Anlässlich des 70. Geburtstages des Marburger Praktischen Theologen Dietrich Stollberg fand im vergangenen Jahr an seinem Wohnort Fürth/Bayern ein wissenschaftliches Symposion statt zum Thema »Ich liebe meine Kirche, ich finde sie unerträglich, ich gebe die Hoffnung nicht auf«. Diskutiert wurden in diesem Rahmen Thesen des Jubilars, die nachfolgend dokumentiert sind.


1. Ich liebe meine Kirche:
-     Sie ist meine Heimat, die mich mit meinen Eltern und Großeltern, Verwandten und Freunden, aber auch mit der fränkischen Landschaft und meiner Heimatstadt verbindet.
-     Ich bin nicht allein, sondern Glied einer großen Gemeinschaft, der Kirche, und zwar auch wieder nicht abstrakt, sondern konkret: der lutherischen Kirche.
-     Sie hat im besten Falle Stil: schöne Gottesdienste und Kirchenmusiken in schönen Kirchen und mit einer wunderbaren biblischen, symbolhaltigen Tradition.
-     Religion ist für mich die grundlegende humane und kollektive Kunst aller Künste, Ausdruck sinnvoller Transzendierung der Banalitäten des Alltags auf den Ebenen von Symbol und Mythos.
-     Ich erlebe mich durch die Religion in einem großen welt- und heilsgeschichtlichen Zusammenhang. Das gibt Identität.
Aber:

2. Ich finde sie unerträglich:
-     Ich erlebe meine Kirche als reichlich verwahrlost: intellektuell-theologisch, homiletisch, liturgisch.
-     Fast jeden Gottesdienst besuche ich mit Hoffnung und verlasse ihn mit Enttäuschung.
-     Die protestantische Predigtmonomanie statt liturgisch-poetischem Ausdruck von Frömmigkeit finde ich unerträglich.
-     Inhaltlich wird meist etwas naiv und belehrend, ja gesetzlich Weisheit (vgl. die modische, aber theologisch äußerst fragwürdige Rede vom »gelingenden Leben«) statt Gesetz und Evangelium (Gericht und Gnade Gottes) gepredigt.
-     Liturgisch, homiletisch, kirchenmusikalisch fehlt inzwischen fast die gesamte lutherisch-reformkatholische (!) ästhetische Tradition, die bis ca. 1810 in Nürnberg noch üblich war. Liturgisches Verhalten ist nicht eingeübt. Niveauvolle Kirchenmusik ist aus dem Gottesdienst, ihrem eigentlichen Ort, in Konzerte ausgewandert.
-     Versteht man sie als soziale Service-Agentur der Gesellschaft, ist die Kirche zwar nützlich und politisch geschätzt, aber ohne geistliches Proprium, ohne ihre eigentliche Identität, vernünftig, aber gesichtslos.
Jedoch:

3. Ich gebe die Hoffnung nicht auf.
Ich hoffe
-     auf schönere (»erhebendere« oder in diesem Sinne seel-sorgliche), d.h. liturgisch und theologisch kompetentere, Gottesdienste,
-     auf biblische Predigten als sachgemäße Textauslegung,
-    auf Gemeinde als geistlich ausgerichtete Anbetungsgemeinschaft,
-     auf Zukunft auch für meine lutherische Kirche, wenn sie bei ihrer Sache bleibt.

4. Ich wäre kein Pastoralpsychologe, wenn ich zum Schluss nicht das Gesagte noch ein wenig sozialpsychologisch deutete:
-     Ich entdecke große Trauer bei mir, die mit meinem Abschied aus dem sog. aktiven Dienst an der Universität, unserem Wegzug aus Marburg und damit in gewisser Weise aus einem Zentrum von Theologie und Kirche zu tun hat.
-     Ich interpretiere meine Kritik zwar nicht nur, aber auch als Abwehrverhalten (was sie allerdings überhaupt nicht weniger ernst gemeint erscheinen lassen soll!):
-     Wenn man plötzlich seine gewohnte Position in einer Gruppe nicht mehr hat und aus rein formalen oder anderen Gründen (z.B. Alter oder Krankheit) an die Peripherie gerückt wird, droht eine gewisse Identitätsdiffusion (Wo gehöre ich hin? Was ist meine Aufgabe? Wer braucht mich? Will ich das, was man jetzt von mir verlangt? Wer bin ich überhaupt noch?). Sie muss abgewehrt werden, z. B. indem man sich kritisch Gehör zu verschaffen sucht. Ich bin ja der, der ich bin, immer in Relation zu …
-     Daraus folgt: Was habe ich als Neu-Randsiedler noch mit der Kirche, in der ich vorher eine wichtige Funktion hatte, zu schaffen? Ich verstehe all jene, die diese Frage negativ beantworten. In der individualisierten, privatistischen Massengesellschaft wird die Kirche für diejenigen, die nicht darin arbeiten, zu einem unverbindlichen Freizeitverein, dessen Riesenanspruch und tatsächliche Relevanz weit auseinanderklaffen. Sie erscheint, jedenfalls in der überkommenen Form, nicht mehr situations- und zeitgemäß. Ich kenne pensionierte Pfarrer, die sich deshalb wie aus der Kirche Ausgetretene verhalten.
-     Kritik an ihr fällt leicht, bedeutet aber auch: Ich würde gerne dazugehören. Die Frage ist nur: Wie?
-    Was subjektiv und individuell klingt, ist auch kollektiv (also auf ganze Gemeinden und Kirche generell bezogen) gemeint.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2008

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