Für das in Gestalt der Kirche institutionalisierte Christentum hatte Sören Kierkegaard je länger je mehr Spott übrig. Mag er theologisch einseitig argumentieren, so hat er offenbar Tendenzen erkannt, die sich in neueren Umfragen zur religiösen Disposition heutiger Zeitgenossen bestätigen.


Später Spott für das institutiona­lisierte Christentum

Im Jahr seines plötzlichen Todes 1855 hat der dänische Privatgelehrte und Philosoph Sören Kierkegaard eine Zeitschrift herausgegeben, die den Titel »Der Augenblick«1 trug, und die nichts anderes erreichen sollte, als in satirisch bissiger Art und Weise das damalige (und bis heute bestehende) Staatskirchensystem in Dänemark ad absurdum zu führen. Der Maßstab für die Bewertung des christlichen Glaubens lag für Kierkegaard in der Neuentdeckung der Botschaft Jesu durch die später so genannte Leben-Jesu-Forschung. Kierkegaard hatte diese Beobachtungen zum christlichen Glauben bereits einige Jahre zuvor in seinem Buch »Einübung im Christentum« – damals noch unter Pseudonym – ausgeführt, in dieser Schrift jedoch nicht derart radikal auf die kirchliche Situation angewandt.
In Kenntnis der ntl. Schriften erörtert Kierkegaard, dass das Christsein einen Entscheidungsprozess voraussetzt, und daher einem Kind niemals zugesprochen werden kann: »Christ zu werden, setzt nach dem Neuen Testament ein persönliches Bewusstsein der Sünde voraus: dass man sich als Sünder weiß.« (123) Die christliche Einstellung basiert auf einer Abgrenzung Anderen gegen­über. Das Christentum ist so gesehen Kampf, ist Qual, ist Absterben gegenüber der Welt. Der Glaube setzt also ein besonders Bewusstsein voraus, dass sich nur im Unterschied Anderen gegenüber vollziehen kann (47). Im Glauben muss allein von einem »Entweder-Oder« geredet werden, niemals aber von einem »bis zu einem gewissen Grade« (4). Der Glaube hat so gesehen Konsequenzen, die nur in einem bestimmten Sinn und nicht irgendwie genannt werden können: »Im Neuen Testament stellt der Heiland der Welt, unser Herr Jesus Christus, die Sache so dar: ›Die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führt; und wenig ist ihrer, die ihn finden.‹« (20)
Es geht Kierkegaard nun aber gar nicht darum, diese Einstellung bis ins Letzte auszuzeichnen, ja im Gegenteil bleibt die eigentlich christliche Einstellung immer ein wenig nebulös und die Frage bleibt offen, ob sich Kierkegaard denn selbst als ein solcher Christ verstanden haben wird. Umso schärfer jedoch ist seine Argumentation zur Staatskirche, die das Christentum zur allgemeinen Voraussetzung macht. Er treibt es sogar soweit, dass er sagt, der Staat stelle 1000 Beamte ein, die ein pekuniäres Interesse daran haben, das (wirkliche) Christentum zu verhindern, da es diesen darauf ankomme, dass es möglichst viele Menschen gibt, die sich Christen nennen wollen, ohne recht zu wissen, was »in Wahrheit Christentum ist« (5). Das wahre Christentum ist nach Kierkegaard eine Einstellung, die von einem Menschen Opfer verlangt und ihn vor eine Entscheidung stellt. Der Gottesdienst der Staatskirche dagegen habe dies zu verschleiern: »…dass in stiller Stunde ein Mann dramatisch kostümiert auftritt und mit Schrecken im Gesicht, mit ersticktem Schluchzen verkündet: es gebe eine ewige Verantwortung, eine ewige Rechenschaft, der wir entgegen gehen.« (9)
Satirisch vollendet wird dies in einigen Aphorismen, von denen hier zwei zu zitieren sind: »II. Die Kanzel der prachtvollen Domkirche besteigt der hochwohlgeborene, hochwürdige geheime General-Ober-Hof-Prädikant, der auserwählte Liebling der vornehmen Welt; er tritt auf die Kanzel vor einem auserwählten Kreis auserwählter Personen und predigt gerührt über den von ihm selbst ausgewählten Text: ›Das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt‹ und da ist niemand der lacht.« (74) Und: »VII. Ist’s ein und dieselbe Lehre, wenn Christus zu dem reichen Jüngling sagt: ›Verkaufe alles, was du hast und gib’s den Armen!‹ und wenn der Pfarrer sagt: ›Verkaufe alles, was du hast und gib es mir.‹« (75)
Spätestens mit dem letzten Zitat wird auch dem letzten klar, dass sich die Argumentation Kierkegaards keinesfalls erledigt hat. Es geht um die Frage, ob das »Entweder-Oder« des Glaubens aufgelöst wird in ein »Sowohl-als-Auch« (11). Die Kirche erwecke den Eindruck, so Kierkegaard, als könne die »Sorge für ein seliges Leben« als bürgerliche öffentliche Angelegenheit mit Geld zufrieden gestellt werden (15). Wenn das wahre Christentum als Leiden und als Opferbereitschaft beschrieben wird, wovon er ausgeht, dann wird es durch staatliche Protektion geradezu unterhöhlt (18). Aus einem steinigen und engen Weg, wie ihn Jesus in der Bergpredigt beschreibt, wird nun das »Lob des Menschengeschlechts«. Christus dagegen fragt: Wenn ich wiederkommen werde, werde ich Glauben finden? (20) In diesem Staat ist es nun geradezu umgekehrt verboten, das Christentum zu leugnen, da jeder Mensch irgendwie automatisch Christi ist (22). So wird Gott der Lächerlichkeit preisgegeben (25). Dass NT wird zur Unterhaltungslektüre (26). Das Christentum wird durch seine Ausbreitung abgeschafft, zum Namens-Christentum (29).
Inhaltlich wird hier eigentlich kein Fortschritt deutlich, weil Kierkegaard immer wieder auf der gleichen Ebene argumentiert. Von seinem inhaltlich-ideologischen Anspruch her führt er die volkskirchlich christliche Institution ad absurdum. Er macht es immer wieder an der Zahl der 1000 verbeamteten Pfarrer der dänischen Kirche deutlich. Bei einem Wechsel zu einem freien Kirchensystem würden 90% aller Pfarrstellen wegfallen können, da also nur etwa 10% der Menschen sich im strengen Sinn als Christen verstehen (37). Die Staatskirche selbst ist Gift für den Glauben, der sich allein an Jesus orientiert (39). Damit werden aber auch die kirchlichen Amtshandlungen der Kritik unterzogen. Das Christentum will »wahre Christen«, die Staatskirche dagegen will »viele Christen« (45).


Vom Entweder-Oder zum Sowohl-Als auch

Kierkegaard hat von der Wahrheit her sicherlich nicht unrecht, wenn er das Verhalten der Kirche der Lächerlichkeit preisgegeben sieht, die ihre eigene Verkündigung entwertet, wenn es denn richtig ist, den Hauptinhalt der christlichen Botschaft im Gegensatz zur Welt, in der Opferbereitschaft und im strengen christlichen Lebensanspruch zu sehen. Dass seine scharfsinnige Analyse und Kritik nicht nur diese Form von kirchlicher Organisation betrifft, dürfte deutlich geworden sein. Hier wird zweierlei in die Waagschale geworfen: Die christliche Ideologie, die man der Botschaft von der Lehre und dem Leben Jesu entnimmt und die neu entdeckte Freiheit, die den Gedanken der Freiwilligkeit nahe legt, der möglicherweise freien und unabhängigen Entscheidung und der dann konstituierten Gemeinschaft, wenn sie denn überhaupt nötig ist.
Die Kirche dagegen nivelliert alle Unterschiede, will ohne Ansehen des persönlichen Glaubens und Handelns eine möglichst große Zahl an Christinnen und Christen verwalten, und setzt das Christsein aller ohne Unterschiede voraus (47). Kierkegaard macht dann konsequenterweise deutlich, dass von dieser Vorgabe her die Kindertaufe nur die Funktion hat, diese kirchliche Einstellung zu unterstützten, was er als reine »Menschenfischerei« bezeichnet (94). Das Bewusstsein dagegen, sich selbst als Christ zu wissen und zu verstehen, setze eine bewusste Entscheidung voraus (102). Am ärgsten treffen es die Handlungen der Konfirmation und Trauung, die Kierkegaard als »christliches Komödienspiel« bezeichnet: »›Das zarte Kind‹, sagt die Christenheit, ›kann ja das Taufgelübde nicht persönlich übernehmen, dazu gehört eine wirkliche Persönlichkeit‹. So hat man denn – ist das genial oder sinnreich? – das Alter zwischen 14 und 15 Jahren, das Knabenalter, dazu gewählt. Diese wirkliche Person – da ist gar nichts im Wege, sie ist Manns genug, das für das Kindlein abgelegte Taufgelübde persönlich zu übernehmen. Ein Junge mit 15 Jahren! Handelte es sich um 10 Taler, so würde der Vater sagen: ›Nein, mein Junge, das kann man dir nicht überlassen, dafür bist du hinter den Ohren noch nicht trocken genug.‹ Wo es sich aber um die ewige Seligkeit handelt, und wo eine wirkliche Persönlichkeit hergehört, welche die Verpflichtung des Kindleins durch ein Gelöbnis mit persönlichem Ernst übernähme: das ist das Alter von 15 Jahren das passendste.« (106f)
Löst man sich nun einmal ein wenig von der Argumentation Kierkegaards, auch wenn hier und dort ein Schmunzeln nicht ausbleiben mag, so ist deutlich, dass sich zwei deutliche Alternativen ausbilden, die beide von der Bibel her begründet und praktiziert werden: A – eine klare, ideologisch gefestigte Entscheidung zu einem bewussten Verhalten und einer entsprechenden persönlichen Haltung des Glaubens, von der die Volkskirche gleichwohl auch predigt und diese entsprechend verkündigt, und B – eine diffus christlich geprägte Einstellung, die gleichwohl die kirchlichen Angebote wie Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung benötigt, die Feiertage volkskirchlich begeht, die von einer staatlich unterstützten oder wenigstens abgesicherten Kirchenverfassung begleitet wird, wozu verbeamtete Pfarrer gehören, möglicherweise auch eine Kirchensteuer, wobei allerdings die Haltung selbst und deren Praxis absolut in die Verantwortung des Einzelnen gelegt wird.
Ob die Haltung A eher zu einem pietistisch fundamentalistischen Glauben oder zu einer radikal pazifistischen Ethik führt, sei hier dahingestellt. So sehr Kierkegaard zu recht das Beispiel der Lehre Jesu und die biblische Verkündigung ins Feld führt und sie auf eine bestimmte Grundentscheidung festlegt, so unklar ist, worin genau eine solche christliche Praxis bestehen soll. Geht man einmal von den durch Gerd Theißen beschriebenen Grundmotiven urchristlicher Religion und biblischen Glaubens aus (Schöpfungsmotiv, Weisheitsmotiv, Wundermotiv, Entfremdungsmotiv, Hoffnungsmotiv, Umkehrmotiv, Exodusmotiv, Stellvertretungsmotiv, Einwohnungsmotiv, Glaubensmotiv, Agapemotiv, Positionswechselmotiv, Gerichtsmotiv, Rechtfertigungsmotiv)2, dann wird schnell deutlich, dass es schwierig ist, eines oder mehrere dieser Motive zu isolieren und sie zur Basis einer ideologisch begründeten Einstellung zu machen. Auch wenn sich die Argumentation Kierkegaards sehr einleuchtend anhört, kommt sie doch genau dadurch zustande, dass er ein Entscheidungsmotiv ausdrücklich stark betont und andere biblische Motive dagegen unberücksichtigt lässt. Würde der Glaube nur auf einer einmal getroffenen individuellen Entscheidung beruhen, wäre die Kirche nichts anderes als eine Weltanschauungsgemeinschaft. Die religiösen Motive des Christentums kommen aus unterschiedlichen religionsgeschichtlichen Ursprüngen und lassen sich nicht einfach über einen Kamm scheren. Selbst auf der Ebene der biblischen Überlieferung ließen sich Motive finden, in denen sogar Jesus eine rigorose Entscheidungsreligion unterläuft, und zwar sowohl dem Judentum gegenüber, als auch in die Richtung der eigenen schon christlich begründeten Entscheidungsalternativen.
Trotz aller satirischen Einsprüche ist die Konsequenz daraus, dass sich die Alternative B, obwohl durch Kierkegaard nach Kräften ins Lächerliche gezogen, nahe zu legen scheint. Ihr Vorteil besteht darin, dass die kirchliche Begleitung auch bei größerer Distanz gewährleistet ist. Die Art und Weise der eigenen religiösen Praxis bleibt, von einigen vorgegebenen kirchlichen Verpflichtungen abgesehen (Kirchensteuer, Konfirmandenunterricht) jedem selbst überlassen. Dennoch wird in dieser Kirche der Glaube anscheinend zu stark von finanziellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten überlagert. Und so ist die Auflösung der volkskirchlichen Struktur dann vorgezeichnet, wenn sie die ideologische Bindungskraft verliert.3
Aber es greift zu kurz, die Satire von Kierke­gaard als klare Handlungsanweisung zu lesen. Hier wird eine Aporie aufgezeigt, besser gesagt: Die Kirche kommt ohne eine Kombination von A und B nicht aus, auch wenn sich beide Positionen zunächst auszuschließen scheinen. Die Kirche muss den schwachen Glauben der kirchlich distanzierten Mitglieder bewusst ernst nehmen; sie darf ihn nicht gleichzeitig fördern (durch die Kindertaufe) und abqualifizieren (z.B. als »Namens­christentum«). Andererseits darf die Kirche nicht den Kontakt zum Ernst der biblischen Botschaft und zu seinen praktischen Konsequenzen aufgeben. Sie kann den ideologischen Zusammenhalt fördern und darf gleichzeitig die darin liegende spalterische Tendenz nicht zulassen.


Kierkegaards Kirchenkritik im Licht dreier aktueller Umfragen

Die starke innerkirchliche Spannung zwischen einem schwachen und einem starken Glauben und die Gefahr der Abkehr vom Kern der christlichen Überlieferung und der Kernidentität des christlichen Glaubens werden durch Kierkegaard schon vorgezeichnet. Beides belegen drei aktuelle Umfragen, die im Folgenden darzustellen sind, und zwar in zeitlicher Reihenfolge: die religiösen Fragen der 15. Shell Jugendstudie4, die Auswertung des Religionsmonitors 20085 und die Auswertung der religiösen Fragen der ESS (European Social Survey) Umfrage, erschienen im Jahr 20096.

»Religion light« – Die 15. Shell Jugendstudie 2006
Die Beobachtungen der unterschiedlichen Umfragen zeigen letztendlich nur Tendenzen, da sie von den Fragestellungen und Zielgruppen her doch abweichen. Außerdem sind die Auswertungsfragestellungen verschieden. Die 15. Shell Jugendstudie 2006, die wie schon die 14. Studie 2004 vom EMNID-Institut in Bielefeld erstellt wurde, bezog sich in einem Fragenbereich auch auf die Religiosität. Im Rückgriff auf eine Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 2006 scheint sich hier die Vermutung zu bestätigen, dass der Säkularisierungstrend gestoppt worden ist.7 Dennoch ist gerade unter den jungen Menschen der Anteil der an Religion Uninteressierten von allen Altersgruppen am höchsten (1994 47%, 2006 38%).8
Die Relevanz der Religion wird mit unterschiedlichen Kontrollfragen gemessen. Dabei zeigt die Frage nach der Bewältigung des Todes auch unter jungen Menschen den höchsten Anteil religiösen Interesses. Selbst der Glaube an ein »Leben nach dem Tode« lässt sich bei zwei Dritteln der Jugendlichen nachweisen.9 Allerdings hat diese religiöse Ansprechbarkeit nichts mit der Kirchenbindung zu tun, eher im Gegenteil: In den Kirchen kommt ein religiöses Interesse junger Leute kaum an.10 Die Grundfrage, die eine religiöse Lebensverankerung zeigt, wird in dieser Studie durch die Gottesfrage gestellt: 30% glauben an einen persönlichen Gott, 19% an eine überirdische Macht, 23% wissen nicht, was sie glauben sollen, und 28% sind areligiös.11 Unter den 30% der jungen Menschen, die sich religiös verstehen und auch einer religiösen Institution nahe stehen, sind besonders viele mit einem Migrationshintergrund, vor allem Muslime, aber auch verschiedene Angehörige christlicher Konfessionen. Dabei sind die religiös Interessierten ebenso auch parareligiös ansprechbar, die nicht Religiösen dagegen kaum (Schicksal, Vorherbestimmung, Engel).12 Interessant ist, dass trotz des großen Abstands zu den Kirchen deren Ansehen als Institution bei der Jugend recht hoch ist. Fast 70% aller Jugendlichen finden es gut, dass es eine Kirche gibt. Genauso viele sagen aber auch, dass sich die Kirchen ändern müssen, wenn sie eine Zukunft haben wollen.13 Bei 65% heißt es, dass sie von den Kirchen keine Antwort auf ihre persönlichen Fragen erwarten. Der Glaube hat kaum Auswirkungen auf ihre Lebensführung.14 Von den Kirchen werden allgemein keine hilfreichen Antworten auf die drängenden Lebensfragen erwartet.15
Insgesamt gibt es etwa drei gleich große Gruppen in Deutschland: »Den Mainstream der Daten unserer Studie bestimmt die Mehrheitskultur westdeutscher Jugendlicher, die man insgesamt als mäßig religiös einstufen kann (›Religion light‹). Zweitens gibt es seit der Wiedervereinigung eine Teilkultur ostdeutscher Jugendlicher, die nur in geringem Maße religiös ist. Eine dritte ausgeprägt religiöse Kultur bilden die Jugendlichen mit Migrationshintergrund«16. Bei jeder Art von religiöser Ausprägung ist der jeweilige familiäre Hintergrund entscheidend prägend.17 Auch wenn sich ein kirchennaher Glaube in deutlich erhöhter Wichtigkeit für die Lebensgestaltung auswirkt, so zeigt sich letztlich doch im Allgemeinen, dass von der Gottesvorstellung selbst nur eine mäßige Prägekraft für die Lebensführung ausgeht.18 Umgekehrt wurde festgestellt, dass auch die Wertbindung der nicht oder wenig Religiösen kaum geringer ist, als die der Religiösen, und dass die Wertbindung insgesamt stark vom Wert des »Familienlebens« geprägt ist.19 Familien und verstärkt auch Peergroups tragen zur positiven Tradierung von Werten bei.20 Das heißt, dass die säkulare Gesellschaft oft auch ohne den Einfluss der Religion in der Lage ist, Werte zu bilden und der jungen Generation zu vermitteln. Die Rolle der Kirchen dabei, die sicherlich nicht unerheblich ist, wird immer weniger bewusst wahrgenommen. Der stärker religiös ausgeprägte Teil der Jugendlichen importiert diese Einstellung quasi durch seinen Migrationshintergrund, wobei gerade hierbei auch die familiäre Bindung sehr entscheidend ist.21
Ein erstes Fazit zeigt, dass eine nach wie vor mit ca. 1/3 recht starke religiöse Gruppe nicht so sehr durch eine religiöse Institution geprägt ist, sondern durch einen religiös familiär geprägten Migrationshintergrund. Selbst in der säkularen Gesellschaft haben die Kirchen als Institutionen oder allgemein religiöse Institutionen eine hohe Akzeptanz, werden aber, von der Todesfrage abgesehen, kaum mit dem Lebensalltag in Verbindung gebracht. Selbst bei religiös geprägten Jugendlichen ist der Bereich parareligiösen Einflusses höher als der eigentlich kirchliche. Die eigentliche Autorität für die Vermittlung von Werten stellt die Herkunftsfamilie dar und nicht die Kirche oder der Glaube an Gott. Faktisch ist dies also eine mehr oder weniger starke Religiosität, die insgesamt kaum noch unter kirchlichem Einfluss steht. Etwa 75% sind religiös ansprechbar, 50% haben einen konkreten Glauben und 30% glauben an einen persönlichen Gott in der Art des Christentums oder des Islams.
Auf dem Hintergrund dessen, was von Sören Kierkegaard vor 150 Jahren festgestellt wurde, scheint sich zu bestätigen, dass die Kirche sich durch die schwächere Bindung an ihre eigenen Wurzeln selbst überflüssig macht. Dennoch versinkt die säkulare Gesellschaft nicht im reinen Chaos, sondern gerade im Gegenteil etabliert sich eine »Religion light«, die sich weder religiös noch kirchlich bevormunden lässt und über das Familiensystem in der Lage ist, grundlegende Werte zu tradieren.

»Kirchlich-religiöse Hintergrundsmusik« – Religionsmonitor 2008
Diese Einstellung scheint der Religionsmonitor 2008 zunächst ganz anders zu sehen. Er ist dadurch ausgezeichnet, dass er wie mit einer Lupe die Rolle religiöser Einstellungen näher betrachtet. Er ist auch international ausgelegt und weniger national sowie natürlich auf alle Altersgruppen. Es kann hier nicht darum gehen, die Ergebnisse des Religionsmonitors 2008 ganz zu referieren, sondern es ist lediglich möglich, einige Beob­achtungen aufzuzeigen.
Wenn das Fazit durchaus lauten kann: »Die Menschheit ist religiös«22, dann gehören dazu genauso aber auch einige Differenzierungen.23 Besonders stark religiös erscheinen Länder wie Indien, die Türkei, aber auch die USA und Brasilien. Weniger religiös sind westliche Länder wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Eine stärkere Religiosität weisen die traditionell katholisch geprägten Länder Europas auf wie Polen und Italien. Bezeichnend ist darüber hinaus die Unterscheidung des Religionsmonitors zwischen einer eher zentralen Religiosität, die auch hochreligiös genannt wird, und einer mehr peripheren Religiosität. Dabei erscheint der Anteil der Hochreligiösen in Europa besonders niedrig. In Deutschland sind lediglich 18% hochreligiös und weitere 52% religiös im weiteren Sinn. Folglich liegt der Anteil der Nichtreligiösen bei ca. 30%, womit sich dieser Wert mit dem Anteil der Nichtreligiösen in der Shellstudie verbindet (dort 28%). Wenn man dann berücksichtigt, dass der Anteil der Hochreligiösen in muslimischen Ländern wesentlich höher ist (Türkei 45%), so kann man sich schon von daher erklären, wieso durch Migration auch der Anteil religiöser Menschen hierzulande gesteigert wird.24
Nur der Anteil der Hochreligiösen, die Menschen mit Migrationshintergrund eingeschlossen, ist im engeren Sinn kirchlich orientiert, was der Religionsmonitor mit anderen Beobachtungen zur religiösen Praxis unterstreicht. Der Anteil der öffentlichen religiösen Praxis liegt nur bei 44%, davon 17% hoch und 27% mittel.25 Zwei Drittel aller Deutschen neigen dazu, ihre Religiosität kritisch zu hinterfragen, wobei der Anteil der Hochreligiösen in dieser Hinsicht eher höher als niedriger ist.26 Fragt man dagegen nach strengeren religiösen Maßstäben wie dem regelmäßigen Gottesdienstbesuch, so fällt die Zustimmung gleich ganz schwach aus. Nur 7% gehen regelmäßig in die Kirche, wobei der Anteil bei der katholischen Konfession höher ist.27 Je stärker die Zentralität der Religion für das eigene Leben ist, umso enger ist auch die Bindung an die jeweilige Kirche.28
Armin Nassehi zieht aus den Beobachtungen zur Religion und Kirche folgende Konsequenz: »Es scheinen nicht mehr die kirchlichen Institutionen zu sein, an denen sich die Religiosität gerade von Hochreligiösen abarbeitet, sondern die authentische Präsentierbarkeit des eigenen Lebens, das sich den Konsistenzzumutungen konfessioneller Praxis unmerklich, aber deutlich entzieht.«29 Das religiöse Bewusstsein setzt also immer stärker auf Individualität, anstelle auf den Vollzug vorgegebener Riten. Wie aber wird dann der von den Hochreligiösen abgesetzte Bereich der Religiösen gesehen? Hierzu sagt Nassehi: »Religion läuft hier gewissermaßen wie eine Hintergrundmusik mit, die zwar Riten- und kirchenkritisch vorgetragen wird, aber doch gerade darauf zurückgreift: auf Taufe, Kommunion/Konfirmation, Hochzeit, Beerdigung, Weihnachten, Ostern und ähnliche Anlässe, die sich dann irgendwie von selbst verstehen … In diesem Typus gibt es zwei Besonderheiten. Das ist zum einen das Verständnis der Religion als Gesetz, also ein System, das Regeln vorgibt, ethische Vorgaben macht und eine Ordnungsfunktion erfüllen soll. Zum anderen ist es die Betonung der ästhetischen Dimension, also des ästhetischen Rahmens für Kasualien, der Architektur und der Musik.«30
Wichtig, auch für den Vergleich mit anderen Umfragen, ist dabei dann noch einmal, dass diese Einschätzung aus der Art der Fragen des Religionsmonitors geschlossen wird, die darauf abzielen, mit unterschiedlichen Techniken den Bezug zu den zentralen Dimensionen der Religion zu ermitteln (Intellekt, Ideologie (Glaube), Öffentliche Praxis, Private Praxis, Erfahrung, Konsequenzen).31 Werden dagegen Interviewpartner direkt nach ihrer religiösen Selbsteinschätzung gefragt, so erscheinen in Deutschland/West sich selbst 18% als ziemlich oder eher religiös (Ost-Deutschland 6%); 40% in Westdeutschland geben an wenig bzw. nicht religiös zu sein (Ostdeutschland 78%).
Vom Trend her ist also kein Unterschied zwischen der Beobachtung der 15. Shell Jugendstudie und des Religionsmonitors zu erkennen, wenn auch die Begrifflichkeit verschieden ist. Wahrscheinlich liegt Kierkegaard richtig mit seiner Einschätzung, dass 10% der Pfarrstellen ausreichen würden, um sich um den Anteil der jetzt so genannten Hochreligiösen zu kümmern. Die Anderen, im Religionsmonitor als »religiös« bezeichnet, brauchen die Kirche als »Hintergrundmusik« und als Dienstleister für die Sinngebung ihrer Lebensbiographie. Worin Kierkegaard allerdings irrte, ist die Tatsache, dass sich die Kirche durch dieses System von selbst auflösen würde. Klar ist freilich, dass der normale Lebensalltag bei über 80% der Menschen gut ohne kirchlich religiöse Begleitmusik auskommt. Bei kirchlichen Amtshandlungen kommen dementsprechend auch gar nicht mehr die normalen kirchlichen Texte und Lieder zum Einsatz, weil die ohnehin kaum jemand mehr kennt, sondern völlig neue, oft sogar säkulare oder populärästhetisch ausgestaltete Texte oder Musikbeiträge. Wer dies positiv bewertet, wozu bei der kontinuierlich distanzierten Treue ja auch Anlass besteht, bezeichnet die Arbeit der Kirche heute als »Transformation des Religiösen in die moderne Kultur« (Wilhelm Gräb).32 Wohin wird sich die Zukunft entwickeln?

»Undeutliche Gläubigkeit« – European Social Survey 2009
Eine Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Religion in der westlichen Kultur versucht die Studie, die im »European Sociological Review« aus Oxford 2009 veröffentlicht wurde und Daten der europäischen Umfrage ESS auswertet.33 Die Beteiligung an Religion wird in dreifacher Hinsicht nachgefragt: »Affiliation: current or past identification with a religion practice: frequency of attendance at religious services, frequency of private prayer belief: self-rated religiosity, importance of religion in respondent’s life«.34 Der Titel »The Rise and Fall of Fuzzy Fidelity in Europe« bezieht sich besonders auf die Gruppe der Menschen, deren Einstellung als »Fuzzy Fidelity« zu bezeichnen ist. Dieser Begriff scheint eher aus der Statistik zu stammen, wozu er ja im Kontext einer Befragung auch gehört, und meint eine Gruppe, die weder der Ja- noch der Nein-Position eindeutig zuzuordnen ist.35 Die Studie bezieht sich ausschließlich auf europäische Länder, die von ihren unterschiedlichen konfessionellen Wurzeln her auch verschieden zu betrachten sind. Die »undeutliche Gläubigkeit«, wie man »Fuzzy Fidelity« vielleicht übersetzen könnte, zeigt sich – wie schon oben festgestellt – besonders daran, dass die Beteiligung an kirchlichen Trauungen und Bestattungen, dem Heilig­abendgottesdienst und örtlichen Kirchenfesten weiterhin gewünscht wird. Man bezeichnet sich als einer Konfession zugehörig. Man würde sich weder als Kirchgänger noch als nicht Religiös bezeichnen. Man steht sogar treu zu einer Tradition, ohne sich in der jeweiligen Kirche einzubringen. Gott ist dafür da, dass Kinder ein gutes Benehmen lernen, z.B. Hilfsbereitschaft und Toleranz.36
An die Stelle eines bestimmten konkreten Glaubensbekenntnisses tritt in der Gruppe des ungenauen Glaubens die Vorstellung einer höheren Gewalt und einer letztgültigen Moral.37 Die Schwäche dieses Glaubens wird auch in folgendem Zitat deutlich: »Typically they were baptised and attendend church when they are young. They are unsure whether God exists, but in any case he does not play a part in their lives. They do not refer to any religion or deity in answer to questions about what they believe in, what is important to them, what guides them morally, what makes them happy or sad, their purpose in life or what happens after they die.«38 Die Ausrichtung der Studie erlaubt sogar einen Blick auf Dänemark, was auf dem Hintergrund der Beobachtungen Kierkegaards bezeichnend sein mag: In Dänemark gelten 20% als religiös, die sich selbst eher als areligiös einstufen.39 Manche stehen allerdings auch zum privaten Gebet, obwohl sie sich am Leben einer Konfession nicht beteiligen.
Interessant ist nun die Konsequenz dieser Studie, die den Anteil und die Bewertung der ungenauen und schwachen Christlichkeit in verschiedenen Jahrgangsstufen beobachtet und dabei folgende Beobachtung macht: Je länger der Geburtsjahrgang zurückliegt, desto höher ist der Anteil der Religiösen und die Gruppe der »Fuzzy Fidelity«. Daraus wird aber nicht geschlossen, dass Menschen im Alter mehr der Religion zuneigen, sondern dass die älteren Menschen noch eher religiös durch die Erziehung geprägt sind als die Jüngeren. Aus dieser Feststellung wird nun eine Zukunftsprognose abgeleitet: Zunächst steigt der Anteil der schwach Religiösen deutlich an, während der Anteil der streng Religiösen kontinuierlich sinkt. Der Anteil der Säkularen, Areligiösen erhöht sich allerdings kontinuierlich. Die Gruppe der »Fuzzy Fidelity« wird einen Höhepunkt erreichen und danach wieder absinken. Zuletzt wird die Zahl der Säkularen mehr als 50% betragen.
Wenn auch die zuletzt aufzeichnete Perspektive etwas spekulativ zu sein scheint, so rechnet man tatsächlich noch längere Zeit mit einer starken Gruppe von Menschen mit einem wenn auch undeutlichen Glauben. Diese Beobachtung wird durch die Untersuchung der Zentralität im Religionsmonitor und der »Religion light« in der Shell Jugendstudie unterstützt. Die Shell Jugendstudie verbindet sich mit der Auswertung der ESS-Daten dahingehend, dass die religiös moralische Prägung ausschließlich noch durch das Elternhaus oder allenfalls von daher vermittelt vollzogen wird. In Dänemark z.B. gibt es weniger Areligiöse als anzunehmen ist, dafür aber umso mehr Menschen mit einem schwachen Glauben. Insofern müsste man eigentlich Kierkegaard recht geben, der ja im Grunde nur einer der Ersten war, der diese undeutliche Religiosität beschrieben und gesagt hat, dass ein staatlich organisiertes Kirchensystem
diese schwache Religion stützen und fördern würde. Formal scheint für diese Annahme zu sprechen, dass sich das allein auf Freiwilligkeit beruhende Religionssystem der USA als religiös weitaus stabiler darstellt. Doch die Kirchenverfassung selbst ist nur ein geringer Faktor. Selbst eine säkulare Erziehung scheint – von den Ergebnissen der Wertorientierung her gesehen – kaum anders zu sein als ein kirchlich bekenntnisorientiertes System. Die Untersuchung spricht m.E. in der derzeitigen Situation dafür, den Bereich der »fuzzy fidelity« konsequent ernst zu nehmen und diesen Weg als vollgültigen Glaubensweg anzuerkennen, der aus den Einflüssen der christlichen Wurzeln in der Säkularisierung entstanden ist. Vielleicht beginnt dieser Weg schon mit Jesus selbst, der im Gleichnis vom verlorenen Sohn die Zuwendung des Vaters zu den zwei Söhnen miteinander vergleicht, wobei der eine Sohn in der Fremde Hab und Gut verloren hat um zurückzukehren, und der andere neidisch und missmutig ist, weil er als der zuhause Gebliebene mitansehen muss, wie für den Heimkehrer das Kalb geschlachtet und ein Fest gegeben wird (Lk. 15,11-32).


Anmerkungen:

1    Sören Kierkegaard. Der Augenblick. Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1923. Nachfolgende Zitate und Verweise nach dieser Ausgabe mit Seitenangaben in Klammern.
2    Gerd Theißen. Zur Bibel motivieren. Gütersloh 2003, 131-174, und ders. Die Religion der ersten Christen. Gütersloh 2000, 368-385.
3    Der Begriff Ideologie wird hier bewusst für den Glauben verwendet, da er auch im Religionsmonitor (a.a.O.) als Dimension des Religiösen eingesetzt wird, die für die Bekenntnis- oder Glaubens­orientierung steht.
4    Shell Deutschland Holding (Hrsg.). Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck. S. Fischer Frankfurt/M. 2006; hier: Thomas Gensicke. Jugend und Religiosität, 203-240.
5    Bertelsmannstiftung (Hrsg.). Religionsmonitor 2008. Gütersloher Verlagshaus Gütersloh 2007.
6    David Voas. The Rise and Fall of Fuzzy Fidelity in Europe. In: European Sociological Review, Volume 25, Number 2, 2009, 155-168, www.esr.oxfordfournals.org .
7    Shell, a.a.O., 203.
8    Ebd.
9    Aa.O., 205f.
10    A.a.O., 206.
11    A.a.O., 208.
12    A.a.O., 215.
13    A.a.O., 217.
14    A.a.O., 218.
15    A.a.O., 221.
16    Ebd.
17    A.a.O., 224.
18    A.a.O., 227.
19    A.a.O., 231.
20    A.a.O., 238.
21    A.a.O., 238f.
22    http://www.christoph-fleischer.de/die-menschheit-ist-religioes-rezension-des-buches-religionsmonitor-hrsg-von-der-bertelsmann-stiftung-guetersloh-guetersloher-verlagshaus-guetersloh-2007.html.
23    S. hier und für die folgenden Informationen die Tabelle in Religionsmonitor 2008, a.a.O., 261.
24    A.a.O., 223.
25    S. Tabelle, a.a.O., 263.
26    A.a.O., 37.
27    A.a.O., 68.
28    A.a.O., 79.
29    A.a.O., 120.
30    A.a.O., 127.
31    S. Stefan Huber, a.a.O., 21.
32    Wilhelm Gräb. Sinnfragen. Gütersloh 2006, und andere Schriften dieses Autors.
33    Die Daten sind zugänglich unter http://ess.nsd.uib.no.
34    David Voas, a.a.O., 156.
35    S. auch Stichwort »Fuzzylogik« unter wikipedia.de.
36    Voas, a.a.O., 161.
37    Ebd.
38    A.a.O., 162.
39    A.a.O., 163.

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer Christoph Fleischer, Jahrgang 1956, verheiratet, seit 1986 evang. Pfarrer, davon 18 Jahre im Gemeindepfarramt, derzeit verschiedene Tätigkeiten im Evang. Kirchenkreis Soest: Studierendenseelsorge, Unterricht am Berufskolleg, Konfirmandenarbeit, Seelsorge und Gottesdienste; Mitglied in der Gesellschaft für Evang. Theologie; Publikationen im Evang. Pfarrerblatt, auf www.theomag.de und auf www.der-schwache-glaube.de .

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 9/2009

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