wenn Menschen sterben wollen oder sterben müssen, blüht ihnen aus Gottes Gnade das Leben.


Anmerkungen:

1    Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, der am 18.11.2009 im Rahmen einer Veranstaltung der Evang. Erwachsenenbildung des Dekanats Worms-Wonnegau gehalten wurde. Ich danke Herrn Prof. Dr. Zager für die Einladung.
2    Martin Luther: »Acht Sermone D. Martin Luthers, von ihm gepredigt zu Wittenberg in der Fastenzeit 9.-16. März 1522«, in: ders., Ausgewählte Schriften, hg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1983, Bd. I, 271.
3    Luther sah Selbstmörder als Personen an, die vom Teufel überwältigt worden seien. In dem schönen Luther-Film von Eric Till aus dem Jahr 2003 (mit Joseph Fiennes in der Titelrolle) wird aus Luthers gelegentlichen Aussagen zur Sache ein Nebenhandlungsstrang mit einem Selbstmörder gesponnen, den Luther angeblich beerdigt habe. Die Szene ist historisch nicht haltbar; jedoch sind Luthers Äußerungen im Film wohl nahe an seiner tatsächlichen Meinung zur Sache.
4    Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Band III, München/Wien 1980, 333-336.
5    http://www.ekd.de/download/ekd_texte_97.pdf.
6    Eberhard Jüngel: Meine Zeit steht in Deinen Händen: Zur Würde des befristeten Menschenlebens, Heidelberg 1997.
7    Vgl. hierzu auch das Marburger Jahrbuch Theologie XVII: »Würde« (2005).
8    Laut Wikipedia (Stand: 6.11.2009) ist die Zahl der Suizide seit 1980 leicht rückläufig; 2007 habe sie bei 9.402 Personen gelegen. An der Größenordnung selbst ändert diese Tendenz freilich nichts.
9    Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. II, Stuttgart 1958, 84f.
10    Martin Honecker: Grundriß der Sozialethik, Berlin/New York 1995, 133.
11    Gott ist ein Freund des Lebens: Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens, hg. vom Kirchenamt der EKD und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Gütersloh 1989, 107.
12    Sowohl in der antiken Philosophie als auch im angelsächsischen Sprachraum wird der Begriff »Euthanasie« nicht in dem höchst problematischen Sinne verwendet, den wir aufgrund unserer spezifisch deutschen Perspektive im Blick haben. Dort kann auch Sterbehilfe oder Sterbebegleitung mit »Euthanasie« gemeint sein. Das bietet immer wieder Anlass für gelegentliche Missverständnisse, die über Sprachgrenzen hinweg geklärt werden müssen.
13    Niklas Luhmann folgend kommuniziert man genau dann im System der Religion, wenn man jeder positiven und jeder negativen Erfahrung einen positiven Sinn gegenüber stellt. Genau diese für Religion charakteristische Operation wird hier vollzogen: Der positiven Erfahrung des Lebens werden die (tendenziell eher) negativen Erfahrungen des Sterbens und des Todes zur Seite gestellt. All diesen Erfahrungen wird der positive Sinn »Leben in Fülle« (einschließlich des ewigen Lebens) gegenübergestellt.
14    Gott ist ein Freund des Lebens, a.a.O., 105.
15    Die Garantenpflicht bezeichnet im Strafrecht die Pflicht, dafür einzustehen, dass ein bestimmter tatbestandlicher Erfolg nicht eintritt, vgl. zum deutschen Strafrecht §13 StGB. Sie ist im deutschen Strafrecht notwendige Voraussetzung für eine Strafbarkeit wegen Unterlassen, soweit es sich um ein sog. unechtes Unterlassungsdelikt handelt. Die verpflichtete Person heißt Garant. (Wikipedia, Stand: 6.11.2009).
16    Die Unterscheidung zwischen individual- und sozial- bzw. institutionsethischer Perspektive ist auch in anderen Bereichen von Bedeutung, etwa im Fall der Kriegsdienstverweigerung. Wer für sich selbst ausschließt, Wehrdienst zu leisten, der muss deshalb nicht zwingend die Bundeswehr ablehnen. Man kann individualethisch gesehen Pazifist sein, ohne diese moralische Position allen Staatsbürgern (oder auch allen Christen) abverlangen zu müssen. Und umgekehrt: Wer grundsätzlich die Notwendigkeit einer militärischen Verteidigung bejaht und auch selbst bereit ist, als Soldat zu dienen, kann durchaus anderen zugestehen, aufgrund ihres Gewissens den Wehrdienst zu verweigern.
17    Diese Literaturgattung entsprach einem im späten Mittelalter weit verbreiteten Lebensgefühl. Die Zeit damals war mit Blick auf Kriege, Hungersnöte und Seuchen geprägt von einer großen Angst vor einem »schlimmen Tod« und im Umkehrschluss von einer tiefen Sehnsucht nach einem »guten Tod«. Außer den sakramentalen Gnadenmitteln nahm man u.a. auch Zuflucht bei Heiligenbildchen, denen man Zauberkraft zutraute; der heilige Christophorus wurde in diesem Zusammenhang besonders hoch geschätzt. Vgl. hierzu Horst Fuhrmann: Überall ist Mittelalter: Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit, München 1996, 205-224.
18    Martin Luther: »Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben« (1519), in: ders., Ausgewählte Schriften, hg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1983, Bd. II, 15-34, dort 16.
19    Als meine Urgroßmutter in sehr hohem Alter ihren Tod kommen spürte, bat sie mich, ihr das Weihnachtslied »Lobt Gott, ihr Christen alle gleich« (EG 27) vorzusingen. Ich tat dies, wunderte mich indes, da wir gerade erst das Osterfest hinter uns hatten. Aber der Schlüssel lag in der sechsten Strophe des Liedes, in welcher vom »Cherub« die Rede ist, der dank Christus nicht mehr vor der verschlossenen Himmelstüre stehe. Meine Urgroßmutter wusste, dass nun der Himmel für sie offen stand.
20    Luther: »Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben«, a.a.O., 17.
21    Ebd., 30f.

Über die Autorin / den Autor:

OKR Dr. Eberhard Martin Pausch, Jahrgang 1961, Studium in Frankfurt/M. und Marburg, Stipendiat des Evang. Studienwerks Villigst, 1993 Promotion bei Prof. Wilfried Härle mit einer Arbeit über die Rezeption und Transformation der Wahrheitskonzeption Heideggers in der Theologie Rudolf Bultmanns, ab 1992 Gemeindepfarrer in Frankfurt, seit 2000 im Kirchenamt der EKD tätig. Referent für Fragen der Friedensethik sowie der öffentlichen Verantwortung; Geschäftsführer der Kammer für Öffentliche Verantwortung; verheiratet, zwei Söhne.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2010

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