Das ökonomische Paradigma beherrscht nicht nur Gesellschaft und Kirche, sondern auch die Ausübung des Pfarrberufs und macht aus Pfarrern Manager. Hans Martin Dober plädiert bei aller kritischen Würdigung hinsichtlich der Leistungsfähigkeit ökonomischer Überlegungen für eine Wiederentdeckung des symbolisierenden Handelns im Pfarrberuf und für klare Abgrenzungen gegenüber unternehmerischen Zumutungen.1


Dass der Berufsstand des Pfarrers / der Pfarrerin gebraucht wird, scheint zwar niemand ernsthaft in Frage stellen zu wollen. Aber was die Haupt- und Nebensachen in der Vielfalt der Funktionen sind, die zu übernehmen in dieser Profession selbstverständlich erwartet wird, ist heute alles andere als klar. Der Erfolg von Isolde Karles Buch, um hier nur eine der Arbeiten zu nennen, die auf diese Verunsicherung geantwortet haben, wird in der angedeuteten Problematik einen Grund haben.2 Auf eine schleichende Entprofessionalisierung hat sie mit einem Plädoyer für die Profession geantwortet, Pfarrer zu sein. Während sich in den 70er und 80er Jahren die Seelsorge zum Leitparadigma aufgeschwungen hatte, an dem viele Pfarrerinnen und Pfarrer sich in ihrer Berufspraxis orientierten, scheint es seit Mitte der 90er Jahre bis heute die Pastoraltheologie zu sein.
Die Frage nach dem Profil des Pfarrberufs verweist auf eine weit reichende Verflüssigung sowohl in den Selbstbildern als auch in den Fremdentwürfen derer, die diesen Beruf gewählt haben und die ihn ausüben. Konturen einer Antwort sind wohl nur auf einem Umweg zu entwickeln, der sich auf die herrschenden gesellschaftlichen Plausibilitäten einlässt. Denn diese haben wie in früheren Kontexten auch heute wieder eine deutliche Spiegelung in den Erwartungen gefunden, die von den Kirchengemeinderäten, Dekanen, Synoden und anderen kirchenleitenden In-stanzen an die Pfarrerschaft herangetragen werden.
Da das herrschende Paradigma der Plausibilität gegenwärtig durchgehend das ökonomische zu sein scheint, werde ich in folgenden Schritten vorgehen: Erstens wird Gemeindeleitung zurzeit vor allem als Management betrachtet. Das hat weit reichende Konsequenzen bis in das Selbstverständnis der Pfarrerin und des Pfarrers hinein: Es ist ein Unterschied, ob ich mich als Manager oder als Geistlicher begreife, und derartige Identitäts-Diffusionen können Stress, das Gefühl der Überforderung und eine Vernebelung der Differenz von Haupt- und Nebensachen hervorrufen. Diese Konsequenzen haben ihren gesellschaftlichen Grund zweitens in einer Allgegenwart des Marktes, auf dessen Kontingenzen das Management einerseits, das Unternehmertum andererseits reagieren. Wie das Leitbild des »unternehmerischen Selbst« die gegenwärtigen Plausibilitäten bestimmt, werde ich drittens skizzieren. Viertens suche ich zu zeigen, dass das Schwergewicht im bunten Handlungsprofil des Pfarrberufs nicht selbstverständlich auf das organisierende Handeln fallen darf, während das symbolisierende an Bedeutung zu verlieren scheint. Diese Unterscheidung Schleiermachers findet sich auch im Leitbild des unternehmerischen Selbst wieder – es kommt darauf an, sie im Licht der Theologie kritisch zu profilieren. Fünftens werde ich für die Lebenskunst plädieren, Pfarrer zu sein. In ihr bedarf es des symbolisierenden Handelns ebenso wie des organisierenden, um diesem Beruf seine Freiheit und Individualität zu erhalten. Ohne ausreichende Prägnanz auf der Seite der Symbolisierung droht allerdings die Vermischung mit der symbolischen Ordnung, in der die Leitbilder der Ökonomie ihre Wirkung entfalten.


1. Von der Gemeindeleitung zum Management

Was man früher »Kybernetik« nannte, Leitung der Gemeinde nach dem Modell der Lenkung eines Schiffes, wird heute (weitgehend) als Management begriffen, als eine Leitungsfunktion nach dem Modell eines Betriebes, einer Firma. Wo liegt der Unterschied? Die Lenkung eines Schiffes war bestimmt vom Zielhafen: ihn galt es zu erreichen durch Überwindung einer Distanz in der raum-zeitlichen Welt, durch Stürme, Flauten und andere Kontingenzen hindurch. Das Modell passte zur Weg-Metapher aus Ps. 37 und des darauf aufbauenden Paul-Gerhard-Liedes »Befiehl du deine Wege …« Metaphorisch war der Weg für den Einzelnen, die Gemeinde und die Kirche durch die Zeit, hin zum Reich Gottes gemeint, das zwar jetzt schon »inwendig in euch« angekommen erfahren wurde (bis hin zu Kants moralischer Interpretation3), aber noch nicht am Zielpunkt für alle: am Ende eines durch das Christentum in die Welt gekommenen dynamischen Entwicklungs- und Universalisierungsprozesses, der erst am Jüngsten Tage seinen Abschluss gefunden haben werde.
E. Chr. Achelis zufolge – d.i. die klassische Position, die ich zur Kontrastierung wähle – hat sich die Leitung des Schiffes, das sich Gemeinde nennt, 1. absolut am Willen Christi zu orientieren, 2. bedarf sie der Abgrenzung des Machtbereichs dieses Willen im Raum der Kirche, und 3. braucht sie ein praktisches Prinzip der Ordnung4, um diesem Willen in der Differenz von sichtbarer und unsichtbarer Kirche Geltung zu verschaffen: Sie braucht das kirchliche Recht; es orientiert das Kirchenregiment ad intra und ad extra. Demgegenüber wird die Leitung in Pfarramt und Kirche unter dem Leitstern des Managements »an den Maximen von Kunden- und Produkt­orientierung« ausgerichtet5: am Ende steht die Maximierung des Gewinns in einem komplexen Verhältnis, der Forschung, technische Realisierung, Produktion und Marketing einschließt. Von dieser Orientierung ist nicht nur die Kirchenleitung ad extra betroffen: Es geht um die Vermarktung der Produkte »Predigt«, »Unterricht«, »Kirchenmusik«, »Gottesdienstgestaltung« überhaupt, auch »Seelsorge«. Betroffen ist ferner die Kirchenleitung ad intra: Die Wirtschaft schafft Verhältnisse, auf die die Kirchen sich einstellen müssen; doch mit dem importierten Modell des Managements ist auch das Selbstverständnis und -verhältnis der Pfarrerinnen und Pfarrer betroffen: Es findet sich inmitten von Wandlungsprozessen, deren Ende nicht absehbar ist. Es entstehen Anforderungen, die sich weniger theologisch, als vielmehr ökonomisch legitimieren lassen. Nicht selten hat sich ein ungebremstes Anspruchsdenken in den Gremien ausgebildet, die mit der Pfarrerin oder dem Pfarrer gemeinsam die Gemeinde leiten. Nicht selten verstehen sich die Kirchengemeinderäte als Aufsichts- und Kontrollgremien ihrer Pastoren – frei nach dem Motto: Wir haben unser Profil von den Erwartungen an Deine Arbeit. Nun mach mal, und mach es vor allem so, wie wir uns das vorstellen. Angesichts dieser Realitäten hat ein Gedicht von Robert Gernhardt nichts an Aktualität verloren:
»Ich über mich: … Ich sprach nachts: Es werde Licht! Aber heller wurd’ es nicht. / Ich sprach: Wasser werde Wein! Doch das Wasser ließ dies sein. / Ich sprach: Lahmer, du kannst gehn! Doch er blieb auf Krücken stehn. / Da ward auch dem Dümmsten klar, / dass ich nicht der Heiland war.«6


2. Die Allgegenwart des Marktes

Die skizzierten Wandlungsprozesse in den Plausibilitäten und auch im Selbstbild der kirchlichen Funktionäre hängen an der Orientierungsfunktion des ökonomischen Paradigmas, das heute alle Lebensbereiche bestimmt. Deshalb konnte das Management zum Hoffnungsträger und Heilmittel für alle möglichen Konflikte werden, die in der hochkomplexen, bürokratisch verwalteten Gesellschaft auftreten – als ob man der alten wie der neuen Problemen am ehesten dann Herr werden könne, wenn man sich an der Leitungsaufgabe derer orientiert, die die Wirtschaftsbetriebe steuern. Längst ist nicht mehr nur vom Betriebs-, sondern auch vom Konflikt- oder Zeit-, Qualitäts- und Kontingenz-, bis hin zum Selbst- oder »Zornmanagement« die Rede – so etwa bei Peter Sloterdijk.7
Management erscheint heute »als übergreifendes Dispositiv zeitgenössischer Menschenführung«, schreibt der Soziologe Ulrich Bröckling.8 Und der Markt kann als ein Geflecht von komplexen Beziehungen nach dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage definiert werden, in dem »Lücken« und »Nischen« auftreten, auf deren Kontingenz zu antworten Aufgabe des Unternehmertums und – in anderer Hinsicht – des Managements ist.9 Es scheint heute so, als könne alles »gemanaged« werden, auch die Konflikte, die in einer Kirchengemeinde auftreten, auch die Andersheit des anderen, die im Umgang der Menschen untereinander oft so schmerzhaft erfahren werden kann. Denn der Markt, d.i. die erste und letzte Wirklichkeit des ökonomischen Denkens – ein Ersatz für die traditionelle Metaphysik, die ihrerseits vom Ersten und Letzten handelte? – verarbeitet unentwegt »Alteritäten«, dasjenige also, was anders ist. Entweder privilegiert er sie als »Alleinstellungsmerkmale«, oder er schließt sie »als unverwertbar aus dem gesellschaftlichen Verkehr aus«.10
Nicht nur hinsichtlich dieser Dynamik, sondern einer umfassenden Plausibilität zufolge scheint der Markt heute die letzte Instanz zu sein: der Markt als das Überindividuelle, Transzendierende und Transzendente, ähnlich dem »Heiligen«, von dem Emile Durkheim gesprochen hatte.11 Als das Transzen­dierende stellt er sich im Sinne des Expandierenden dar – nur Wachstumsmärkte sind wirtschaftlich interessant. Und als das Transzendente erscheint er im Sinne des Unüberschaubaren ebenso wie im Sinne des Herrschenden.12 Es ist möglich, das gesamte Arbeitsfeld, das sich mit dem Dienstauftrag einer Pfarrerin oder eines Pfarrers auftut, nach Marktgesichtspunkten zu betrachten. All die Gelegenheiten zur Geselligkeit und zur Bildung, der Rat in Fragen der Vergewisserung des je eigenen Lebenssinns, die Begleitung über die Lebensschwellen u.v.a.m. können als Produkte betrachtet werden. Denn in einer religionssoziologischen Perspektive scheinen die »Kirchen … – jedenfalls […in den westlichen Gesellschaften] – Lieferanten von Lebenssinn« zu sein.13 Das Kapital, das durch diese Arbeit an den Produkten eingesetzt wird, um zu wachsen, besteht aber aus recht unterschiedlichen Kompetenzen, sei es der haupt-, sei es der ehrenamtlichen Mitarbeiter; man spricht denn auch, und ich scheue mich, den Ausdruck zu verwenden, von »Humankapital«. Ich kann das hier nur andeuten.
Welche Konsequenzen zeitigt diese ökonomische Betrachtungsweise im Selbstbild derer, die den Beruf »Pfarrer« ausüben? Um diese Frage im Spiegel allgemeiner Plausibilitäten auszuarbeiten, beschreite ich einen zweiten Umweg (nach dem ersten über das Modell des Managements). Bröckling hat in einer jüngeren Arbeit von 2007 das heute gängige Leitbild des »unternehmerischen Selbst« erforscht. Ich gebe eine kurze Skizze.


3. Das »unternehmerische Selbst«

Das Leitbild des unternehmerischen Selbst besteht vor allem in dem Anspruch, »jeder solle sich bis in die letzten Winkel seiner Seele zum Unternehmer in eigener Sache mausern.«14 Nachweisbar ist dieses Leitbild aus vielen Quellen – Bröckling analysiert Experten-Papiere, die die politischen Administrationen zur Grundlage ihrer Entscheidungen gemacht haben (Beispiel: Bayern 1997), unterschiedliche Theorien aus den Bereichen der Nationalökonomie, Psychologie und Soziologie, aber auch eine Fülle von populären Ratgebern, »deren gemeinsamer Nenner darin besteht, dass sie die Ratio unternehmerischen Handelns ausbuchstabieren.« Auch stellen diese Ratgeber »Verfahren bereit …, mit denen die Menschen ihr Verhalten dem Leitbild annähern können.«15 Die Rede vom unternehmerischen Selbst steht in einem »Kraftfeld«, das Bröckling vermisst. In diesem Kraftfeld wird nicht nur die alte Frage beantwortet »was soll ich tun?«, sondern es werden auch detaillierte Anweisungen gegeben, »wie ich das, was ich tun soll, auch tun kann.« In dem, was die meisten für plausibel halten, ist eine »Strömung« entstanden, »welche die Menschen in eine Richtung zieht«, ein Sog. Diesen untersucht Bröckling; eine andere Frage ist, wie weit die Menschen sich von dieser Strömung treiben lassen, wie sie sie nutzen oder wie sie »versuchen, ihr auszuweichen oder gegen sie anzuschwimmen.«16
Bei dieser Strömung handelt es sich um eine »Dynamik der Ökonomisierung« nicht nur der Lebenswelten, der Arbeit und der Freizeit, sondern auch des Selbstverhältnisses der Menschen – das Soziale und das Individuelle scheint heute durch und durch im Paradigma des Wirtschaftlichen gedeutet werden zu müssen. »Die gegenwärtige Ökonomisierung des Sozialen [lässt] den Einzelnen [aber] keine Wahl …, als fortwährend zu wählen, zwischen Alternativen freilich, die sie sich nicht ausgesucht haben: Sie sind dazu gezwungen, frei zu sein.«17 In dieser Lage ist das Leitbild des unternehmerischen Selbst entstanden: es spürt die Lücken im Marktgeschehen auf, in die hinein es investieren kann. Und diese Lücken können überall entstehen, wenn und insofern die ganze Wirklichkeit durch das Marktgeschehen bestimmt ist. Sie können entstehen nicht nur auf den beruflichen und privaten Feldern des Handelns, sondern auch im eigenen Selbstbild, in den noch zu radikalisierenden Motivationen und dem noch zu optimierenden Kräfteeinsatz: Es könnte alles noch schneller, intensiver und effektiver geschehen, als ob es »Schläfer«, unterbewertete Aktien also, im innerlichen Börsenspiel gäbe, die es zu aktivieren gälte. Das Leitbild des unternehmerischen Selbst ist ein »Subjektivierungsregime« mit einer ihr eigenen »symbolischen Ordnung«.18 Bröckling fasst am Ende seiner Untersuchung zusammen:
»Die Anrufungen des unternehmerischen Selbst sind totalitär. Ökonomischer Imperativ und ökonomischer Imperialismus fallen darin zusammen. Nichts soll dem Gebot der permanenten Selbstverbesserung im Zeichen des Marktes entgehen. Keine Lebensäußerung, deren Nutzen nicht maximiert, keine Entscheidung, die nicht optimiert, kein Begehren, das nicht kommodifiziert werden könnte. Selbst der Einspruch, die Verweigerung, die Regelverletzung lassen sich in Programme gießen, die Wettbewerbsvorteile versprechen; und jeder Misserfolg belegt nur, dass man sich cleverer hätte anstellen können.«19
All dies gilt freilich nur im Licht des Menschenbildes des homo oeconomicus, der sich selbst nach seinem Marktwert beurteilt und sein Handeln an den Gesetzen des Marktes ausrichtet, der sich an seinen Konkurrenten misst und erst im Wettkampf bei sich selbst ist, der seinen eigenen Vorteil nie aus dem Blick verliert und sich mit Nachteilen nicht wird zufrieden geben können. Denn er ist seines eigenen Glückes Schmied. Die Frage nach den Grenzen dieses »anthropologischen Konstrukts« deutet sich hier an: auf ihm bauen »die Wirtschaftswissenschaften [aber] ihre Modellierungen des menschlichen Verhaltens auf«.20 Die Lücke zwischen dem Anspruch, der aufs Ganze geht, und der Verwirklichung, die immer nur partiell bleibt, erzeugt den Sog, sich selbst immer wieder neu im Licht des Unternehmertums seiner selbst zu betrachten. Diese Lücke schafft aber auch den Raum, »um auf Distanz zu dieser Anrufung zu gehen, sie umzudeuten, ins Leere laufen zu lassen, zu verschieben oder zurückzuweisen.«21
Das Leitbild des unternehmerischen Selbst fordert, sich selbst ständig zu einem anderen zu machen – d.i. die ökonomisierte Form der literarischen, dass das »ich« ein »anderer« werden könne – , und auf diese Weise wird auch die Andersheit unter der Herrschaft des Marktes »verarbeitet«. Es reicht also nicht hin, sich dem Geschehen ganz zu verweigern; dazu ist die Wirklichkeit des Marktes zu umfassend und der Sog seines Leitbildes zu stark. Es braucht die doppelte Negation, die Negation der Negation, oder: eine Lebenskunst deutet sich am Ende an, »anders anders zu sein«.22 An dieser Stelle werden die Analysen Bröcklings kompatibel mit theologischen Aussagen über das Wesen des Menschen als Geschöpf Gottes und über die Versöhnung des gerechtfertigten Sünders. Insgesamt erschließen diese Analysen aber eine Deutung der Wirklichkeit, in der wir – auch im Pfarramt – heute leben.
Auch hier findet sich die dunkle Schattenseite des skizzierten Leitbildes. Denn in der Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit entstehen »Turbulenzen und Widerstandskräfte«, die das Kraftfeld »irritieren«.23 Der erste Schatten, den dieses Leitbild wirft, ist die Depression:
»Gebremst wird die Kraft der unternehmerischen Anrufung zunächst durch die von ihm ausgehende konstitutive Überforderung: Das unternehmerische Selbst ist ein ‚erschöpftes Selbst‘ … Wo Aktivität gefordert ist, ist [das nun unzulängliche Individuum] antriebslos; wo Kreativität verlangt wird, fällt ihm nichts mehr ein; den Flexibilisierungszwängen begegnet es mit mentaler wie emotionaler Erstarrung; statt Projekte zu schmieden und sich zu vernetzen, zieht es sich zurück; die Strategien der Bemächtigung prallen an seinen Ohnmachtsgefühlen ab; sein Selbstbewusstsein besteht vor allem aus Selbstzweifeln; an Entscheidungskraft fehlt es ihm ebenso wie an Mut zum Risiko; statt notorisch gute Laune zu verbreiten, ist es unendlich traurig.«24
Anders als auf dieser »dunklen Seite« lassen sich die Zumutungen dieses Leitbildes aber auch durch Ironie kompensieren. Sie »erzeugt Wirbel. Der Ironiker kennt die Gesetze des Marktes und ihre paradoxen Anforderungen an die Individuen. Er weiß, was ihm zugemutet wird, und er spricht es auch aus. Er treibt die Dinge auf die Spitze, legt ihre Absurditäten frei – und zieht so ins Lächerliche, was er nicht ändern kann.«25 Die Ironie distanziert sich in der Immanenz des Marktes von dieser alles bestimmenden Wirklichkeit, steht aber in der Gefahr, sie auf diese Weise zu bestätigen.
Die dritte Möglichkeit besteht in »passiver Resistenz«26 oder im »fröhlichen Müssiggänger«27; Bröckling entfaltet sie anhand einer Gruppe, die sich Ende der 90er Jahre »Die Glücklichen Arbeitslosen« nannte. Doch auch diese Möglichkeit ist inzwischen »marktgängig« geworden. Inzwischen »boomen Ratgeber, die nicht mehr Erfolg und Reichtum verheißen, sondern Die Entdeckung der Faulheit predigen, Von den Vorzügen, ohne feste Anstellung zu sein handeln oder gar Die Kunst des stilvollen Verarmens lehren.«28 Lässt die Allgegenwärtigkeit des Marktes also keinen Ausweg? Bröckling endet mit einem »Vielleicht«. »Die Kunst, anders anders zu sein«, so meint er, könnte auch darin bestehen, »rechtzeitig aufzuhören – und anderswo von Neuem zu beginnen.«29
In meiner Skizze der Analysen Bröcklings hatte ich zu zeigen versucht, welche ökonomischen Leitparadigmen gegenwärtig dasjenige prägen, was beinahe allgemein und unmittelbar einleuchtet: Die zeitgenössische Managment-Literatur30 überträgt das Marktmodell konsequent auf alle sozialen Beziehungen, und das Leitbild des unternehmerischen Selbst prägt nicht nur das Verhältnis zu den anderen, zur Welt, sondern auch zu sich selbst. In beiden Hinsichten ist die »Omnipräsenz des Marktes« die Voraussetzung. Sie gestattet nur eine Alternative, entweder »sich rückhaltlos dem Wettbewerb zu stellen – oder als Ladenhüter zu verstauben«.31 Derartige Orientierungen werden weder der Gestaltung der kirchlichen Verhältnisse überhaupt noch einer Beschreibung des beruflichen Profils »Pfarrer« angemessen sein. Die prägnante Präzisierung der Aufgabe von Predigt und Gottesdienstgestaltung, Unterricht und Seelsorge lässt diesen Beruf Sand im Getriebe einer Welt sein, deren »Schema« (1. Kor. 7,31) der Markt und nichts als der Markt ist.
Dennoch muss die Kirche unter den Bedingungen des Marktes geleitet werden, und insofern die Pfarrerinnen und Pfarrer an der Gemeindeleitung teilhaben, arbeiten sie – jedenfalls auch – unter Marktbedingungen. Doch wie ist es möglich, hierbei nicht den Ideologien des Marktes zu folgen?


4. Vom Manager zurück zum Geistlichen

Bei aller Problematik, die sich durch die Bestimmung der Gemeindeleitung als Management in die kybernetische Aufgabe eingeschlichen hat, bleibt die Leitungsfunktion im Pfarramt notwendig. Zudem sind Pfarrerinnen und Pfarrer in gewisser Weise auch Manager, sofern sie Leitungsaufgaben zu erfüllen haben und die Leitung einer Gemeinde unter Marktbedingungen stattfindet. Die Gemeindeleitung muss auf die Lücken und Nischen aufmerksam sein, die sich in der eigenen Parochie auftun: wenn etwa junge Familien mit Kindern sich hier ansiedeln, empfiehlt sich das Bemühen, für diese Klientel etwas anzubieten; wenn ein Seniorenheim in der Nähe der Kirche gebaut wird, ist die Wegbereitung für geistliche Begleitung der alten und pflegebedürftigen Menschen ratsam; wenn eine Musikschule in der Stadt guten Zulauf findet, ist das Bemühen um Kooperation auch in der Gestaltung der Gottesdienste sinnvoll etc. Es kommt darauf an, sich als Kirchengemeinde in die Netze der Lebenswelt zu verknüpfen. Marktförmig ist ein solches Verhalten nur in dem Sinne, dass die Realitäten und Bedürftigkeiten der Gegenwart wahrgenommen werden, um auf eine angemessene – und d.h. dem Evangelium gemäße – Weise darauf einzugehen, so weit die Kräfte reichen. Keineswegs aber kann es darum gehen, den Markt als letzte Instanz anzusehen und sich dessen Zwängen zu unterwerfen. Die Freiheit der Christenmenschen wird sich auch den neuen Zwängen des Marktes gegenüber zu bewähren haben, im Angesicht der Anforderungen an ein »unternehmerisches Selbst« und ein durchgängiges Lebens-Management. Eine einfache Aufgabe ist das nicht – ebenso wenig, wie es einfach war, sich in Zeiten der Herrschaft politischer Paradigmen als Christengemeinde in der Bürgergemeinde zu bewahren.
Dass Pfarrer Manager sind und die Gemeindeleitung unter Marktbedingungen stattfindet, ist aber nur die eine Seite, die in den letzten Jahren betont worden ist, auch von Seiten der Kirchenleitung, die so viel Wert auf »wirtschaftliches Handeln« und Personalentwicklungsgespräche mit den Mitarbeitenden legt. Zu erklären ist das jedenfalls auch durch die Notwendigkeit, in der Gesellschaft einen »geordneten Rückzug« zu organisieren, von dem schon Ernst Troeltsch gesprochen hatte. Die Kirche unter Bedingungen zurückgehender Mitgliederzahlen und d.h. unter der Gefährdung ihrer materiellen Grundlagen zu erhalten, erfordert eine gute Planung, Unterscheidung von Haupt- und Nebensachen, auf konsensfähige Lösungen ausgerichtete Wahrnehmungs-, Beratungs- und schließlich Entscheidungsprozesse, kurz: ein gutes Management.32 Davon sind vor allem die geschäftsführenden Pfarrämter und die Dekanate betroffen. Eine Antwort auf die Realität des Marktes ist hier erforderlich, doch sie kann nicht nur nach Maßgabe ökonomischer Gesichtspunkte gefunden werden.
Die andere Seite ist, dass all diese endlichen Verhältnisse in die Dimension des Unendlichen gestellt werden müssen, damit eine befreiende und lösende Erfahrung mit der Erfahrung des Marktes stattfinden kann. Dazu bedarf es der Kompetenz nicht nur zum organisierenden, sondern auch zum symbolisierenden Handeln, und d.h. zur Interpretation sowohl der Texte der Tradition als auch der gegenwärtigen Situation in gesellschaftlicher und ideologischer Hinsicht. Das symbolisierende Handeln der Kirche muss es auch mit der »symbolischen Ordnung jenes Kraftfeldes« aufnehmen, in dem Bröckling zufolge »die Maxime ›handle unternehmerisch!‹ zur übergreifenden Richtschnur der Selbst- und Fremdführung« erhoben worden ist.33
Wie lässt sich aber diese andere Perspektive auf das, was die Welt im Innersten zusammenhält, sinnvoll formulieren, anders als dass dies das Geld, der Markt mit seinen Mechanismen oder das Nutzenkalkül sei (dem vieles von dem, was zum Alltagsgeschäft im Pfarramt gehört, zum Opfer fallen müsste)? Insgesamt ist die Leitungskompetenz durch theologische Reflexion zu legitimieren: Auch das ist ein von Schleiermacher nach wie vor zu lernender Aspekt. Die mit der symbolisierenden Kompetenz verschwisterte theologische Reflexion macht ihn zum Geistlichen, und diese Charakteristik genießt bei Schleiermacher Priorität. Sachlich muss sich die theologische Reflexion auf die Spannung zwischen der wirklichen Gestalt der Kirche vor Ort und der Idee ihrer Gemeinsamkeit beziehen. Das geschieht der Schleiermacherschen Prinzipienlehre folgend so, dass das Wissen um die Idee der wahren Kirche, wie es in Symbolen kondensiert ist, sich darauf auswirken muss, wie diese Idee unter den konkreten realen Bedingungen verwirklicht werden kann.
Wir brauchen, wie gesagt, eine Erfahrung mit der Erfahrung. Wie vermag diese alte Formel zu erläutern, was die geistliche Dimension im Pfarrberuf ist? Religiöse Erfahrung überhaupt kann als »Erfahrung mit der profanen Erfahrung« bestimmt werden, weil sie »nicht isoliert und abstrakt auf sich selbst bezogen [auftritt, sondern] vielmehr im Kontext der allgemeinen Selbst- und Welterfahrung«.34 Nicht »ganz anders« ist also die religiöse Erfahrung, sondern sie bezieht sich auf die Erfahrung überhaupt. Und wenn eine ihrer wesentlichen Bestimmungen ist, im ökonomischen Schema dieser Welt gemacht zu werden, dann muss sich die Erfahrung mit der Erfahrung auch im Medium der Ökonomie, jedoch durch Transformation ihrer Begriffe beschreiben lassen. Wenn ich recht sehe, leisten die Gleichnisse Jesu eben dies: Sie finden ihren Stoff inmitten der Welt, wie sie ist, in den Arbeitsverhältnissen und in den Methoden des Vermögensaufbaus (»Arbeiter im Weinberg« und »Anvertraute Pfunde«), doch sie verfremden das hier Gewohnte derart, dass am Ende deutlich wird, wie sich in der Perspektive des Glaubens die Weise verändert, Erfahrungen zu machen. Eine andere Möglichkeit, die Erfahrung mit der Erfahrung zu profilieren, erschließt sich vom Abendmahl aus. Denn es sprengt den gängigen Opfer-Gedanken insofern, als das Tauschverhältnis transzendiert wird, in dem der Opfergedanke seinen Sitz im Leben hatte.35 Wie gezeigt fordert der Anspruch des unternehmerischen Selbst nämlich Opfer um Opfer.
Einen dritten Zugang zur religiösen Erfahrung möchte ich anhand des Begriffs der Gabe kurz andeuten; er erläutert das Verständnis des Abendmahls. Die Gabe, um die es mir geht, fügt sich nicht dem »durch die Realität ökonomischen Tausches von Waren bestimmten Preis«.36 Denn sie wird nicht in den endlichen Tauschverhältnissen erfahren, sondern in der Dimension des Unendlichen, in der zwischen dem Ich und dem Anderen die Möglichkeit des Gebens entsteht. Hervorgerufen wird sie einerseits durch den ethischen Ruf zur Verantwortung, der im Angesicht des anderen ergehen kann; zu beschreiben ist die Möglichkeit der Gabe als ein Ereignis innerhalb der (soziologisch beschreibbaren) gesellschaftlichen Rollenspiele und des (von Hegel beschriebenen) »Kampfes um Anerkennung«. Diese Beschreibungen, gewonnen auf den von der Phänomenologie gebahnten Wegen, fordern auch die Theologie heraus, wenn sie etwa vom »Handeln Gottes« spricht oder wenn sie auf die paulinische »Beschreibung des Evangeliums als der Gabe [zurückgeht], die weder Gegen-Gabe noch Schuld mehr kennt«.37 Hervorgerufen wird die Möglichkeit der Gabe andererseits durch das christliche Symbol, wie es etwa im Abendmahl zu verwalten ist. In der Feier des Abendmahls gewinnt die Kirche ihre sichtbare Gestalt. Unsichtbar bleibt sie aber hinsichtlich des Paradigmenwechsels, den der einzelne mit Blick auf sich selbst und die anderen vollziehen kann, wenn er denn – schmeckend und sehend, wie freundlich der Herr ist – sich als Person angenommen und versöhnt weiß, gleich welchen Marktwert er sich selbst meint zuschreiben zu müssen. Insofern dieser Paradigmenwechsel nicht nur einsam vollzogen wird, wenngleich immer individuell und für sich selbst, kann im Licht des christlichen Symbols die »Gemeinschaft der Heiligen« erfahren werden.
Die kirchlichen Funktionäre, Pfarrerinnen und Pfarrer, nehmen am Abendmahl teil wie andere Mitglieder der Gemeinde, aber sie sind zugleich für die Deutung des Symbols verantwortlich. Für sie besteht die berufliche Herausforderung vor allem darin, die biblische Botschaft und die theologische Reflexion mit der Erfahrung des Lebens so zu verknüpfen, dass eine Öffnung in den schicksalhaft erscheinenden Zwängen sichtbar wird und Freiheit ergriffen werden kann. Es kommt darauf an, diese andere Perspektive in das Leben vor Ort einzubringen, die sich der – auf unterschiedliche Weise zu bestimmenden – »religiösen Erfahrung« (als Erfahrung mit der Erfahrung) erschließt. Pfarrer und Pfarrerinnen sind zur Eröffnung dieser anderen Perspektive berufen, und sie können diesem Ruf insofern folgen, als sie selbst ihr Leben in diese andere Perspektive gestellt haben. Man könnte deshalb sagen: Sie haben Religion zum Beruf. Dieser an Max Weber anschließenden Bestimmung gegenüber, auf die Ernst Lange mit der Formel »Predigen als Beruf« angespielt hat, möchte ich einer anderen Bezeichnung den Vorrang geben, und den Pfarrberuf mit dem alten Terminus des »geistlichen Amtes« bezeichnen.
Die oben skizzierte Vermittlungsaufgabe zwischen der wirklichen Gestalt der Kirche vor Ort und der Idee ihrer Gemeinsamkeit ist zwar nur von der individuellen Person der Pfarrerin und des Pfarrers zu leisten; dass sie gelingt, konnte unter moderngesellschaftlichen Bedingungen immer weniger durch die Institution gewährleistet werden. Seither trägt die Person in stärkerem Maße das Amt als dass das Amt die Person trüge.38 D.h. auch: Die Spannungen, die dadurch entstehen, dass jede und jeder seine Erwartungen an die Amtsinhaber unkontrolliert geltend machen darf, ohne dass eine institutionalisierte In-stanz die Notbremse zöge, weil diese Instanzen sich schwer tun, zwischen berechtigten und unberechtigten Ansprüchen zu entscheiden, müssen von den Personen selbst verarbeitet werden, die dieses Amt inne haben. Die Ordnung der Gottesdienste und die das Amt begründenden Bekenntnisschriften gewährleisten aber nach wie vor einen Vorrang des Symbolischen. Dennoch lässt sich kaum bestreiten, dass es in der Neuzeit eine Schwerpunktverlagerung vom Amt zur Person gegeben hat. Das Verhältnis wird in einer Wechselseitigkeit zu denken sein, in dem dem Amt seine begründende und regulierende Funktion bis heute zukommen kann.


5. Von der Lebenskunst, anders anders zu sein

Unbestreitbar lastet die Vermittlungsaufgabe aber auf den Trägern des Amtes. »Der Pfarrer ist anders« heißt eines der Bücher von Manfred Josuttis, vielleicht sein bestes.39 Auf eine glückliche Weise kommt dieser Titel, wenngleich kaum der Inhalt dieses Buches, mit der Formel Bröcklings überein, es komme darauf an, »anders anders« zu sein. Wie lässt sich diese Formel theologisch aufnehmen? Und was kann diese theologische Deutung für die Arbeit im Pfarramt unter Marktbedingungen austragen?
»Rechtzeitig aufzuhören – und anderswo von Neuem zu beginnen«40: Dieses Fazit Bröcklings klingt wie ein Rat zum Stellenwechsel im Pfarramt. Und in der Tat wird in der richtigen Wahl des Zeitpunkts ein Teil der pastoralen Kunst bestehen, »anders anders zu sein«. Im Fall eines Stellenwechsels tritt ein sonst oft abgeschatteter Aspekt der Existenz von Pfarrerinnen und Pfarrern ins helle, manchmal auch grelle Licht: Auch wir haben einen mehr oder weniger hohen »Marktwert«, der allerdings von den Wahlgremien auch sehr unterschiedlich bestimmt wird. Alles ist hier im Fluss, weniges ist im Vorfeld schon genau absehbar – es herrschen durchaus Marktbedingungen. Wie aber verhält sich dieser Marktwert auf dem Feld der Wünsche und Erwartungen der Gemeinden der Gegenwart zum Wert der Person, die davon unabhängig bestimmt werden muss? Schon das ist eine Frage, die sich theologischer Reflexion verdankt. Und wie verhält sich der Blick auf den Marktwert eben zur – nur allzu berechtigten – Forderung, dass Pfarrerinnen und Pfarrer Theologinnen und Theologen sein und bleiben sollen (was unter den gegenwärtigen Plausibilitätsbedingungen in nicht wenigen Gemeinden den Marktwert nicht ohne weiteres steigert)?
Es ist das Selbstverständnis des Pfarrers als eines Geistlichen, welches es mit den Tendenzen der maßlosen Überforderung aufnehmen muss, die sich im heutigen Leitparadigma des Managements und des unternehmerischen Selbst abzeichnen. Möglich ist das in der Spannung, in die dieses Amt immer schon gestellt hat, »in dieser Welt« zu leben, aber nicht ganz und gar »von dieser Welt«. Josuttis hat diese Spannung in seiner Pastoraltheologie anhand des Verhältnisses zur Zeit, zum Geld, zur Sexualität, zur Macht gezeigt, um hier nur die unter dem Gesichtspunkt der Ökonomie besonders einschlägigen Bereiche zu nennen. Jeweils kommt es darauf an, in der Welt zu leben, aber nicht von der Welt zu sein. Und möglich ist das Paulus zufolge unter dem Vorzeichen des »ως μη« – es käme also darauf an, in der Welt des Marktes zu leben, als lebten wir nicht in ihr. Wir werden Paulus nicht so verstehen dürfen, als ginge es darum, aus dem Schema dieser Welt zu springen, das ein ökonomisches ist. Doch es gibt ökonomisch erhobene Ansprüche, die der Menschlichkeit des Menschen (als Geschöpf Gottes) keineswegs angemessen sind: Hierzu ist das zu rechnen, was Bröckling die »totale Mobilmachung« der im Menschen sich findenden Kräfte genannt hat, hierzu sind alle Bemühungen um eine »gesteigerte Menschhaftigkeit« zu rechnen (um einen Terminus Benjamins zu gebrauchen, mit dem er Nietzsche interpretierte).41
Das unternehmerische Selbst lässt sich sein Ideal von der symbolischen Ordnung der herrschenden Ökonomie vorgeben. Einzig den Optimierungsanspruch muss es schon mitbringen als Teil seines Selbstbildes, das von dieser symbolischen Ordnung allerdings gestützt und gestärkt wird. In diese Zusammenhänge ist das Selbstbild der Pfarrerinnen und Pfarrer meist verstrickt, will man es doch recht machen und so gut wie möglich. Zuweilen mag sich auch der Anspruch zeigen, zur Rettung der Kirche in ihrer Gefährdung durch demographisch und steuertechnisch bedingte Erosionen beitragen zu wollen. In solchen Verstrickungen des Selbst kommt es aber darauf an, diese Idealisierungen – biographisch durch Sozialisation erworben und durch die Berufspraxis verfestigt – zu korrigieren an den höchsten Gütern, für die die Theologie einsteht. Eine solche Korrektur ist sprachlich in einem Gedicht von P. Goes zusammengefasst:
»Allmählich / finde ich mich / wieder / aus der Kruste / überlagerter Ansprüche / anderer die / immer so genau / wissen / wer ich für sie / sein soll / erhebe mich / aus der Ängstlichkeit / es allen recht zu machen / lerne die Gebärde / des aufrechten Gangs / dass Nein sagen / manchmal / der einzige Weg ist / um Ja / zu mir / zu sagen.«42
Wir machen uns eben nicht nur zu dem, was wir sein können, sondern wir sind zu den Menschen geworden, die wir sind ohne unser Verdienst (sola gratia), im Vertrauen auf den Grund unseres Daseins, den wir nicht haben legen können (sola fide). Die Frage ist allerdings, wie die Auslegung der Schrift hierbei helfen kann (sola scriptura), wenn sie mit der Auslegung der Situation in Korrelation zu bringen ist. Solus Christus ist hier das Leitbild, insofern diese Mitte der Schrift sich außerhalb der Schrift zu bewähren hat – in der Erfahrung und der Wegbereitung der Liebe, mit der Gott die Welt geliebt hat. Anders anders zu sein heißt in diesem Zusammenhang, nicht aus ökonomischen, sondern aus theologischen Gründen anders zu sein. Auf die Wirkungen dieser theologischen Gründe für das Leben, auf ihre Funktion kommt es im Pfarramt an (während die theologische Reflexion sich auch der Substanz dieser Gründe zu vergewissern sucht), auf die Gestaltung eines individuellen Lebens, das sich in die spezifische Pflicht nehmen lässt, Pfarrer zu sein. Insofern das Leben in seinen vielfältigen Aspekten und Beziehungen von diesem Gestaltungsanspruch betroffen ist, handelt es sich um eine Lebenskunst. In ihrer Praxis ist es möglich, im Pfarramt als eine freie und individuelle Person unbeschadet aller Zumutungen an die stete Optimierung der eigenen Fähigkeiten zu bestehen.


Anmerkungen:

1    Vortrag vom 20.11.2008 bei der Kirchlich-theologischen Arbeitsgemeinschaft im Dekanat Esslingen.
2    Vgl. I. Karle, Der Pfarrberuf als Profession. Eine Berufstheorie im Kontext der modernen Gesellschaft, Gütersloh [PThK 3], Gütersloh 2001.
3    I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [PhB 45], Hamburg 1978, 187.
4    E. Chr. Achelis, Lehrbuch der Praktischen Theologie Bd. II, Leipzig ²1898, 521.
5    F. Schweitzer, Führen und Leiten im Pfarramt aus praktisch-theologischer Perspektive, in: Herms/Schweitzer (Hg.), Führen und Leiten im Pfarramt. Der Beitrag von Theologie und kirchlicher Lehre, Tübingen 2002, 59.
6    R. Gernhard, Gedichte Gedichte 1954–1997, Zürich 1999, 52f.
7    Vgl. DtPfrBl 10, 2007, 524. Es passt ins Bild, dass der Deutsche Hochschulverband Seminare zum »Zeit- und Selbstmanagement« anbietet, um den Vermittlungsanforderungen der Wissenschaftler (nicht nur) zwischen Forschung und Lehre, (sondern auch) zwischen diesen »Produkten« und ihrer Vermarktung Hilfen an die Hand zu geben. Und da Ärzte in eigener Praxis heute zu einem hohen Prozentsatz ihrer Arbeitszeit Betriebswirte sein müssen, verwundert es nicht, dass sich im Deutschen Ärzteblatt die Werbung für ein Buch mit dem Titel »Selbstmanagement für Praxisinhaber. Der Weg zu mehr Motivation, Arbeitszufriedenheit und Praxiserfolg« findet (DtÄBl 43, 26.10.2007).
8    U. Bröckling, Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement, in: Ders. u.a. (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M. 2000, 131–167, 132.
9    »Der Markt ist der Kontingenzraum par excellence – ein höchst fluides Gewirr von Lücken und Nischen, die sich ebenso schnell auftun, wie sie wieder verschwinden oder von der Konkurrenz geschlossen werden. Erfolg hat nur, wer sich ihr mimetisch angleicht oder sie gar zu überbieten sucht, mit anderen Worten: wer beweglich genug ist, seine Chance zu erkennen und zu ergreifen, bevor ein anderer es tut.« (Bröckling, Totale Mobilmachung, 133).
10    U. Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M. 2007, 286.
11    Vgl. zu Durkheim: A. Belliger/D.J. Krieger (Hg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 1998, 15.
12    Diese beschreibende Perspektive, die Anleihen bei der Religionssoziologie macht, kann ohne Schwierigkeit mit der systematisch-theologischen verknüpft werden, die Falk Wagner (Geld oder Gott? Zur Geldbestimmtheit der kulturellen und religiösen Lebenswelt, Stuttgart 1984) erschlossen hat. Hier steht allerdings nicht der Markt als solcher, sondern das Medium im Zentrum der Aufmerksamkeit, auf das alle Marktverhältnisse bezogen und in dem sie geregelt werden – eben das Geld. Beide Perspektiven ergänzen einander: die auf den Markt und die auf das Geld; beide können in die Stellung einrücken, die frühere Zeiten einmal Gott allein vorbehalten hatten, die alles bestimmende Wirklichkeit zu sein.
13    V. Drehsen, Der Sozialwert der Religion. Aufsätze zur Religionssoziologie, hg. v. Chr. Albrecht, H.M. Dober, B. Weyel, Berlin/New York 2009, 369.
14    Bröckling, Das unternehmerische Selbst, 7.
15    AaO, 10.
16    AaO, 11.
17    AaO, 12.
18    AaO, 13.
19    AaO, 283.
20    AaO, 12.
21    AaO, 284.
22    AaO, 286.
23    AaO, 288.
24    AaO, 289.
25    AaO, 291.
26    AaO, 288.
27    AaO, 293.
28    AaO, 295.
29    AaO, 297.
30    Ich folge der Zusammenfassung von Bröckling.
31    Bröckling, Totale Mobilmachung, 133.
32    Dafür gibt der Text von PD Dr. Kundert ein Beispiel, der die Sanierungsmaßnahmen in Basel-Stadt von 1990 an beschrieben hat (vgl. Ders., in: DtPfrBl 9/2007).
33    Bröckling, Das unternehmerische Selbst, 13.
34    F. Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, 465.
35    Vgl. H.M. Dober, Die Zeit ins Gebet nehmen. Medien und Symbole im Gottesdienst als Ritual [APTLH 55], Göttingen 2009, 210–214 mit Bezug auf H.-M. Gutmann.
36    W. Sparn, Ontologische Metaphysik versus metaphysische Religion. Inwiefern erfordert die theologische Analyse von Religion metaphysisches Denken?, in: H. Deuser (Hg.), Metaphysik und Religion [Veröffentlichungen der WGTH Bd. 30], Gütersloh 2007, 9–59, 51.
37    Ebd. mit Bezug auf Röm 5,15; 11,35.
38    Vgl. V. Drehsen, Vom Amt zur Person. Eine Standortbestimmung des Pfarrberufs, in: DtPfrBl 12/1997, 615–621.
39    M. Josuttis, Der Pfarrer ist anders. Aspekte einer zeitgenössischen Pastoraltheologie, München 1982.
40    Bröckling, Das unternehmerische Selbst, 297.
41    W. Benjamin, Gesammelte Schriften VI, Frankfurt/M. 1972ff, 101 [Kapitalismus als Religion].
42    P. Goes, Weg zu sich selbst II, in: Ders., Viel Leben drängt ans Licht. Gedichte, Aachen 2006, 17.          ■

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Hans Martin Dober, Gemeindepfarrer der Evang. Landeskirche in Württemberg und

apl. Professor für Prakt. Theologie an der Evang.-theol. Fakultät in Tübingen; neuere Veröffent­lichungen: Evangelische Homiletik. Dargestellt an ihren drei Monumenten Luther, Schleiermacher und Barth mit einer Orientierung in praktischer Absicht, Münster 2007; Seelsorge bei Luther, Schleiermacher und nach Freud, Leipzig 2008; Die Zeit ins Gebet nehmen. Medien und Symbole im Gottesdienst als Ritual, Göttingen 2009.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 4/2009

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