Pazifistin und Widerstandskämpferin, Atheistin und Mystikerin, Intellektuelle und Industriearbeiterin – Simone Weil vereint einen Kosmos von existentiellen Erfahrungen und Positionen in ihrer Biografie. Erika Schweizer erinnert an diese eindrucksvolle Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts, die Anfang Februar 100 Jahre alt geworden wäre.


»Was in einem Menschenleben zählt«, so Simone Weil, »sind nicht die Ereignisse, die im Laufe der Jahre eintreten. Es ist die Art, wie sich eine Minute mit der folgenden verknüpft. Wie viel es den Körper und vor allem die Aufmerksamkeit kostet, Minute um Minute diese Verknüpfung zu vollbringen. Schriebe ich einen Roman, würde ich etwas ganz Neues machen.«
Einen solchen Roman von Simone Weil gibt es nicht. Es sei denn, man versuchte ihr eigenes Leben in diesem Sinn zu lesen. War doch Lesen für sie ein sich Vortasten von Bedeutung zu Bedeutung. Dabei hat jeder Bedeutungsbereich sein eigenes Recht. Dennoch gilt es, sie als ein Gewebe miteinander zu verknüpfen. Dazu bedarf es der Aufmerksamkeit.
Simone Weil wird am 3. Februar 1909 in Paris geboren. Die jüdische Herkunft der Familie spielt für die Lebenspraxis keine Rolle. Rückblickend auf ihre Jugendzeit schreibt Simone Weil: »Mit vierzehn Jahren verfiel ich einer jener grundlosen Verzweiflungen des Jugendalters, und ich wünschte ernstlich zu sterben, wegen der Mittelmäßigkeit meiner natürlichen Fähigkeiten. Nicht dies schmerzte mich, dass ich auf äußerliche Erfolge verzichten sollte, sondern dass ich niemals hoffen durfte, den Zugang zu jenem transzendenten Reich zu finden, in dem die Wahrheit wohnt. Ich wollte lieber sterben, als ohne sie zu leben. Nach Monaten innerer Verfinsterung empfing ich plötzlich und für immer die Gewissheit, dass jedes beliebige menschliche Wesen in dieses Reich der Wahrheit eindringt, sobald es nur die Wahrheit begehrt und seine Aufmerksamkeit in unaufhörlicher Bemühung auf ihre Erreichung gerichtet hält.«
Rigoros ist Simone Weils Bestreben, in den Bedingungen dieser Welt den Zusammenhang mit der Wahrheit zu erkennen. So beginnt sie 1925 in Paris Philosophie zu studieren. Sie versteht sich als Atheistin: »Seit meiner Jugend war ich der Ansicht, dass das Gottesproblem ein Problem ist, dessen Voraussetzungen uns hienieden fehlen, und dass die einzig sichere Methode, eine falsche Lösung zu vermeiden (was mir das größtmögliche Übel erschien) darin besteht es nicht zu stellen.« Zur Wahrheitssuche gehört intellektuelle Redlichkeit; also keine eigenen Imaginationen hinzufügen. Außerdem, fährt sie fort, »dachte ich, da wir nun einmal in dieser Welt sind, sei es unsere Aufgabe, die beste Haltung gegenüber den Problemen dieser Welt einzunehmen und diese Haltung hänge nicht von der Lösung des Gottesproblems ab.« Die beste Haltung gegenüber den Problemen dieser Welt ist der direkte, aufmerksame Kontakt mit der Wirklichkeit. »Die Wahrheit begehren, heißt einen unmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit begehren.«


»Sobald ich die schönen Brücken über den Arno sah, fragte ich mich, wie ich so lange hatte fortbleiben können.«

In welchen Wirklichkeitsbereichen bewegt sich Simone Weil? Mit Leib und Seele ist sie Philosophielehrerin. Für sie heißt das »einen tiefen Sinn für das Leben zu wecken und das Gefühl für die beunruhigenden Probleme der Gegenwart«. Selbständiges Reflektieren ist gefordert; ebenso die Fähigkeit, einen Gegenstand auf sich wirken zu lassen. »Die Aufmerksamkeit besteht darin, den Geist verfügbar zu halten. Vor allem soll der Geist leer sein, nichts suchend, aber bereit, den Gegenstand, der in ihn eingehen wird, in seiner nackten Wahrheit aufzunehmen.« Simone Weil wählt das Beispiel schriftstellerischer Arbeit, in der man in »eine Art des Wartens« gerät, »bis das richtige Wort von selbst aus der Feder fließt, während man nichts tut, als nur die unzulänglichen Worte abzuweisen.«
Ein weiterer Wirklichkeitsbereich ist das politische Engagement. Seit Studienzeiten gehört Simone Weil der revolutionären Gewerkschaftsbewegung an. Sie gibt unentgeltlich Weiterbildungskurse für Arbeiter, schreibt Artikel über deren soziale Benachteiligung, beteiligt sich an Protestmärschen und Streiks. Eigenständig kritisch setzt sie sich mit dem Marxismus auseinander, wird allerdings niemals Mitglied der KP. Trotzdem gilt sie – in Anspielung an Jeanne d’Arc – als »die rote Jungfrau«. Noch vor Hitlers Machtergreifung reist sie im Sommer 1932, auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit, nach Berlin. Simone Weil will einen authentischen Eindruck der Lage gewinnen. Mit seltener Klarheit analysiert sie in diversen Artikeln die Situation der sich zersplitternden linksorientierten Parteien und kündigt Hitlers Sieg an. Sie ist erschüttert über das Ausmaß der Krise und die Hoffnungslosigkeit der Arbeiter. Durch Flugblätter wirbt sie um spontane Hilfe für deutsche Flüchtlinge.
Ihr Bedürfnis sich zu solidarisieren realisiert sie auch im Einsatz als Land- und Fabrikarbeiterin. Sie will die Mühsal am eigenen Leib erfahren. 1934 beantragt sie unbezahlten Urlaub, um sich als Industriearbeiterin zu verdingen. Die Arbeit im Akkord geht über ihre Kräfte. Weniger diese persönlich zermürbende Erfahrung als das objektive Kennenlernen entwürdigender Arbeitsbedingungen ist ihr wichtig. Im Fabriktagebuch hält sie die Eindrücke fest. Rückblickend schreibt sie: »Während meiner Fabrikzeit als ich mit der anonymen Masse ununterscheidbar verschmolzen war, ist mir das Unglück der anderen in Fleisch und Seele eingedrungen.« Ihren späteren Ausführungen über die Bedeutung des Unglücks ist anzuspüren, wie tief sie diesen Schock aufgenommen und reflektiert hat.
Ein anderes Wirklichkeitserleben schöpft Simone Weil aus ihrer Italienreise 1937, die sie mit intensiver Leichtigkeit genießt. Aus Mailand schreibt sie: »Ich weiß alles, was man wissen muss: Wo man den besten Espresso mit Panna findet, auch wo man für 1 Lira Eis allererster Güte bekommt oder wo der Brodo und die Makkaroni köstlich schmecken.« Florenz besichtigt sie nicht, sondern lässt die Stadt »durch Osmose« in sich einsickern. »Was Florenz angeht, so ist es meine eigene Stadt. Unter seinen Ölbäumen muss ich ein früheres Leben verbracht haben. Sobald ich die schönen Brücken über den Arno sah, fragte ich mich, wie ich so lange hatte fortbleiben können. Und Florenz wunderte sich ohne Zweifel ebenfalls, weil Städte es lieben, geliebt zu werden.« Umbrien erlebt sie wie ein Gedicht: »Niemals habe ich mir im Traum eine solche Landschaft, einen so großartigen Menschenschlag und so anrührende Kapellen vorstellen können.« »In Assisi entschwanden Mailand, Florenz und alles übrige meiner Erinnerung, so sehr war ich geblendet von den überaus lieblichen und auf wunderbare Weise evangelischen und franziskanischen Landstrichen.« Der Sonnengesang des Franziskus ist für Simone Weil Ausdruck höchster Poesie: »Vom rein dichterischen Standpunkt aus, ohne anderes in Betracht zu ziehen, ist es unendlich begehrenswerter, den Sonnengesang des heiligen Franziskus, dieses Kleinod vollkommener Schönheit, geschaffen zu haben, als das gesamte Werk Victor Hugos.«


»Die Verwurzelung ist vielleicht das wichtigste und meistverkannte Bedürfnis der menschlichen Seele.«

Dichtung, Malerei, Musik und die Schönheit der Schöpfung sind Berührungen, die Simone Weil ebenso nahe gehen wie das Elend der Menschen. Freude und Schmerz sind ihr gleichermaßen wesentlich. Zutreffend schreibt der ihr seit Studienzeiten bis zum Lebensende befreundete Maurice Schumann: »Keiner hat die Botschaft Simone Weils begriffen, keiner den verborgenen Sinn ihres Opfers durchschaut, wenn er meint, sie habe sich im Denken und Handeln von einer Vorliebe für das Unglück leiten lassen. Von Natur aus war sie fröhlich. Aber eine Gewissheit leitete sie, es gebe eine nahe Verwandtschaft zwischen der Suche nach der Wahrheit und dem Unglück.«
Dieser Gewissheit folgt Simone Weil. Sehenden Auges und denkenden Herzens stellt sie sich der Niedertracht von Faschismus und Gewalt. Der spanische Bürgerkrieg 1936 zwingt sie, die engagierte Pazifistin, jetzt Stellung zu beziehen. Sie entscheidet sich auf Seiten der Republikaner zu kämpfen. Aufgrund eines Unfalls muss sie nach zwei Monaten Spanien verlassen. Dieses Missgeschick wertet sie im Nachhinein als »mein Glück«, und erläutert in einem Brief an Bernanos: »Ich fühlte innerlich keine Notwendigkeit mehr, bei einem Krieg dabei zu sein, der nicht mehr ein Krieg von ausgehungerten Bauern gegen die Grundbesitzer und die mit ihnen verbündete Geistlichkeit war, sondern ein Krieg zwischen Russland, Deutschland und Italien.«
Gibt es im verheerenden Kräftemessen der Gewalt überhaupt eine Position gerechten Handelns? »Allein das Gleichgewicht löscht die Gewalt aus. Man muss das Gleichgewicht begriffen haben, und immer bereit sein, die Seite zu wechseln, wie die Gerechtigkeit, ›diese Flüchlingin aus dem Lager des Siegers‹.« In dieser Einsicht gründet Simone Weils produktives Schaffen der letzten Jahre im Exil.
Einen Tag bevor am 14. Juni 1940 deutsche Soldaten Paris einnehmen, verlässt Simone Weil mit ihren Eltern die geliebte Stadt, um in die unbesetzte Zone zu gelangen. Auf der Flucht beginnt sie mit der Niederschrift ihres Theaterstücks: Das gerettete Venedig. Durch die Maske historischen Stoffs tönt das Erlebte: die Besetzung von Paris. Die Handlung rankt sich um das Vorhaben des spanischen Königs, Venedig in einer Blitzaktion zu erobern. Die Verschwörung misslingt, weil einer der Verschwörer den Plan verrät. Die schutzlose Schönheit Venedigs zwingt ihn, die Stadt zu retten, wissend, dass er damit das Unglück gewaltsamen Todes auf sich selbst zieht. Durch sein Opfer schafft er jenes Gegengewicht der Gerechtigkeit, das die Niedertracht aufzuheben vermag und zugleich den urbanen Lebensraum bewahrt. Simone Weil intoniert mit diesem Drama auch ihr kulturpolitisches Thema der Einwurzelung: das Bedürfnis des Menschen, in einem natürlichen und geistigen Milieu beheimatet zu sein. »Die Verwurzelung ist vielleicht das wichtigste und meistverkannte Bedürfnis der menschlichen Seele. Ein menschliches Wesen hat eine Wurzel durch seine wirkliche, aktive und natürliche Teilhabe an einer Gemeinschaft, die gewisse Schätze der Vergangenheit und gewisse Ahnungen des Zukünftigen lebendig erhält.«
Eine weitere Antwort auf der Suche nach Gerechtigkeit gibt Simone Weil mit ihrem Plan zu einer Gruppe von Krankenschwestern an der vordersten Front. Ihre Idee ist es, freiwillige Frauen (sie selbst eingeschlossen) als Krankenschwestern ausbilden zu lassen, um »Erste Hilfe« unter den verwundeten Soldaten zu leisten. Hierbei geht es ihr nicht allein um Hilfe, sondern gleichermaßen um eine symbolische Inszenierung, ein »Akt der Liebespropaganda« entgegen faschistisch fanatischer Gewalthetze. Vergeblich kämpft sie bis zu ihrem Lebensende um die Ausführung des Plans. De Gaulle kommentiert ihr Vorhaben mit vier Worten: »Sie ist ja verrückt.«
Schließlich schreibt sie – ebenfalls 1940 – den Essay Ilias: Dichtung der Gewalt. Homers Epos liest sie als Folie, um die gegenwärtigen Mechanismen der Gewalt darzulegen: »Die Gewalt macht aus jedem, der ihr unterworfen ist, eine Sache. Wird sie bis zum Äußersten geübt, so macht sie aus dem Menschen eine Sache im wörtlichen Sinn, sie macht einen Leichnam aus ihm. Es gibt Unglücklichere, die ohne zu sterben für ihr ganzes Leben ein Ding geworden sind. Dass ein Mensch ein Ding wird ist ein logischer Widerspruch; wo aber dieses Unmögliche Wirklichkeit wird, bedeutet es ein Zerreißen der Seele. Immer und immer wieder möchte dieses Ding ein Mann, eine Frau sein, und nie gelingt es ihm. Das ist ein Tod, der das ganze Leben durchsetzt, lange ehe er es ausgelöscht hat.«


»Ich kann sagen, dass ich mein ganzes Leben lang niemals Gott gesucht habe«

Von Oktober 1940 bis Mai 1942 wohnt Simone Weil mit ihren Eltern in Marseille. Dort ist sie in der Résistance aktiv. In Père Perrin, einem Dominikaner, ebenfalls aktiv im Widerstand, findet sie einen Freund dem sie sich anvertraut. »Ich kann sagen, dass ich mein ganzes Leben lang niemals Gott gesucht habe«, beginnt sie ihre spirituelle Biographie und fährt fort: »In meinen Überlegungen über die Unlösbarkeit des Gottesproblems hatte ich diese Möglichkeit nicht vorausgesehen: die einer wirklichen Berührung zwischen dem menschlichen Wesen und Gott.« Simone Weil spricht hier erstmalig von ihrer mystischen Christusbegegnung. Die innige Eindeutigkeit dieser Erfahrung ist der Herzschlag ihres Glaubens. Als Philosophin besteht sie weiterhin auf intellektueller Redlichkeit, »denn es schien mir gewiss, dass man Gott nie genug widerstehen kann, wenn es aus Sorge um die Wahrheit geschieht. Christus liebt es, dass man ihm die Wahrheit vorzieht, denn ehe er Christus ist, ist er die Wahrheit.«
Aus dieser Haltung entwickelt Simone Weil ihren religionsphilosophischen Standpunkt ebenso wie ihre kritische Position gegenüber dem Katholizismus. Sie trifft die Entscheidung, sich nicht taufen zu lassen. In dieser Position bringt sie negativ zum Ausdruck, was sie der Kirche vorwirft: Bevormundung durch zeitbedingte Dogmen, die üble Geschichte ihrer Verketzerungen und ihre Gewalt gegen menschliche Kulturen. Umgekehrt demonstriert sie mit dieser Entscheidung positiv ihre Solidarität mit all jenen Menschen, die der Kirche nicht angehören. Religionsphilosophisch bleibt sie am Schnittpunkt zwischen dem Christentum und allem, was außerchristliche Religionen beinhalten. Simone Weils Wahrheitssuche besteht auf der Universalität Gottes, dessen Liebe allen Menschen gilt.
Das wahrhaftige Zeugnis göttlicher Liebe ist Christus. »Die einzige Lichtquelle, die hell genug ist, das Unglück zu erhellen, ist das Kreuz Christi. Gleichviel zu welcher Zeit, in welchem Land, überall, wo es ein Unglück gibt, ist das Kreuz Christi seine Wahrheit. Hätte Gott zugelassen, dass die Menschen einer Zeit und eines Landes Christi beraubt wären, es wäre an einem sichtbaren Zeichen für uns erkennbar: es gäbe kein Unglück unter ihnen. Wir kennen nichts dergleichen in der Geschichte.« In ihrem Traktat Die Gottesliebe und das Unglück entfaltet Simone Weil den Zusammenhang von Gottes schöpferischer Liebe mit dem Abgrund menschlichen Elends. Im Buch Hiob wie in den Passionsberichten der Evangelien findet sie die Wirklichkeit des Unglücks unverhüllt erzählt. Das wahre Unglück besteht darin, dass Gott selbst von Gott getrennt ist. Die Wirklichkeit der von ihm geschaffenen und damit »freigegebenen« Welt ist diese Trennung. In diesem Sinn wird »das menschliche Elend vom äußersten Unglück, das Menschen erfasst, nicht hervorgerufen, sondern enthüllt.«
Wie stellt sich Simone Weil zum Unglück des jüdischen Volkes? Von Deportationen und Lagern weiß sie durch ihr Engagement in der Résistance (sie hilft jüdischen Flüchtlingen wie allen anderen auch). Schon seit 1932 befürchtet sie einen grausamen Ausbruch von Antisemitismus. Während ihrer Feldarbeit 1936 soll sie »über das bevorstehende Martyrium der Juden, über das Elend, die Deportationen und über einen schrecklichen Krieg, der in kurzer Zeit ausbrechen werde« geredet haben. Vom »Judenstatut« 1940, das Intellektuellen Berufsverbot erteilt, wird auch sie betroffen. Ihre Anfragen an den Unterrichtsminister sind in ironischem Ton gehalten. Die Definition »jüdisch« weist sie für sich zurück: als rassische Zuordnung verstanden, hält sie eine nachweisbare, sich über zweitausend Jahre erstreckende Generationsabfolge für unhaltbar. Und religiös gesehen verbinde sie nichts mit jüdischer Glaubenspraxis. Ihre Argumentation bezeugt den aufklärerischen Geist einer Bürgerin Frankreichs, die der jüdischen Tradition fremd gegenübersteht.
Außer diesen zeitgeschichtlich bedingten Reaktionen findet sich in Simone Weils Schriften ein kompromisslos geführter Streit gegen das biblische Israel. Sie begreift den Gott Israels ausschließlich als Gott eines Kollektivs (des auserwählten Volkes), und als Gott der Gewalt. Obwohl sie einzelne Bücher des Alten Testamentes, insbesondere Hiob und die Urgeschichte der Genesis sehr wertschätzt, rückt sie nicht von ihrem Antijudaismus ab. Das prophetische Erbe Israels – mit Ausnahme des Gottesknechtes bei Deuterojesaja – hat sie nicht wahrgenommen. Es hätte ihr die Augen öffnen müssen für den universalen Anspruch des Gottes Israels und seine leidenschaftliche Liebe zur Gerechtigkeit.
Im Mai 1942 verlässt Simone Weil per Schiff Marseille. Via New York reist sie nach England. In London arbeitet sie im Dienst der französischen Exilregierung und schreibt Memoranden zum politischen Wiederaufbau Frankreichs nach dem Krieg. Neben anderen Schriften ist Die Einwurzelung ihr Vermächtnis für ein humanes Gemeinwesen nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs. Sie trägt schwer am Elend ihrer Zeit und bekennt kurz vor ihrem Lebensende Maurice Schumann: »Ich empfinde zugleich im Verstand und im innersten Herzen ein Zerrissensein, das unaufhörlich schlimmer wird wegen meines Unvermögens, das Unglück der Menschen, die Vollkommenheit Gottes und die Verbindung zwischen beiden als ein in der Wahrheit zusammengehörendes Ganzes zu denken.« In einem der letzten Briefe verweist sie auf die Tragik der Narren bei Shakespeare – jene lächerlichen Kreaturen, stigmatisiert als Verrückte, die die Wahrheit nur um den Preis ihrer Erniedrigung erfahren und aussprechen können und eben deshalb nicht gehört werden. »Empfindest du« – fragt sie im selben Brief ihre Mutter – »die Wesensverwandtschaft zwischen diesen Narren und mir, trotz der Komplimente über meine Intelligenz? Das Lob bezweckt nur, der Frage auszuweichen: Ist das, was sie sagt wahr oder nicht?«


Literatur:

Empfohlen sei die vorzügliche Übertragung des französischen Standardwerks:
Simone Pétrement: Simone Weil. Ein Leben. Aus dem Französischen übersetzt von Ellen D. Fischer, Leipzig 2007
Weitere Neuerscheinungen entfalten besondere Aspekte im Werk Simone Weils:
Elisabeth-Thérèse Winter: Weltliebe in gespannter Existenz. Grundbegriffe einer säkularen Spiritualität im Leben und Werk von Simone Weil, Würzburg 2004
Vivienne Blackburn: Dietrich Bonhoeffer and Simone Weil: A Study in Christian Responisiveness, Bern 2004
Erika Schweizer: Geistliche Geschwisterschaft, Nelly Sachs und Simone Weil – ein theologischer Diskurs, Mainz 2005
Charles Jacquier: Lebenserfahrung und Geistesarbeit. Simone Weil und der Anarchismus, Nettersheim 2006
Reiner Wimmer: Simone Weil. Person und Werk, Freiburg 2009

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrerin Dr. Erika Schweizer, Jahrgang 1957, Studium der ev. Theologie in Göttingen, Marburg, Tübingen, Gastvikariat in Tübingen, seit 1990 als Pfarrerin in Münster/Westf. in Ortsgemeinde, Studierendengemeinde und gegenwärtig in den Westfälischen Kliniken für Psychiatrie; Promotion: Geistliche Geschwisterschaft. Nelly Sachs und Simone Weil – ein theologischer Diskurs, Bd. 20: Theologie und Literatur, Grünewald Verlag Mainz 2005.

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2009

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