Ist die gegenwärtige deutsche Gesellschaft, in der die Kirche lebt, wirklich »offen« oder gerade in ihrer Offenheit bedroht? Und wie kann, ja muss sich die evangelische Kirche als von ihrer Grund-Legung her notwendig offen darin und demgegenüber positionieren? Hans-Martin Gutmann benennt einige Weichenstellungen für die künftige Entwicklung evangelischer Kirche in Deutschland.


1. Zum Stichwort »Kirche«

Mit anderen, die im evangelischen Raum und mit praktisch-theologischem Interesse über »Kirchentheorien« nachdenken (beispielsweise meinem Kieler Kollegen Reiner Preul1) denke ich, dass Prozesse von Selbststeuerung und Gestaltung in der Kirche auf allen lebensweltlichen und organisatorisch-systemischen Ebenen die kritische Rückfrage nach dem »Grund« oder »Wesen« der Kirche immer wieder notwendig brauchen – als Korrektiv und als Gestalt-Vorgabe. Das Bekenntnis zur unam, sanctam, catholicam et apostolicam ecclesiam des Nicaeno-Constantinopolitanum von 381 gehört zu diesen nötigen Rückvergewisserungen, ebenso das Bekenntnis zur Kirche als »congregatio sanctorum«, in der das Evangelium nach reinem Verstand gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden, nach Confessio Augustana VII von 1530.
Eine weitere notwendige Erinnerung zielt auf eine Näherbestimmung dieser Bekenntnisse durch die evangelische Kirche in brisanter Zeit, gut ein Jahr nach der so genannten Machtergreifung der Nazis. In der dritten These der Theologischen Erklärung von Barmen vom Mai 1934 heißt es u.a.: »Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern (dass hier die Schwestern nicht mit genannt sind, zeigt eine problematische Begrenzung des Blickes in Gender-Perspektive), in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt … Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugung überlassen.«
Solche nötigen Rückbesinnungen geben für heute keine rigiden Regeln, sie eröffnen Raum für alle möglichen lebensweltlichen und organisatorischen Gestaltfindungen in der Kirche, bezeichnen hierfür aber auch identitätswahrende Grenzen – gerade weil sie jeweils in ihrer Zeit in Kontakt und Konflikt mit konkurrierenden, bisweilen totalitären ökonomischen, politischen und kirchlichen Machtansprüchen gefunden wurden und darin überhistorisch bleibende Gründe und Grenzen christlichen Glaubens benannt haben.
Nach den altkirchlichen Bekenntnissen, die in der Reformation bekräftigt wurden, entscheidet sich das Kirche-Sein von Kirche
-     an der Vor-gegebenheit und Unaustauschbarkeit ihres einen Ursprungs in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi, der in ihrem Leben unter verschiedenen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen Gestalt gewinnt (»unam«);
-     an ihrer Distanzfähigkeit gegenüber Faszinationen und Machtansprüchen der sie umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeiten, in die sie zugleich immer eingebunden ist – vor allem gegenüber den Faszinationen von Macht, Geld, sozialem Prestige und Gewalt (»sanctam«);
-     an ihrer lebendigen Beziehung auf die weltweite ökumenische Christenheit (»catholicam«)
-     und an ihrer lebendigen Beziehung auf die für ihren Glauben, ihre Liebe und Hoffnung unaustauschbare verbindliche Erzähltradition der ganzen Bibel – und damit auch auf hier mitgeteilte Metaphern für die Sozialgestalt der ecclesia, denen sie performative Kraft für je neue Gestaltfindungen im Lob Gottes, im Einsatz für Gerechtigkeit, in ihrem Feiern wie in ihrer Organisation zutrauen soll (»apostolicam«) – beispielsweise »Leib Christi«, »Volk Gottes« oder »Gemeinschaft der Heiligen«.
CA VII lässt auf der einen Seite Freiraum z.B. für organisatorische und zeremonielle Formen und Experimente im kirchlichen Leben, gibt aber auch Raum durch Grenzen und Gestalt-Vorgaben. Die Kirche kann sich nicht in individueller Selbstthematisierung religiöser Einzelsubjekte erschöpfen (»congregatio sanctorum«). Die rechte Lehre des Evangeliums und von der Rechtfertigung der Gottlosen und die Gabe der Sakramente, in denen sie leiblich kommuniziert wird, wird in gegebenen historischen und gesellschaftlichen Lagen danach fragen, welches das eigentlich mächtige »Gesetz« ist, das Menschen existenziell bindet, um dem Freispruch des Evangeliums Gestalt zu geben – und sie wird heute vor allem Befreiung von dem Gesetz zusagen, das Menschen allein nach ihrem Wert in Produktion und Konsumption misst und immer mehr Menschen ihren Wert abspricht.
Mit der theologischen Erklärung von Barmen sind lebensweltliche Interaktion und organisatorische Steuerung innerhalb der Kirche immer wieder auf ihre evangelische Gestalt zu befragen; planwirtschaftliche und marktradikale Lebensgefühle, Haltungen und Organisationsspiele sind schwer damit zu verbinden und verlieren auch außerhalb der Kirche seit einiger Zeit an Strahlkraft.


2. Zum Stichwort »Gesellschaft«

Ich halte mit vielen GesprächspartnerInnen weit verbreitete Sprachspiele zum Verständnis von »Gesellschaft« nur begrenzt für tragfähig. Die Rede von der »Individualisierung« der Gesellschaft2 – als Freiheit und Zwang zur Wahl von Lebensperspektiven und Glaubensmöglichkeiten, als Zugewinn an gesellschaftlicher Mobilität – ist in dem Maße sinnvoll, wie die Beschleunigung der Polarisierung von Armut und Reichtum (längst vor Beginn der aktuellen Wirtschaftskrise) weltweit und auch bei uns im Blick ist und der tendenzielle Ausschluss beispielsweise von Hartz-IV-EmpfängerInnen, von »working poor«, von Menschen mit Migrationshintergrund von Chancen der Individualisierung, von Wahl- und Mobilitätsmöglichkeiten bereits im theoretischen Ansatz ernst genommen wird.
Mit Blick auf die »Säkularisierungs«-These teile ich die von Peter L. Berger schon vor einer Generation vertretene Sicht, dass diese im Raum des weltweiten Christentums, wenn überhaupt, eine auf Westeuropa begrenzte Entwicklung beschreibt, dagegen weder in Afrika und Asien noch in Amerika zutrifft.3 Philip Jenkins4 (Pennsylvania State University) und die britische Religionssoziologin Grace Davie5 haben jüngst in viel beachteten Beiträgen gezeigt, dass Europa im Hinblick auf Säkularisierung keinesfalls ein »exceptional case« ist.6 Praktisch-theologische Untersuchungen zu »Religion und populärer Kultur«7 zeigen außerdem die Lebendigkeit von religiösen, im engeren Sinne christlichen Symbol- und Ritualwelten in der populären Kultur zwischen Kino, Fußball und Internet.
Tragfähig von den »Großtheorien« zu »Gesellschaft« scheint dagegen die Pluralisierungsthese.8 Wie kann »Inkulturation« von Kirche und Christentum in unserer Gesellschaft gelingen, in der verschiedene Kulturen und Religionen, aber auch zahlreiche konfessionslose Menschen zu Hause sind? Wie kann die evangelische Kirche in den Lebenswelten der Menschen ankommen? Mit Blick auf das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser Verbundenheit in unserem Lande geht es für die evangelische Kirche darum, Deutlichkeit im Leben und im Zeigen des Eigenen mit Wahrnehmungsoffenheit und Respekt für die Fremden zu verbinden. Nicht nur verschiedene Religionen im Lande, auch das globale Christentum ist notwendige Dimension in der Wahrnehmung von »Pluralisierung«. Mittlerweile lebt die überwältigende Mehrheit von Christen in der nichtwestlichen Welt – mit explodierenden Mitgliedschaftssteigerungen: in Afrika beispielsweise von ca. 116 Mio. (1970), also zum Abschluss der Kolonialzeit, auf 423 Mio. Christen (2008) (jährliche Zuwachsrate von 2,4%); dagegen in Europa einschließlich Russ­land von 467 Mio. (1970) auf 556 Mio. heute (jährliche Zuwachsrate 0,13%).9
Zugleich verschiebt sich das Gewicht von den traditionellen Großkirchen auf pentekostale, charismatische und evangelikale Glaubensformen.10 Von lebensweltlichen Voraussetzungen und Wirklichkeitskonstruktionen beispielsweise von Christen in Westafrika11, aber auch in anderer Weise in fundamentalistischen christlichen Gruppen in Nordamerika12 lassen sich Wunder und Heilungen, Exorzismen und Opfervorstellungen, wie sie in ntl. Texten vorausgesetzt werden, viel ungebrochener rezipieren als in den europäischen Großkirchen, die durch den Kontakt mit der »Aufklärung« gegangen sind. Solche Gemeinden sind mittlerweile auch in europäischen Metropolen wie Hamburg beheimatet in dem Maße, wie beispielsweise afrikanische Flüchtlinge hier ein neues dauerhaftes Zuhause suchen.
Die für die Kirchen in Westeuropa und auch in Deutschland zentrale Frage heißt in diesem Zusammenhang: Wie können Kontakt, offene Wahrnehmung und Lernbereitschaft gegenüber solchen Entwicklungen im weltweiten Christentum ohne Preisgabe des Eigenen gelebt werden? Wie kann die evangelische Kirche in Deutschland von ihren ökumenischen Geschwistern vor allem Lebendigkeit und Deutlichkeit christlichen Lebens lernen, ohne die Potentiale von Reflexivität, Subjektorientierung, gesellschaftlicher Verantwortung, historischer Kritik an Autoritätsansprüchen wie einem wortwörtlichen Bibelverständnis und Selbstabschottungen gegenüber der Moderne (gerade in ihrem Freiheitsgewinn in Inszenierungen von Leiblichkeit und Offenheit gegenüber nicht-rigiden Lebensformen) preiszugeben?


3. Weichenstellungen

Wäre die Orientierung an Wachstum und ökonomischer Prosperität die eigentliche Perspektive für die evangelische Kirche – in anderen Worten: wäre die kirchliche Organisation ihrer Bindung an Bibel und Bekenntnis ledig –, dann wären evangelikale und pentekostale Glaubens- und Lebensformen von Kirche als die heute erfolgreichen Modelle auch in den lutherischen Großkirchen zu kopieren. Das verbietet sich für die evangelische Kirche in Deutschland nicht erst aus ihrem Durchgang durch die soziale und geistige Bewegung der Aufklärung, sondern bereits aus der reformatorisch grundlegenden Unterscheidung von »Gesetz« und »Evangelium«.13 Eine wortwörtliche Geltung biblischer Texte – beispielsweise in Regeln zum Körperverhältnis und Beziehungsformen wie z.B. im Feld Homosexualität – würde die Bibel auf ihren Charakter als »Gesetz« verkürzen. Historische Kritik gegenüber historisch-situativen und insbesondere machtförmigen Geltungsansprüchen gehört ebenso grundlegend zum evangelischen Glauben wie ihre zentrale Aufgabe, die Verheißung Gottes mitzuteilen und ihr – wie immer – vorläufig zu entsprechen: der Zärtlichkeit Gottes gegenüber seinen Menschen und gegenüber allem Lebendigen.
Ich sehe gegenwärtig in verschiedenen Lebenszusammenhängen und vor allem in Organisationen (Betriebe, Universitäten, und auch Kirchenorganisationen) die Gefahr und oft die Realität, dass Mittel und Ziele vertauscht werden und, um es salopp zu sagen, der Schwanz mit dem Hunde wedelt. Die eigentlich hilfreiche Medialisierung von Kommunikation über Internet und e-mail gerät, um ein alltägliches Beispiel zu nennen, zu einem endlosen Defokussierungsmechanismus, der Energie- und Zeitbudgets massenhaft lahm legt. Die sinnvolle Einsicht, dass gute und kreative Arbeit z.B. in pädagogischen oder diakonischen Zusammenhängen Verwaltung braucht, führt zur Aufblähung und Macht-Dominanz von Geschäftsführungen und Organisationsfindungsprozessen. Die richtige Einsicht, dass auch in der Kirche gute Arbeit und lebendiges Leben finanziert werden müssen, dass Kompetenzen und Ressourcen gut eingesetzt werden müssen, führt in zahllosen Kirchenvorständen, Synoden und Kirchenleitungsorganen dazu, dass der eigentliche energetische Schwerpunkt auf Finanzplanungen, und im Ausprobieren immer neuer betriebswirtschaftlicher Modelle liegt (»Leitbildprozesse«, »Steuern mit Zielen« u.ä.). Die unbestreitbare und durch die letzten großen Mitgliedschaftsbefragungen gut begründete Einsicht, dass kirchliche Angebote auf Milieu-Einbindungen der Menschen achten müssen, führt dazu, dass die milieubildende Kraft der evangelischen Verheißung strukturell unterschätzt wird.
In all diesen Feldern muss es zu einer tendenziellen Umkehrung der Gewichte kommen, um die richtigen Ideen dadurch zu ihrem Recht kommen zu lassen, dass sie von Zielen wieder zu Mitteln werden. In diesem Zusammenhang plädiere ich für die Einsicht, dass nicht die Alternative »Organisation« versus »Institution« das gegenwärtig in der evangelischen Kirche drängende Problem beschreibt, sondern das Gegenüber – oder besser: die angemessene Gestalt-Findung im Verhältnis – von »Organisation« und »Kommunikation«.
Exemplarisch soll dies in zwei Feldern benannt werden. Einmal: Die in den biblischen Erzählungen mitgeteilte Beziehung zwischen Gott und den Menschen und ihr entsprechende zwischenmenschliche Beziehungen beinhalten selber eine Ökonomie, die eine Distanz- und Kritikfähigkeit der evangelischen Kirche gegenüber marktradikalen Gesellschaftsmodellen begründet, außerhalb wie innerhalb ihrer Lebenszusammenhänge. Die prophetische und auch die Kritik Jesu an ungebremster Reichtumsanhäufung mit gleichzeitigen sozialen Verwerfungen, insbesondere an Leben zerstörendem Zinswucher gehört dazu, aber auch Martin Luthers Aufnahme der Gabentauschökonomie an zentraler Stelle: Weil im »fröhlichen Wechsel« des Glaubens die Gerechtigkeit Gottes gegen die Sünde des Menschen getauscht werden, und weil dieser Tausch »alles für nichts« von Gott als recht anerkannt und für den evangelischen Glauben grundlegend sind,14 wird damit für evangelisches Christsein auch eine ökonomische und soziale Perspektive begründet, in der Akkumulation nicht Gesetz ist und bleibende Beziehung zwischen den Tauschpartnern sich mit individueller Freiheit verbindet. Angesichts der Wirtschaftskrise erlauben sich mittlerweile auch Kirchenleitungen, solche Perspektiven öffentlich ins Spiel zu bringen – und bringen bisher eher marginalisierte theologische Erinnerungen und Menschen, die sie vertreten, in die Position des Chaostheoretikers im Spielberg-Film »Jurassic Park«, der im Angesicht des angreifenden Tyrannosaurus Rex ausruft: »Ich hasse es, recht zu behalten.«
Ein zweites Feld ist die Milieu-Aufmerksamkeit, die in der letzten Mitgliedschaftsbefragung der EKD, aber auch in praktisch-theologischen Diskussionen starke Resonanz findet.15 In einer Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts (SI) der EKD mit dem Titel »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier…«16 (Gal. 3,28) wollen die AutorInnen Petra-Angela Ahrens und Gerhard Wegner den Sinn der neuen Milieu-Aufmerksamkeit in der Kirche keinesfalls bestreiten, aber auf ihr evangelisches Potential hin fokussieren. Man kann Menschen nur dann durch ästhetische Anmutungen, durch milieu-spezifische Inszenierungen zwischen Musikgeschmack und Mediennutzung zur Teilnahme an kirchlichem Leben gewinnen, wenn sie eine offene und tendenziell positive Haltung zum Glauben schon mitbringen. Theologische Aufgabe ist eine neue Gewichtung zwischen »Mission« und »Milieu«. Auf die »Neuschöpfung durch das Evangelium« zu vertrauen schließt ein, die neuerdings eingespielte Gewichtung im Thema Kirche und soziale Milieus wieder umzudrehen: Der Glaube an das Evangelium selbst hat von Anbeginn milieubildende Kraft. Der Glaube schafft sich das Milieu, das ihm angemessen ist und eignet sich in diesem Sinne das »Material« des Milieus an (S. 104) – wenn denn den haupt- und nebenamtlichen MitarbeiterInnen und den engagierten Christenmenschen je vor Ort zugetraut, zugemutet und ermöglicht wird, so zu leben und zu arbeiten.
Die Wahrnehmung von Individualität und Subjektivität der Menschen wird mit gutem evangelischem Grund als Charakteristikum des Protestantismus angesehen, allerdings zu einseitig und schmal auf die Lebenswirklichkeit bezogen. Man erkennt Menschen nicht schon dann als Subjekte ihres Glaubens und Lebens an, wenn man ihre Meinungen in empirischen Befragungen erkundet. Gerade hier liegen eher notwendige Grenzen: was »evangelisch« ist, kann ebenso begrenzt aus Meinungsumfragen erhoben werden wie die Geltung der Verfassung des demokratischen Rechtsstaates z.B. aus Befragungen zur Einführung der Todesstrafe. Im kirchlichen Handeln sollte Wertschätzung von Subjektivität sich nicht in der fraglos notwendigen möglichst guten Ausrichtung von Segensgottesdiensten in biographischen Übergängen konzentrieren. Nötig ist auf allen Ebenen der Kirchenleitung vor allem eine Haltung der Wertschätzung, Unterstützung von Selbsttätigkeit, Empowerment von Menschen, die sich in der Gemeinde und an anderen »kirchlichen Orten« engagieren wollen, Unterstützung von Charismen einschließlich der Bereitschaft, Macht abzugeben. Das schließt in den notwendigen Planungs- und Umstrukturierungsprozessen einen tendenziellen Verzicht auf die Vogelperspektive der Planung von Makro-Prozessen ein. Ein Beispiel: Die Einsicht, dass in der Kirche nicht an allen Orten alles gemacht werden kann, kann sich nicht in »Leuchtfeuer«- Konzentrationsbildungen in der Fläche der kirchlichen Lebenswelten realisieren, die immer mit Konkurrenz, auch mit Missachtung und Demotivierung von Mitarbeitenden außerhalb dieser Zentren verbunden sind, sondern vor allem in einer wertschätzenden Wahrnehmung von Kompetenzen und Ressourcen jeweils vor Ort und auf horizontaler hierarchischer Ebene.

Zum Schluss: Die evangelische Kirche hat aus ihrem guten Grund die Aufgabe und die Kompetenz, an der Erhaltung und Entfaltung einer offenen und demokratischen Gesellschaft mitzuarbeiten. Dies ist in Zeiten der ökonomischen, sozialen und politischen Krisen besonders nötig. Sie trägt dazu bei, indem sie als »symbolisches Kapital« Räume der Beheimatung ohne Verwerfung des Fremden, aber auch des Widerspruchs gegen gesellschaftliche Zerstörungen anbietet, die vor allem durch Verarmung, Ent-Wichtigung und Ausschluss aus Lebenschancen und Partizipationen für große und größer werdende Bevölkerungsgruppen um sich greifen. Die zentrale evangelische Kompetenz der Kirche liegt aber in der Unterscheidung von »Gesetz« und »Verheißung« auch im Gesellschaftlichen – und damit in der Entzauberung der totalitären Machtansprüche des Marktes, die allzu lange dazu geführt haben, dass unsere offene Gesellschaft zu einer – im Sinne einer kapitalistischen Religion – »Versammlung der Glaubenden« geraten ist.


Anmerkungen:
1    Vgl. »Kirchentheorie bezieht den dogmatischen Lehr- oder Wesensbegriff auf einen gegebenen kirchlichen Zustand mit dem Zweck einer kritischen Beurteilung und gegebenenfalls Verbesserung dieses Zustandes«, Reiner Preul, Kirchentheorie, Berlin/New York 1997, 3.
2    Die Debatte zur gesellschaftlichen Individualisierung wurde vor 20 Jahren angestoßen von Hans-Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986.
3    Vgl. Peter L. Berger, A Market model for the Analysis of Ecumenicity. Social research 30, 1967, 77-93.
4    Philip Jenkins, God’s Continent. Christianity, Islam, and Europe’s Religious Crisis, Oxford 2007.
5    Grace Davie, Is Europe an Exceptional Case? IRM 378/379, 2006, Vol 95, 247-258.
6    So fasst Theodor Ahrens in seinem hervorragenden Literaturbericht diese Einsichten zusammen: Theodor Ahrens, Zur Zukunft des Christentums. Abbrüche und Neuanfänge. Frankfurt/M 2009, 40.
7    Vgl. die AutorInnen unter akpop.de.
8    Vgl. in praktisch-theologischer Zuspitzung Martin Kumlehn, Kirche im Zeitalter der Pluralisierung von Religion. Ein Beitrag zur praktisch-theologischen Kirchentheorie, Gütersloh 2000.
9    David B. Barrett et al., Missometrics 2008: Reality Checks for Christian World Communions. IBMR 32, 2008, 27-30, zit. nach Theodor Ahrens, a.a.O., 16f.
10    Vgl. in diesem Zusammenhang die Diskussion der Thesen von Philip Jenkins, Alistair E. McGrath und John V. Taylor bei Theodor Ahrens, a.a.O., passim.
11    Vgl. Werner Kahl, Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretation und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft. Frankfurt/M. 2007.
12    Vgl. dazu: Erhard Kamphausen, Judentum und Islam im Endzeitdenken des fundamentalistischen Protestantismus und der pentekostalen Bewegung nordamerikanischen Ursprungs, 2006.
13    Vgl. Gerhard Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche. ZThK 47, 1950, 1-46.
14    WA 7, 55, 1ff.
15    Vgl. z.B.: Kristian Fechtner, Lutz Friedrichs (Hrsg.), Normalfall Sonntagsgottesdienst? Gottesdienst und Sonntagskultur im Umbruch. Stuttgart 2008.
16    Petra-Angela Ahrens, Gerhard Wegner, »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier…« Erkundungen der Affinität sozialer Milieus zu Kirche und Religion in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Hannover 2008. Das Buch kann im Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD bestellt werden.

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Hans-Martin Gutmann, Jahrgang 1953, Pastor der Ev.-Luth. Landeskirche in Braunschweig, 1994-2001 Professor für Ev. Religionsdidaktik und Kirchengeschichte an der Universität Paderborn, seit 2001 Professor für Praktische Theologie und Universitätsprediger an der Universität Hamburg.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2009

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.