Die Kirchenstrukturreformen vieler Kirchenleitungen und insbesondere der EKD, wie etwa im Impulspapier »Kirche der Freiheit« skizziert, verlieren die Ortsgemeinden mit ihren spezifischen Kapazitäten aus dem Blick. Herbert Dieckmann plädiert für Reformen von unten nach oben.


Ziel und Zweck jeder Veränderung

»Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich darüber«, schreibt der inhaftierte Apostel Paulus an seine Gemeinde in Philippi, als er erfährt, dass Rivalen seine Haft benutzen, um sein Missionsfeld zu besetzen. Bis heute klar nachvollziehbar gibt Paulus hier Ziel und Zweck jeder kirchlichen Veränderung und Beharrlichkeit an: »Christus verkündigen« oder, mit dem Hebräerbrief gesagt: »Jesus Christus, gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.« (Hebr. 13,8). Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir stets diesen Maßstab bei der Klärung der Frage vor Augen hätten, ob jetzt gerade Veränderung oder Beharrlichkeit in unserer Kirche geboten ist.
Wenn heute Jugendlichen der dreieine Gott: Vater, Sohn und Heiliger Geist als Überraschungs-Ei erklärt wird, gefüllt mit »Spannung, Spaß und Schokolade«, wie in einem Jugendgottesdienst geschehen, dann ist dies gewiss keine »überraschend neue« Christus-Verkündigung, sondern nur ein fast blasphemisches Beispiel für die von vielen bereits heftig beklagte »Banalisierung unserer Botschaft«.
Wenn in einem Gottesdienst jedem Besucher 5 € geschenkt werden, übrigens aus Kirchensteuermitteln, wie vor kurzem medienwirksam vorgeführt, dann können wir das auf den ersten Blick wohl als cleveren Werbegag bestaunen. Doch ob damit wirklich »Christus verkündigt wird«, müssen wir ernsthaft fragen, auch wenn sich Besucherzahl und Einnahmen zunächst einmal deutlich erhöht haben sollen. Denn: Wurde hier tatsächlich Gottes Geschenk der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade verkündigt – das hätte ja sehr nahe gelegen – oder nicht eher mit untauglichen Mitteln nur das Image von Gemeinde und Pastor ein bisschen aufpoliert?
Natürlich gibt es auch eine Vielzahl überzeugender Veränderungen in unserer Kirche, durch die zweifellos heutigen Menschen das Evangelium nahe gebracht wird: neue Gottesdienstformen, einfühlsame Taufen, Konfirmationen, Trauungen und Beerdigungen, jugendgerechter Konfirmandenunterricht, engagierte Gemeindegruppen, attraktive Gemeindefeste, kreative Kirchentage, nicht zuletzt das neue Gesangbuch mit seinem sehr gelungenen Beieinander von alten und neuen Kirchenliedern.
Allerdings wird heute immer weniger nach inhaltlichen Neugestaltungen gesucht, als vielmehr um strukturelle Veränderungen gerungen wie z.B. Zusammenlegungen von Gemeinden, Streichung von Gemeindepfarrstellen, Stärkung der Kirchenkreise, Errichtung von neuen übergemeindlichen Pfarr- und Mitarbeiterstellen für Öffentlichkeits­arbeit, Fundraising, Innovationsprojekte, Schaffung von Jugend-, City- oder Tourismus-Kirchen, Neuverteilung kirchlicher Finanzen.
Bei all diesen organisatorischen Neugliederungen fällt auf, dass im Sinne der Fortschritts­ideologie des 19. Jh. jede Veränderung einfach auf Grund ihrer Neuheit und ohne jede genauere Überprüfung stets als die zwangsläufige und garantiert bessere Weiterentwicklung des bisherigen Zustandes angepriesen wird. Dazu muss dann die derzeitige kirchliche Handlungsstruktur erst einmal rigoros abgewertet werden, um danach die eigenen, oft sehr teureren Vorschläge leichter »verkaufen« zu können.


Die herrschende Fortschrittsideologie

Erst kürzlich ist mir diese Auffassung wieder in einem Artikel der SZ vom 2./3.2.2008 begegnet. Unter der Überschrift: »Der Allgegenwärtige« entwirft darin die Journalistin Renate Meinhof ein eindrucksvolles Porträt von Bischof Huber als »rastlosem Reformer«, der seine Kirche nach allen Regeln modernen Managements unbedingt verändern wolle. Bischof Hubers Besuch beim Pfarrkonvent in Görlitz-Rauschenwalde beschreibt Frau Meinhof so: »Schwieriges Pflaster, rückwärts gewandtes. Man spürt es. Wolfgang Huber sprach dann von ›Öffnung und Mentalitätswandel‹, von Gemeindefusionen und Mitgliederzahlen, und ›dass es eine verbreitete Scheu vor Professionalität in unserer Kirche‹ gebe… Er sagte: ›Der Schrecken der Veränderung ist vorher immer größer als nach der Veränderung‹. Alles sehr richtig, klug und wichtig. Die Pastoren aber sahen aus, als zögen fremde Welten an ihnen vorbei.
›Na, was sagt die unbeteiligte Beobachterin?‹ fragt Wolfgang Huber am Ende des Tages im Wagen. Die unbeteiligte Beobachterin sagt, sie habe den Eindruck gehabt, dass die Pastoren in Rauschenwalde einfach mal verbal in den Arm genommen werden wollten: Ihr seid gut. Ihr seid toll! Ihr habt die Wende geschafft, den Kommunismus ganz friedlich begraben, so in etwa. Wie könnt ihr jetzt verzagen, nur weil sich was ändern muss in der Kirche?
Wolfgang Huber hört sich alles an und sagt: ›Aber ich kann doch nicht pauschal loben. Das kann ich nicht.‹«
Nicht nur der Bischof Huber, selbst noch die huberkritische Journalistin tappt hier ganz deutlich – doch von ihr unbemerkt – in die raffinierte Falle der Fortschrittsideologie: Jede Veränderung ist zwangsläufig gut. Als rückwärts gewandt gilt dagegen, wer z.B. nicht bejubelt, was das EKD-Impulspapier vorschlägt: die Hälfte aller Ortsgemeinden als ineffektiv und milieuverengt aufzulösen und sie in City-, Jugend-, Tourismus-, Akademie- oder andere sog. Profilgemeinden zu verwandeln, die Kirche als einen EKD-Großkonzern mit machtvollen Zentralen zu managen, jedes Jahr 3 Mio. € zur Findung und Durchführung sog. »Aufwärtsthemen« auszuschütten, Pastorinnen und Pastoren wie auch die anderen kirchlichen Mitarbeitenden generell als desorientiert und zu gering qualifiziert abzustempeln.


Selektive Wahrnehmung

Natürlich hätte Bischof Huber die Rauschenwalder Pastoren durchaus pauschal loben können. Ein Blick in die Mitgliederbefragungen der EKD während der letzten 40 Jahre hätte genügt: Offenbar haben auch die PfarrkollegInnen in Rauschenwalde während der letzten 40 Jahre so gut gearbeitet, dass nun folgende Sachverhalte feststehen:
-    92% der Kirchenglieder, im Osten sogar 94%, die einen persönlichen Kontakt mit einer PastorIn hatten (und das sind immerhin 53%) beurteilen diese Begegnung als gut und sehr gut, niemand als schlecht, und nur 7% sagen: »teils/teils«.
-    80% der Kirchenglieder erwarten von ihrer Kirche pastorale Arbeit.
-    85% der Kirchenglieder kennen ihre GemeindepastorInnen, selbst in München sind es noch 65 %.
-    60% der Kirchenglieder halten PastorInnen für die Personen, die ihr Verhältnis zu Glaube, Religion und Kirche geprägt haben. Weit danach folgen Lehrer (33%) oder Jugendgruppen-Leiter (26%). Nur 10% sind in dieser Frage durch öffentliche Repräsentanten beeinflusst, nur 1% durch das Internet (s. Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh, 2006, 440ff).
-    Auch beim allgemeinen gesellschaftlichen Berufsranking stehen PastorInnen mit 39% nach den Ärzten, aber vor Hochschullehrern (34%), Grundschullehrern (33%) oder Unternehmern (31%) auf dem sehr respektablen 2. Platz (s. Allenbacher Archiv, IfD, Umfragen 10015 (2008)).
Mit meinen kritischen Vorbemerkungen möchte ich auf keinen Fall leugnen, dass der Rückgang von Mitgliederzahlen und Finanzen sowie der Imageverlust der Kirche – allerdings nicht der Kirchengemeinden und Pastoren – unsere kirchliche Organisation zu neuem Nachdenken und Handeln herausfordern. Dies hat das eben von mir schon erwähnte und auch in unserer Landeskirche auf nahezu allen Ebenen diskutierte EKD-Impulspapier vom Juli 2006 auch intensiv getan. Darum möchte ich nun vor dem Hintergrund dieser Diskussion unter den Gesichtspunkten von »Veränderung und Beharrlichkeit« das zentrale kirchliche Handlungsfeld der Ortsgemeinde erörtern und anschließend einige Schlussfolgerungen wagen.


Zentrales kirchliches Handlungsfeld: die Ortsgemeinde

Immer wieder wird die Ortsgemeinde als milieuverengtes und veraltetes Auslaufmodell beschrieben, das nur kleine innerkirchliche Zirkel erreiche. In einer mobilen Gesellschaft nähmen die Menschen vor allem über Medien und an bestimmten Hauptorten wie z.B. der Dresdener Frauenkirche oder dem Berliner Dom »Kirche« wahr. So behauptet das EKD-Papier doch allen Ernstes, eine Vielzahl von evangelischen Christinnen und Christen empfänden sich als Mitglied der EKD und nicht der Ortsgemeinde. Darum sollten bis 2030 die Hälfte dieser Ortsgemeinden liquidiert und stattdessen 50% der Geld- und Personalmittel in sog. Profilgemeinden gesteckt werden.
Erfreulicherweise hat unsere Landesbischöfin Frau Dr. Käßmann am 15.6.2007 vor der hannoverschen Synode diese abenteuerliche EKD-Argumentation eindeutig abgelehnt. Dennoch müssen wir auf der Hut sein, denn längst nicht alle landeskirchlichen Gremien und Entscheidungsträger haben diese völlig ungerechtfertigte Abwertung der Ortsgemeinde bei gleichzeitig ungeprüfter Aufwertung der Regionen, Kirchenkreise und Sondergemeinden schon aufgegeben.
Um eine Ortsgemeinde richtig einschätzen zu können, muss man sich stets ihre vier unterschiedlich großen Teilgemeinden vor Augen haben:
1.    Gottesdienst-Gemeinde (ca.4%)
2.    Gruppen- oder Vereins-Gemeinde (ca.10%)
3.    Veranstaltungs-Gemeinde (ca.30%)
4.    Amtshandlungs-Gemeinde: Taufen, Konfirmationen, Trauungen, Beerdigungen (100%)
Im Gegensatz zu Sondergemeinden wie City-, Tourismus- oder Akademiegemeinden, die tatsächlich milieuverengt sind, weil sie stets nur bestimmte Zielgruppen ansprechen, erreicht gerade die Ortsgemeinde durch ihre beiden größten Teil-Gemeinden im Veranstaltungs- und vor allem im Amtshandlungs-Bereich als einzige kirchliche Handlungseinheit wirklich alle Kirchenglieder und Kirchensteuerzahler und zudem noch weite Teile der Gesellschaft. Im Übrigen hat auch die Mehrzahl der Teilnehmer an Sondergemeinden regelmäßige und vorhergehende Kontakte zu ihrer Ortsgemeinde.
Allenfalls die beiden kleinen Teilgemeinden des Gottesdienstes und der Gruppen könnten als »milieuverengt« gelten, wenn man die Festgottesdienste übergeht. Dabei werden alle Gemeindeglieder in erster Linie durch GemeindepastorInnen erreicht, die Zugang zu allen vier Teilgemeinden haben, insbesondere zu der Amtshandlungs-Gemeinde, der auch die 70–80% kirchlich Distanzierten angehören. Durch unsere Ortsgemeinden und nicht durch irgendwelche Sondergemeinden wird also gerade diese größte Gruppe unserer Kirchenmitglieder und Kirchensteuerzahler erreicht und an unsere Landeskirche gebunden. Nur in der Ortsgemeinde, die nach neutestamentlicher Auffassung die Gesamtkirche repräsentiert (1. Kor. 1,2), ist sinnvoll verankert, was das EKD-Papier zutreffend zum Kern kirchlicher Arbeit zählt: Gottesdienst und Amtshandlungen.
Vor allem in der Ortsgemeinde finden sowohl die kirchlich Hochverbundenen wie auch die 70–80% kirchlich Distanzierten ihr kirchlich-religiöses Zuhause. Denn: »Die Kirche lebt als Leib Christi zentral von den vielen überschaubaren personalen Gemeinschaften vor Ort und von der Vertrautheit von Gesichtern und Räumen, die nachgewiesenermaßen die Bindung an die Kirche am nachhaltigsten stärken«, wie die bekannte Bochumer Theologieprofessorin Isolde Karle in ihrem Vortrag: »Das Ende der Gemütlichkeit?« vor dem Pfarrvereinstag in Hannover am 12.3.2007 zu recht festgestellt hat (s. Ev. Theol. 5/2007, 341).


Ortsgemeinde vernachlässigt – übergemeindliche Arbeit bevorzugt

Es ist bemerkenswert, dass von den Sondergemeinden kaum gefordert wird, was man von Ortsgemeinden so unerbittlich verlangt: Qualitätskontrolle! Plötzlich schwärmen alle von der Jugendkirche in X, der Citykirche in Y, den Fundraising-Erfolgen in Z, ohne dass deren Arbeit und auch deren Kosten nach vorher festgelegten Kriterien genau überprüft werden. Daraus ergibt sich die ärgerliche Situation, dass die überwiegend gemeinde-orientierten Kirchenglieder mit ihren
Kirchensteuern die ungerechtfertigten Privilegien gehätschelter Hobby-Gemeinden bezahlen und dafür mit pastoraler Unterversorgung büßen. Und das kann man dann landeskirchenweit beobachten: Überall werden Gemeindepfarrstellen gestrichen und gleichzeitig schießen auf Kirchenkreis-Ebene (oder noch höher angesiedelt) neue Pfarr- und Mitarbeiterstellen für Öffentlichkeitsarbeit, Innovationsprojekte, Fundraising oder »Aktion Brückenschlag« wie Pilze aus dem Boden.
Zu dieser Willkür passt, was mir vor einigen Jahren ein Superintendent über kirchliche Pastoralsoziologen erzählte: Er habe sie mehrfach zur Begutachtung seiner engagiert arbeitenden Ortsgemeinden eingeladen. Doch die Soziologen seien einfach nicht gekommen. Ich nehme an, erfolgreich tätige Ortsgemeinden passten nicht in ihr Bild von der Kirche! Sie outen sich damit – wie auch die EKD-Autoren selbst – als unbelehrbare Schüler älterer Kirchensoziologie mit ihren längst gescheiterten Modernisierungsideen der 70er Jahre. Diese veraltete Kirchensoziologie sah Kirche und Gesellschaft scharf getrennt und verstand die Ortsgemeinde als gesellschaftsferne, kleinbürgerliche Freizeitwelt. Die Gesellschaft könne nur durch übergemeindliche Dienste wie z.B. den Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt erreicht werden. Einer dieser Kirchensoziologen schlug daher doch tatsächlich vor, die Mehrheit der PastorInnen übergemeindlich und nur noch eine Minderheit ortsgemeindlich einzusetzen (s. Gert Otto, Handlungsfelder der Theologie, München 1988, 365).
Doch diese ideologisch verquere Sicht verkennt völlig das Wesen unserer sog. funktionalen Gesellschaft: In ihr wird unserer Kirche das Religionssystem gesellschaftlich zugewiesen. Und darum ist Kirche stets Teil der Gesellschaft selbst und niemals ihr bloßes Gegenüber. In einer Fabrik findet deshalb nicht »mehr« Gesellschaft statt als in einem Gottesdienst, in einer Konfirmandenunterrichtsstunde oder bei jedem Seelsorgegespräch.
Dabei ist der gar nicht hoch genug zu schätzende Vorteil jeder Ortsgemeinde, dass sie in einer nahezu totalen unpersönlichen und gesichtslosen Mediengesellschaft auf professionelle Weise – nämlich vor allem durch GemeindepastorInnen, aber auch durch ehren- und hauptamtliche Mitarbeitende – persönliche, direkte und vertrauensvolle Beziehungen sichert und vermittelt. Hierdurch erhalten gerade Gemeinde-PfarrerInnen viel eher als andere gesellschaftliche Berufsgruppen direkten Zugang und Einblick in unterschiedlichste Lebensformen und –verhältnisse; wobei jede Ortsgemeinde beim christlichen Umgang mit ihrer sozialen Vielfalt Vorbild sein kann für die demokratisch-humane Gestaltung unserer gesellschaftlichen Gegensätze (s. Isolde Karle, Der Pfarrberuf als Profession, 2. Aufl. Gütersloh 2001, 243ff).
Selbstverständlich gibt es auch übergemeindliche Handlungsfelder in unserer Landeskirche. Allerdings sind sie deutlich nachgeordnet. Ortsgemeinden können zur Not auch ohne sie auskommen. Doch übergemeindliche Handlungsfelder leben durch die Ortsgemeinden, weil vor allem hier Menschen dauerhaft an die kirchliche Organisation gebunden werden.


Schlussfolgerungen für die hannoversche Landeskirche

- Ortsgemeinden stärken
Die Identität jeder Ortsgemeinde ist unbedingt zu stärken, auch bei eventuell notwendiger Kooperation oder Regionalisierung.
- An einem Strick ziehen
Alle in einer Ortsgemeinde Mitwirkende, ehrenamtliche wie hauptamtliche Mitarbeitende und PastorInnen, müssen auf eine grundsätzliche Mentalität des Dienstes für andere eingeschworen werden. Ortsgemeinde ist keine Spielwiese für egoistische Machtentfaltung oder narzisstische Selbstverwirklichung.
- Von Beispielen lernen
Gute Beispiele von gelingender Gemeindearbeit – ob nun im Gottesdienst, im Gruppen-, im Veranstaltungs- oder im Kasualbereich – sollten sichtbar gemacht und nachgeahmt werden. Das bekäme uns allen sehr gut. Niemand muss das Rad von Neuem erfinden. Und von jedem können wir etwas lernen.
- Gemeindepfarrstellen erhalten
Gemeindepfarrstellen müssen unbedingt erhalten bleiben. Dabei sollten die Pfarrbezirke etwa 2000 Gemeindeglieder umfassen. So viele volkskirchlich orientierte Gemeindeglieder könnte eine PfarrerIn auch wirklich pastoral verantwortlich betreuen. Und ca. 2000 Gemeindeglieder können bequem eine PfarrerIn finanzieren: Sie werden 2009 durchschnittlich ca. 293.500 € an Kirchensteuern zahlen. Eine Pfarrstelle kostet im Höchstsatz 70.900 € pro Jahr. Es blieben dann immer noch mehr als drei Viertel der Summe, nämlich 222.600 € für andere Mitarbeiter, Gebäude-Unterhaltung sowie für Kirchenkreis und Landeskirche übrig. (Unberücksichtigt sind bei dieser Rechnung u.a. die ca. 31 Mio. € Einnahmen für 437 Pfarrstellen durch Staatszuschüsse und Pfarrdotationen.)
Für diese Geldmittel-Verteilung spricht auch der Stiftungswille der Kirchensteuerzahler: Die Kirchenglieder-Befragungen seit 1970 belegen eindeutig, dass unsere Kirchenglieder von ihrer Kirche vor allem gemeindlich-pastorale Arbeit mit einem sozialen Akzent erwarten und darum uns zu diesem Zweck auch ihre Kirchensteuer anvertrauen.
- Streichen nach Konzept – und nicht nach kurzfristigen Möglichkeiten
Darum kann es nicht angehen, Gemeindepfarrstellen zu streichen, nur weil man Stellen von tarifrechtlich nicht oder nur schwer kündbaren MitarbeiterInnen nicht streichen kann. Hier muss die Landeskirche einen zentralen Lösungsweg entwickeln. Denn jeder, der eine Gemeindepfarrstelle streicht, muss wissen, welch längst finanziertes Kapital an Vertrauen, Sympathie und Repräsentanz er da vernichtet. Wir sägen uns dann buchstäblich den Ast ab, auf dem wir in unserer Kirche sitzen.
- Mehr Geld für die Gemeinden
Generell muss ein größerer Teil kirchlicher Einnahmen Ortsgemeinden und Kirchenkreisen zugute kommen: Die Landeskirche behauptet z.B., 2006 habe sie 73,13% der Einnahmen an Kirchenkreise und Gemeinden überwiesen. Unser Pfarrkollege Greving hat öffentlich im Hannoverschen Pfarrvereinsblatt vorgerechnet, dass insgesamt nur 52,38% weitergegeben werden: 17 % an die Kirchenkreise, 35% an die Gemeinden. (Zudem finanziert die Landeskirche zentral Sammelversicherungen, EDV u.a.m.)
Interessanterweise wird aus der bayerischen Landeskirche von einer ähnlichen Auseinandersetzung berichtet (s. epd-Bayern vom 12.10.2008). Im Rahmen der von 150 Teilnehmern besuchten Veranstaltung: »Aufbruch Gemeinde« protestierte der Leiter des Nürnberger Predigerseminars, Martin Hoffmann, dagegen, dass die bayerischen Gemeinden »nur über 27 Prozent des Kirchensteueraufkommens« selbstständig verfügen könnten, worauf Oberkirchenrat Hans-Peter Hübner erwiderte, dass »73 Prozent des Kirchenhaushalts für die Gemeinden ausgegeben« würden.
- Gegengewicht zur Macht der Kirchenkreise schaffen
Der Kirchenkreis muss Mittel zugunsten der Ortsgemeinden abgeben. Nach der bewussten und gewollten Stärkung der Kirchenkreise in den letzten Jahrzehnten muss nun endlich deutlich zugunsten der Ortsgemeinden umgeschichtet werden.
- Betriebswirtschaftliches Denken an der richtigen Stelle
Gern berufen sich die Kirchenmanager auf die moderne Betriebswirtschaft. Und in der Tat könnten sie hier Entscheidendes lernen wie (a) Finanz-Transparenz, (b) Sparsamkeit, (c) Ausgaben-Gewichtung, (d) Kosten-Nutzen-Analyse, (e) Verwaltungs-Reduktion, (f) Reichweiten-Begrenzung:
a)    Die Transparenz des kirchlichen Finanzsystems erfordert zwingend, alle Einnahmen und Ausgaben für alle Handelnden nachvollziehbar darzustellen. Die wenigsten in der Kirche haben hier einen genauen Einblick, schon gar nicht in die Finanzen und Rücklagen der Kirchenkreise!
b)    Strenge Sparsamkeit ist Voraussetzung jedes ökonomisch verantwortlichen Umgangs mit anvertrautem betrieblichem Geld. Ich kenne z.B. eine Kirchengemeinde, die ihre Diakoniestation für 5000 € jährlich selbständig und korrekt verwaltet, während das zuständige Kirchenkreisamt für die gleiche Leistung 17.000 €, also mehr als das Dreifache, genommen hätte!
c)    Betriebswirtschaftliche Ausgaben-Gewichtung müsste aufgrund des kirchlichen Auftrags und des eindeutig erkennbaren Stiftungswillens der Kirchensteuerzahler gemeindlich-pastorale Arbeit als kirchliche Hauptaufgabe identifizieren und hierfür die Hauptausgaben verwenden – und nicht wie bisher lediglich 35%. Jede betriebswirtschaftliche Ausgaben-Gewichtung muss natürlich die Personalentwicklung kritisch betrachten: Verglichen mit dem Stand von 1954 ist die Zahl der Gemeindepfarrstellen in unserer Landeskirche gesunken, die Zahl der übergemeindlichen Pfarrstellen um über 300% gestiegen, die Personenzahl der MitarbeiterInnen ist um 600% (von 5000 auf 30.000), die der MitarbeiterInnen-Vollzeit-Stellen um über 400% (von 1700 auf über 7000) erhöht worden.
d)    Eine strenge Kosten-Nutzen-Analyse aller gegenwärtig so beliebten Neuerungen wie Fundraising, Stiftungen, Innovationsprojekte, Beratungsmodelle u.a.m. hätte jede seriöse Betriebswirtschaft längst durchgeführt.
e)    Dringend notwendig ist eine erhebliche Reduktion der Verwaltung. So sank z.B. innerhalb der letzten 30 Jahre in einem Kirchenkreis die Gemeindegliederzahl um 17%, die Pfarrstellenzahl um 35%, die Verwaltungsstellenzahl jedoch blieb merkwürdigerweise gleich. (Die Mitarbeiterzahl erhöhte sich um 10%.) In einem anderen Kirchenkreis wurde von 2001 bis 2008 die Zahl der Pfarrstellen um 24% (von 41 auf 31) gekürzt, die Zahl der Verwaltungsstellen aber nur um 3% (von 32 auf 31)!
    Sehr interessant fand ich den Vorschlag, in der Verwaltung Ehrenamtliche einzusetzen, die ja oft gute berufliche Verwaltungserfahrungen haben.


Die Institution Kirche: Dienstleister der Kirchengemeinden

Grundsätzlich hat jede betriebswirtschaftliche Planung ihre zeitliche und sachliche Grenze unbedingt zu beachten: So ist eine Finanzprognose für 25 Jahre im Voraus einfach völlige Hybris – oder aber bewusste Kirchenpolitik. Verantwortlicher wäre maximal ein Zeitraum von 10 Jahren gewesen.
Doch noch stärker als diese zeitliche Begrenzung ist in der Kirche die sachliche Grenze jeder betriebswirtschaftlichen Planung zu respektieren, wie die Diplomökonomin Anna Stöber überzeugend dargelegt hat. (s. A. Stöber, Kirche – gut beraten? Betrachtung einer Kirchengemeinde aus betriebswirtschaftlicher und funktionalistisch-systemtheoretischer Perspektive, Heidelberg, 2005) Stöber weist nachdrücklich darauf hin, dass betriebswirtschaftliche Beratung in der Kirche allzu oft gerade die primäre Aufgabe der Kirchengemeinden übersieht, durch direkte, persönliche Kommunikation Vertrauensbeziehungen in der Gemeinde aufzubauen und damit auch individuelles Engagement zu ermöglichen. Gerade im gemeindlichen Bereich dürften Mitarbeitende nicht weiter reduziert werden. Vielmehr müsse der Anteil der formalen Organisation der Kirche reduziert und auf keinen Fall dürften kirchengemeindliche Aufgaben auf bezahlte Stabsstellen übertragen werden. Die Institution Kirche müsse sich als Dienstleister der Kirchengemeinden verstehen und es dürfe grundsätzlich keine kirchliche Dienstleistung mehr ohne den Weg über die Kirchengemeinde geben.
Stöber kritisiert die betriebswirtschaftliche Beratung in der Kirche, vor allem das sog. Ev. Münchenprogramm (eMP) McKinseys, in mehrfacher Hinsicht:
-    Die Fixkosten würden nachweislich vermehrt.
-    Der formale Organisationsgrad würde zulasten der Beziehungsarbeit in der Gemeinschaft erhöht.
-    Die Spenden- und Stiftungsfinanzierung gefährde das pauschale Kirchensteuersystem und die Stabilisierung der Kirchengemeinde: Niemand zahle auf Dauer doppelt und die kirchliche Gemeinschaft beruhe stark auf persönlichen Beziehungen. Der Pfarrer wird geschätzt, weil er unbezahlt kommt. Er bekommt zwar auch ein Gehalt; wann er aber was zu tun hat und wann und wo er jemanden zu besuchen hat, kann ihm bislang niemand vorschreiben. Das Gemeindeglied engagiert sich, weil es eben nicht dazu verpflichtet werden kann. Der kranke Mensch freut sich, weil man ihm freiwillig (im Sinne von unentgeltlich) Zeit geschenkt hat. (Wenn jetzt z.B. die rheinische Landeskirche »pastorale Dienste auf Honorarbasis« für TheologInnen im Angestelltenverhältnis für fünf Jahre erproben will (s. Pressemitteilung 40/2009 vom 15.1.2009 der Ev. Kirche im Rheinland), dann widerspricht dies fundamental jedem pastoral-seelsorgerlichen Vertrauensverhältnis, das bisher konsequent von ökonomischen Verwertungsinteressen frei gehalten wurde, was in unserer Gesellschaft im professionellen Bereich geradezu einzigartig ist.)
-    Grundsätzlich übersieht die reine Betriebswirtschaft den wichtigsten »Wettbewerbsvorteil« der Kirchengemeinden, »eine der letzten Stätten leistungsunabhängigen Engagements und persönlicher Entwicklung (zu) bleiben – zum Wohle ihrer Mitglieder wie zu ihrem eigenen institutionellen Fortbestand.«


Schlussbemerkung: Dem selbstwirksamen Wort Gottes vertrauen

Allen, die sich um »Veränderung oder Beharrlichkeit« in unserer Kirche angestrengt bemühen, möchte ich diese Gedanken von Isolde Karle aus ihrem Vortrag auf dem hannoverschen Pfarrvereinstag vom 12.3.2007 ins Stammbuch schreiben: Jede Reformanstrengung müsse streng unterscheiden zwischen Menschenwerk und Gotteswerk bei kirchlicher Zukunftsgestaltung und dabei zunächst einmal humorvoll und gelassen auf die Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes vertrauen und die Distanz zum eigenen Tun von Martin Luther neu erlernen, der von sich behauptet habe: »Ich hab’ allein Gottes Wort getrieben, gepredigt und geschrieben; sonst hab’ ich nichts getan. Das hat, wenn ich geschlafen hab’, wenn ich wittenbergisch Bier mit meinem Philippo oder Amsdorf getrunken hab’, alles getan. Ich hab’ nichts getan.« Aus diesem Grundvertrauen auf das selbstwirksame Gotteswort heraus müsse sich Kirche endlich wieder als Geschöpf des »Wortes Gottes« und nicht als Werk menschlicher Bemühung begreifen. Denn christlicher Glaube sei weder herstellbar noch käuflich – und, füge ich hinzu, er hat Jesus Christus zu verkündigen und sonst nichts – und das umsonst!

Über die Autorin / den Autor:

Pastor i. R. Mag. soz. Herbert Dieckmann, Jahrgang 1940, 1960–67 Theologiestudium in Oberursel, Heidelberg, Münster, Göttingen, 1973–75 Sozialwiss. Studium, Mitarbeit im Kirchl. Dienst in der Arbeitswelt, 1970–73 und 1976–89 Gemeindepastor, 1989–2005 Schulpastor an Hamelner Gymnasien, 2003–08 Vorsitzender der hannoverschen Pfarrvertretung, Vorstandsmitglied im Hannoverschen Pfarrverein; Veröffentlichungen im Deutschen Pfarrerblatt und im Hannoverschen Pfarrvereinsblatt.

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2009

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