Begleitung und Beistand in individuellen Krisen sind wichtig. Doch sie genügen nicht, wenn die Art und Häufigkeit solcher Krisen aus einer objektiven Not stammt bzw. die Krisen selbst strukturelle Ursachen haben. Genau dies ist aber nach Jörn Halbe im Pfarrberuf der Fall.1


I. Nicht nur eine Sache der betroffenen Personen

Erschöpfungszustände bis hin zum »Burnout-Syndrom« sind eine Gefahr für Menschen, die aus ideellen Gründen viel Energie in ihren Beruf investieren und hohe Erwartungen in ihre Arbeit und ihre Leistungsfähigkeit setzen, dabei aber Bedingungen unterworfen und Ansprüchen ausgesetzt sind, die auch beim besten subjektiven Willen objektiv nicht zu erfüllen sind – wenn beispielsweise der Rahmen fehlt, der dem beruflichen Handeln Maßstäbe, Ziele und Grenzen setzt und der es auf diese Weise überhaupt erst ermöglicht, in der Arbeit zur Ruhe zu kommen und in der Ruhe zum Frieden. Die Folge ist »negative Stress« des auf sich selbst zurückgeworfenen, nur noch sich selber richtenden Subjekts.2
Das genau ist das berufliche Elend, in dem ich Pastorinnen und Pfarrer zunehmend häufig gefangen sehe. Es ist nicht einfach das Maß – und sei es das Übermaß – anfallender Aufgaben und Pflichten, das krank macht (das gibt es im Einzelfall auch); tiefer liegt und umfassender wirkt das Zerfließen, die Diffusion, der Gesichtsverlust des Pfarrberufs selbst. Und mit »Gesichtsverlust« meine ich beides, den Verlust des »Ansehens« und den Verlust des »Charakters«, des typisch Eigenen, Unverwechselbaren dieses Berufs, das den Betroffenen sagen könnte, wer sie sind, was sie sollen. Verloren geht, was sie auf diese Weise verpflichten würde, aber auch entlasten, formen, aber auch befreien.


II. Die Lage

Was sich für Pastorinnen und Pfarrer im Unterschied zu früheren Zeiten grundlegend gewandelt hat, wird von Fulbert Steffensky so zusammengefasst: »Die Zeit der festen Rollen ist vorbei. Der Pfarrer (und nun auch die Pfarrerin) sind nur noch sie selber, es schützt, ermuntert und verdirbt sie immer weniger ein diesem Beruf vorliegendes Muster. Sie sind, die sie sind. Ihre Worte werden nicht gehört, weil sie aus dem Mund des Pfarrers oder der Pfarrerin kommen. Sie werden gehört und bedacht, insofern sie gut sind. Sie werden geehrt, insofern sie ehrenhaft sind, und nicht, weil sie einen geistlichen Beruf haben. Pfarrhäuser und Pfarrer werden unkenntlicher, sie werden nicht mehr an ihrer Kleidung erkannt, nicht mehr an einem beruflichen Einheitsvokabular, nicht mehr an der Art, wie sie mit ihren Partnern und ihren Kindern umgehen. Das bedeutet zunächst eine größere Freiheit. Sie sind nicht mehr Opfer ihrer Rolle, und das Pfarrhaus ist keine Opferstätte der Individualität mehr. Aber es bedeutet auch eine oft zu schwere Last. Sie müssen sich ständig ausweisen und ständig beweisen, noch mehr: sie sollen ihre Botschaft ausweisen. Das Evangelium wird für so gut gehalten, wie die Pfarrerin oder der Pfarrer ist, die es predigen. Das aber ist zu viel für die Schulter eines Menschen.«3
Dies alles hat Gründe im Wandel unserer Gesellschaft im Ganzen. Auf die Gestalt und das Leben der (westdeutschen4) Kirchen bezogen, gilt jedenfalls:
Konvergente Entwicklungen der letzten dreieinhalb Jahrzehnte haben dazu beigetragen, dass Pfarrerinnen und Pastoren ihre Kirche immer weniger als »Haus«, das heißt als einen Raum erfahren, der ihnen im Umgang mit sich und mit anderen als ihnen vorgegeben hilft, ihr eigenes Innen zu ordnen, zu wissen, was ihre Aufgabe ist, zu unterscheiden, was wichtig ist, zu bejahen, was Grund ihrer Autorität ist, zu begrenzen, was ihre Verantwortung ist – kurzum: als einen Raum, der es ihnen erlaubt und erleichtert, zu sein, was sie tun, und zu leben, was sie sind.
Für Pfarrerinnen und Pastoren ist es eng geworden – nicht nur unter dem Gesichtspunkt schrumpfender Gemeinden und schwindender Mittel, sondern erst recht, weil sich alles Erwarten auf sie als Person konzentriert, auf den engen Raum ihrer Subjektivität und die Fähigkeit, sich darin selbst zu ordnen.
Was dazu beigetragen hat, lässt sich im empirischen Sinn zumindest auch als äußerer Wandel beschreiben: Der Mitgliederschwund und das Schwinden der Mittel gehören zur Grunddynamik. Zugleich aber lösten sich auch bis dahin noch einigermaßen stabile Strukturen des Pfarrberufs auf:
-    die Öffnung des einstmaligen Männerberufs auch für Frauen
-    die Schaffung von Teilzeit- und geteilten Stellen
-    der »Mutationssprung« vom Pfarrhaus zur Dienstwohnung, die nicht mehr geistliches Leben in all seiner Ambivalenz, sondern Anfragbarkeit für die Leistung von Diensten symbolisiert
-    das Unterlaufen und teilweise dann auch formell die Aufhebung der Residenzpflicht
-    der Niedergang der Parochie, die angesichts heutiger Differenzierung der Lebens- und Institutionenbereiche nur noch in der Vorstellung integriert, was an Vollzügen und Themen des Lebens längst aus der Welt von Familie und Wohnen ausgewandert ist.
Geblieben ist der »Lebenszyklus« und geblieben sind – bezogen darauf – die »Dienstleistungen« in Seelsorge, Amtshandlungspraxis, Gottesdiensten und Erziehung.5
Das klamme Gefühl von Pfarrerinnen und Pastoren, das Leben lebe an ihnen vorbei, mag als solches nicht neu sein; neu aber ist, wie verbreitet und wie begründet dieses Gefühl ist. Denn in allem hier angedeuteten Wandel traditionaler Strukturen hat ja der Pfarrberuf teil am Gesellschaftsprozess insgesamt und der läuft darauf hinaus, dass bei schwindender Außenorientierung des Lebens und Handelns das binnengeleitete Wählen und Entscheiden immer stärker »beansprucht« (im Doppelsinn des Wortes: subjektiv verlangt und objektiv zugemutet) wird. Das gilt wie für alle in der »Erlebnisgesellschaft« (Gerhard Schulze) erst recht für »Erlebnis-Anbieter«, wie Pfarrer und Pastorin es sind: Immer weniger ist es das »objektiv Gebotene«, das ihnen sagt, was zu tun ist; immer stärker die Selbstbefragung mit allem Risiko, an dem, was die Leute entscheiden und wählen, gerade vorbei zu entscheiden – ein Stress, der immerhin erklärt, woher so viel Müdigkeit, aber woher auch so viel Tingeltangel kommt. Was erreicht werden soll, sind nicht Leute, sondern die Erlebnislücken in der Innenwelt der Leute.
Nicht überraschend vielleicht, aber bemerkenswert ist es allemal, wie konform sich dazu dominante Konzepte Praktischer Theologie und kirchlich-offizieller Programme verhalten. Sie steuern dem nicht entgegen; sie verstärken das, was ist, und zwar in dreifacher Hinsicht.

1. Befragungen zum Zweck der funktionalen Bestimmung pastoraler »Identität«
Der Versuch, empirisch zu erforschen, was Hans und Grete von der Kirche, speziell von Pfarrern und Pastorinnen erwarten, verspricht auf den ersten Blick Kompensation für das, was seit Anfang der 70er Jahre an Stabilitätsverlust6 sowohl der Institution als auch des Berufsbildes zunehmend spürbar wurde. Worauf es dann aber hinauslief, war (in den hier relevanten Bezügen) zweierlei:
-    Für das, was »Kirche« ist, steht und haftet in der Wahrnehmung der Leute jeweils die Pastorin, der Pfarrer in Person.
-    Auf sie, die Person der Pastorin, des Pfarrers, richten sich inkongruente Rollenerwartungen7, die allenfalls additiv gebündelt8 und nie enttäuschungsfrei erfüllt werden können9.
Das in dieser Weise »funktional« rekonstruierte Berufsbild verwickelt die Betroffenen (und über sie die, die mit ihnen Erfahrungen machen) gleich doppelt in Widersprüche: Es zeichnet sie aus und wertet sie auf – aber durch einen Anspruch, den sie nicht erfüllen können, nämlich »für Kirche zu stehen«. Und es verspricht Orientierung in der Wahrnehmung ihres Berufs – jedoch durch Rollenvorgaben, die desorientierend, weil disparat, aber »gleich gültig« sind, nämlich mit gleicher Geltung begründet in den Erwartungen Dritter. Kein Zufall: »Authentizität« und »Identität im Beruf« werden zu Schlüsselbegriffen. Es meldet sich darin, was hier gesucht und so nicht zu finden ist.

2. Bildungsplanung mit dem Konzept pastoraler »Kompetenz«
So startet mit Ende der 70er Jahre ein neuer Begriff seine steile Karriere, zunächst in der Reflexion auf und sodann in Programmen für theologische Bildung in Studium und Beruf: »Kompetenz«10. Die Grundfigur bleibt dabei gleich: Ihrer selbst im Umfeld der Gesellschaft unsicher geworden – und dies nun verstärkt durch die neue Erfahrung, dass es an kirchlichen Stellen für nachwachsende Theologinnen und Theologen zu mangeln begann –, hält die Kirche an einem fest, dass nämlich Wohl oder Wehe, dass Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit ihrer Sache an der Person des Pfarrers oder der Pastorin hängen, die Einzelne, der Einzelne – man weiß nicht, ob als rettender Strohhalm oder als Fels in der Brandung. Gebraucht ist in jedem Fall eins: »Kompetenz«, und zwar »theologische«, die als je eigene persönlich zu erwerben, biographisch zu entwickeln, situationsangemessen auszudifferenzieren, in sich aber invariant so strukturiert ist, dass fachtheologische Kenntnisse und Einsichten die Grundlage jeden Erwerbs berufsrelevanter Fertigkeiten bilden11.
Man konnte in diesem Konzept auch Befreiendes finden: eine Fähigkeit, die als theologische die Kriterien und als Kompetenz das Vermögen beinhaltet, sich im Spannungsfeld konkurrierender Erwartungen zu begrenzen und zu profilieren. Das aber zeigt auch zugleich die Pointe: Es geht um ein Konzept beruflicher Selbststeuerung, das im Selbstbild der Pastorinnen und Pfarrer das Primat theologischen Wissens, im institutionellen Rahmen von Universität und Kirche das Primat entsprechender Wissensvermittlung und – hier entscheidend – im Leben und Leitbild von »Gemeinde« das Primat der Amtspersonen sichert12 – der »Profis« den »Laien«, der »Häupter« den »Gliedern« gegenüber. Wenn nicht alle Gewalt, so doch alles Gestalten geht von ihnen aus – und vom Innen: vom homo theologicus als Subjektkern und Kernsubjekt der Frauen und Männer in diesem Beruf. Die Gemeinde als Haus aus lebendigen Steinen, und zwar selber lebendigen Steinen, kommt dabei nicht in den Blick13.

3. Marktanalyse zur Optimierung pastoraler »Effizienz«
Genau auf dieser Linie liegt, was die Finanznot der Kirchen seit Anfang/Mitte der 90er Jahre an Reaktionen hervortrieb. Das Fehlen des Geldes schlug nicht nur real auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen, ja überhaupt auf die Zugänglichkeit und Zukunft des Pfarrberufs durch. Es schlug gleichzeitig um in eine umfassende Ökonomisierung kirchlichen Denkens und Planens, geleitet vom tragenden Imperativ betrieblichen Wirtschaftens: Die Zukunft des Unternehmens zu sichern. Das Leben kam ins »Angebot«14. Die Logik des Marktes wurde strukturbildend – nicht nur im Neubau von Sprache nicht nur im Umbau von Theologie, auch in Strategien und Projekten der Reorganisation von Kirche unter dem Gesichtspunkt höherer Attraktivität und verbesserter »Angebotskonzepte«15.
Darin lag auch das Versprechen, veränderte Strukturen und voraussetzungsvolleres (Organisations-)Wissen würden die pastorale Arbeit weniger störungsanfällig und enttäuschend, damit für alle Beteiligten weniger frustrierend werden lassen. Aber zugleich verengte sich damit die Perspektive, in der diese Arbeit gesehen wurde, und es wuchs der Druck des Maßes, mit dem sie gemessen wurde: Erfolg war das Maß, Effizienz die Perspektive. Und der Markt fällt das Urteil.
Um ganz zu ermessen, was das bedeutet, muss man sich klar machen16: »Der Markt ist der Kontingenzraum par excellence – ein höchst fluides Gewirr von Lücken und Nischen, die sich ebenso schnell auftun, wie sie wieder verschwinden oder von der Konkurrenz geschlossen werden. Jeder Versuch, die Dynamik stillzustellen, muss scheitern. Erfolg hat nur, wer sich ihr mimetisch angleicht oder sie gar zu überbieten sucht, mit anderen Worten: wer beweglich genug ist, seine Chance zu erkennen und zu ergreifen, bevor ein anderer es tut.«17 »Für den Einzelnen ergibt sich daraus eine paradoxe Situation: Einerseits ist er den Kräften des Marktes ausgeliefert wie einer Naturgewalt, andererseits kann er seinen Erfolg wie sein Scheitern niemandem zuschreiben als sich selbst.«18 »Empowerment und Demütigung gehen Hand in Hand.«19
Mit anderen Worten: Die Übernahme markt­orientierter Führungskonzepte in die Programmatik kirchlicher Organisationsentwicklung (endgültig nun im Impulspapier »Kirche der Freiheit«) unterwirft beide – die Organisation wie die Einzelnen in ihr, die Kirche wie ihr Personal und darin besonders Pastorinnen und Pfarrer – dem Dauerstress nie abgeschlossener, weil unabschließbarer Optimierungsprozesse. Verlangt und prämiert wird »eine von umsichtiger Fürsorglichkeit geprägte Grundhaltung, die das Wort ›genug‹ nicht kennt und bestrebt ist, dem Kunden immer einen Schritt voraus zu sein.«20 Das schließt ein: Der Einzelne selbst wird »zum Agenten eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses an der eigenen Person.«21 Er spielt mit in einem Spiel, das eines nicht kennt: Gnade. Denn es erlaubt nicht nur nicht, sondern verbietet geradezu, (theologisch gesprochen22) zwischen »Person« und »Werk« zu unterscheiden. Es »fordert und fördert« (nach eigenem Sprachspiel), aber es braucht, bringt hervor und implementiert in Wahrheit die Person als Werk.
Systematisch-theologisch steht damit die (Möglichkeit der) Fundamentalunterscheidung von »Gesetz« und »Evangelium«, damit die Freiheitsbotschaft der Rechtfertigungslehre und also – zumindest für die Kirchen der Reformation – nicht weniger als alles auf dem Spiel.23 Praktisch-theologisch, nämlich in der Perspektive empirischer Ekklesiologie, erschließt sich die Aussicht, dass es womöglich gelingt, mit den hier fraglichen Mitteln die Organisation der Kirche zu salvieren. Die Frage ist nur, ob sie es dann auch noch ist: Kirche.

»Identitätskrisen« sind das eine, »Krisenidentität« ist das andere. »Krisenidentität« ist dadurch gekennzeichnet, dass wachsende faktische Unsicherheit (also nicht nur »Verunsicherung«) in den Außenbezügen und der Außenorientierung einer Person oder Gruppe einseitig, weil »objektiv« nicht abzuwenden, in eben diese Person oder Gruppe hinein verlagert und zum Anspruch an sie wird, sich in ihren Selbstbezügen und in ihrer Binnenorientierung desto höher »subjektiv« zu sichern. Nicht »Es gibt viel zu tun, packen wir’s an!«, sondern »Du hast keine Chance, ergreife sie!« bestimmt diese Situation. Krisenidentität spiegelt die Unzugänglichkeit eines sich verschließenden oder sich entziehenden Außen in einem desto bemühteren, höher beanspruchten Innen. Theologisch gesprochen, aber nicht nur theologisch gemeint: Die Störung im Verhältnis zum »Extra nos« führt zu Hypertrophie des »In nobis«.
Zur Symptomatik gehört dementsprechend, dass Tugenden und Fähigkeiten wie »Flexibilität«, »Professionalität«, »Verzichtbereitschaft«, »Kompetenz« ebenso in aller Munde sind wie Klagen darüber, es fehle daran: Eins wie das andere, Tugend wie Tadel, spricht ja von objektiven Problemen äußerer Realität, als wären sie eigentlich nur eine Frage richtiger Ausstattung und Einstellung der Subjekte. Wer’s glaubt, wird nicht selig! Denn wieder ist nur ein desto bemühteres, höher beanspruchtes Innen die Folge – und zugleich damit so etwas wie ein resignativ-panischer Egoismus, der in die Vereinzelung führt, der die Kollegialität vergiftet und der Weltmeister macht in der Kunst, sich projektiv zu entlasten, d.h. Anspruch und Vorwurf mit Gegenanspruch und Gegenvorwurf zu beantworten. Kein Wunder, dass es in einer Erhebung des vergangenen Jahres zur Arbeitszufriedenheit im Pfarrberuf heißt: »Unter den Negativerfahrungen [der befragten Pfarrerinnen und Pastoren] stand […] eindeutig das Verhältnis zu den KollegInnen als Feld häufiger Frustrationen und Konflikte an erster Stelle.«24
Der Grund alles dessen liegt im Verlust eines sicheren, sichernden Raumes, den nicht nur die Kirchen im Blick auf die Welt, sondern – verbunden damit – auch die Pastorinnen und Pfarrer in ihrem Verhältnis zur Kirche erfahren haben und erfahren. Die Welt braucht immer weniger die Kirche, die Kirche immer weniger Pastorinnen und Pfarrer – und sie, die Pfarrerinnen und Pastoren, sollen darüber nicht wütend oder müde werden, sondern desto flexibler, professioneller, genügsamer, kompetenter … wie ihrerseits ja auch die Kirche in ihrer Beziehung zur Welt sich ordentlich Mühe gibt, nicht gekränkt und verbiestert zu sein, sondern alert, effizient, up to date und mit marktoptimiertem Produkt: »Kirche der Freiheit«, statt einfach – und allerdings weniger schlicht – befreiende Kirche.


III. Lösungswege

Die Wurzel des Übels liegt in der Ekklesiologie – in einem engen, aus Existenz- und Zukunftsangst einseitig »machbarkeitslastig« gewordenen Kirchenverständnis. Theologisch geurteilt: Es herrscht das »Gesetz«.
Das hat mit einer Schwierigkeit zu tun, der wir nicht ausweichen können: Die Kirche ist als Menschenwerk, als Organisation unterwegs in der Zeit – mit allem, was das an sachlichen Zwängen und an Gestaltungsverantwortung einschließt; zugleich aber ist sie als Gotteswerk, als creatura verbi in der Welt – und wir sind verpflichtet, von da her, von der Bibel her zu bestimmen, was sie ist und sein soll. Überblickt man die Diskussion um Pfarrberuf und Pfarrerbild, wie ich sie dargestellt habe, so zeigt sich, dass sie konzentriert organisationstheoretisch und berufssoziologisch geführt worden ist – bezogen eben auf Kirche als Organisation. Unterbelichtet geblieben, wenn nicht ganz ausgefallen ist dagegen die Frage, was es für diesen Beruf und die berufliche Praxis bedeutet, dass er in erster Instanz als »Dienst am Wort« (ministerium verbi) ekklesiologisch begründet ist – verankert im »Extra nos«, gerade nicht nur der Organisation, sondern des Glaubensgrundes der Kirche, wofür als Kennzeichen die Ordination fungiert.
Noch einmal Fulbert Steffensky: »Wir müssten verzweifeln, wenn wir nur die wären, die wir sind. Wir müssten an unserer Kirche verzweifeln, wenn sie nur die wäre, die sie ist. Wir sind nicht die Garanten unserer selbst. Wir leben, weil wir bezeugt sind. ›Der Geist gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind.‹ (Röm 8,16) […] Das gilt nicht nur für uns Einzelne. Es gilt für die Kirche. Und so ist die Kirche sich nicht nur aufgegeben, sie ist sich selber vorgegeben.«25
Alles, was Pfarrern und Pastorinnen hilft, sich dieses Glaubens, dieses Grundes ihrer Arbeit zu vergewissern, begegnet dem Trend und wehrt der Gefahr, dass sie in ihrem beruflichen Leben unter die Dinge geraten. Und die Kirche – als Organisation – hat die Pflicht, für solche Vergewisserung die geeigneten Räume zu schaffen: Nicht nur aus Gründen der Fürsorge, sondern eingedenk dessen, dass sie Kirche ist.
Einige Beispiele als »Wegweiser« auf der Suche nach Lösungswegen:

1. Das Pastoralkolleg
Die Ursprungsidee des Pastoralkollegs gehört hierher – als die eines Ortes von Fortbildung, die nicht primär handlungsorientiert auf berufliche Qualifizierung abzielt, sondern die sich leiten lässt von dem (gut reformatorischen) Gedanken, dass die »persönliche Glaubensgewissheit der beruflichen Handlungsgewissheit voran[geht]« – »opus non facit personam, sed persona facit opus«.26 Das heißt konkret: Im Umgang mit der Bibel, in festen Zeiten des Gebets und in gemeinsamem Leben geht es darum, zurückzufinden zu den Quellen persönlichen Glaubens und beruflichen Lebens, sie zu klären, zu reinigen, neu daraus zu schöpfen; Zweifel und Enttäuschungen zu teilen; einander zu stärken in der Hoffnung und der Liebe; die eigene Praxis zu evaluieren; Mut zu fassen und Ideen zu spinnen im Blick auf die Arbeit, die kommt. Vergewisserung im Amt, und zwar konstitutiv in Gemeinschaft der Ordinierten: Dazu und darum wurde das Pastoralkolleg erfunden.27 Dies zunächst und noch lange ausdrücklich im Unterschied zu Konzepten der Fort- und Weiterbildung nach Maßgabe institutionellen »Bedarfs«, organisationstheoretischer Weisheitslehren oder kirchenleitender Zielvorgaben – ohne darum überhaupt deren Recht zu bestreiten. Sie haben ihren Ort wo immer, aber nicht im Pastoralkolleg. Dessen Qualität im Sinn und Interesse »respirativer Personalzurüstung« hängt entscheidend ab von der Klarheit und Ursprungstreue in diesem Punkt. Das gilt im Blick auf Themen und Methoden, nicht minder aber auch im Blick auf den Standort, die Räume, den in den Dingen wohnenden Geist der Arbeit im Pastoralkolleg.28

2. Ein Kolleg für nicht-ordinierte Mitarbeiter/innen
Vor einem Vierteljahrhundert bereits (1982) hat man gefragt: »Wann […] werden die Landeskirchen den immer dringender werdenden Bedarf an ›Pastoralkollegs‹ für die große Zahl der nicht-ordinierten kirchlichen Mitarbeiter sehen? Viele von ihnen haben sich von ihrem Engagement eine Vergewisserung im Glauben erhofft und ihre Hoffnung noch nicht aufgegeben.«29 – Eine berechtigte Frage, aber immer noch offen! Berechtigt auch darum, weil sie auf ein Problem verweist, das die pastorale Praxis in hohem Maße belastet: Es ist zunehmend unklar geworden, was eigentlich »Amt« und »Ordination« für die berufliche Identität der Pastorinnen und Pfarrer und damit für das Verhältnis sowohl der Ordinierten zu den Nichtordinierten als auch der Ordinierten zueinander in der Sache bedeutet.30 Die Ausdifferenzierung immer neuer Handlungsfelder in der pastoralen Praxis, entsprechend die Spezialisierung der Arbeit hat alle Aufmerksamkeit berufssoziologisch auf das gelenkt, was »Professionalisierung« des Pfarrberufs heißt, aber mit anderem und vielleicht größerem Recht »Entprofessionalisierung« genannt werden könnte und wirklich genannt worden ist – schlicht, weil das Ende vom Lied ist: »In diesem Beruf wird es immer schwerer zu wissen, was man als Erstes und Wichtigstes zu tun hat«31, und im Verhältnis zu Mitarbeitenden: …was man aus gutem Grund nicht zu tun hat. »Vergewisserung im Amt« verlangt heute Arbeit und Orte, sich neu und wieder berufstheologisch »des Amtes« zu vergewissern. Nicht zur Wiederbelebung vergangener Pfarrherrlichkeit, sondern genau, um Tendenzen dahin und der Versuchung dazu zu begegnen.

3. Die Praxis des Studiums
»Könnten [fragt Fulbert Steffensky] die Orte intellektueller Bildung nicht mehr, als sie es jetzt sind, Orte religiöser Bildung werden? Ich nehme als Beispiel die Universität. Es werden Lehren, Theorien, Methoden gelehrt. Wenn Praxis gelehrt wird, dann die Praxis der Vermittlung, selten aber die der religiösen Selbstgestaltung. Angehende Pfarrer und Pfarrerinnen lernen zu wenig spirituellen Benimm. Sie lernen etwas über das Wesen des Gebetes, sie lernen keine Formen des Betens. Der Korrespondent der universitären Theologie ist die Wissenschaft, nicht die Kirche. Darum ist sie oft auch so langweilig und optionsfrei. Unsere angehenden Pfarrer und Pfarrerinnen bräuchten einen Spiritual oder eine Spiritualin, einen Menschen, der sie in ihrer Studienzeit begleitete; der sie kennte; der sie einführte in geistliches Leben. Sie bräuchten Menschen, die sie nicht nur verstehen lehrten, was sie später selber lehren, sondern die sie lieben lehren, was sie lehren sollen. […] Zum ersten Mal stoßen junge Menschen im Predigerseminar auf eine  andere Praxis, das aber ist spät.«32

4. Retraiten
Zunehmend häufig ziehen sich Pfarrerinnen und Pastoren für Zeiten geistlicher Übung in Klöster oder Retraitenhäuser zurück. Auch wenn man darüber schmunzelt, dass »Protestanten gelegentlich Kloster spielen wie in Loccum oder Amelungsborn«33: Es sind dies freie Initiativen Einzelner, die eher zeigen, woran es mangelt, und die den besonderen Schaden heutigen Pastorendaseins – den Unfrieden unter Kolleginnen und Kollegen – nicht heilen, gegebenenfalls sogar noch vertiefen. Es ist gut, geprägte Orte spiritueller Tradition zu haben; es wäre besser, sie auch noch anders zu nutzen als nur jeweils »für sich«.

5. Spirituelle Weggemeinschaften
Eine neue Form »Spiritueller Weggemeinschaft«, zu der sich Gruppen zusammenfinden, ist vom Pastoralkolleg in Thüringen entwickelt worden: Sie verbindet geistlich strukturierte »Oasentage« an verschiedenen Orten (»damit es niemand zu weit hat«34) mit geistlicher Begleitung (»Einzelgespräche zur Beratung des inneren Wegs«) und einer »kleinen Regel« (»Verabredungen zur Stärkung auf dem gemeinsamen Weg«). Diese Regel verpflichtet zu Fünferlei:
-    »Wir praktizieren eine Gestalt geistlichen Lebens im Alltag. Die kann individuell sehr unterschiedlich sein, ist aber auf Beständigkeit aus.«
-    »Wir haben aufeinander Acht und begleiten einander auf dem inneren Weg, soweit es unseren Möglichkeiten und dem Bedürfnis des anderen entspricht.«
-    »Wir beten füreinander.«
-    »Wir kommen zu Oasentagen zusammen.«
-    »Wir bleiben bei dieser Verabredung mindestens für ein Jahr.«
Das ist dem Grundgedanken nach ein Pastoralkolleg der Zelte, gebaut aus den Versprechen Gottes, aus Gebet und Geschwisterlichkeit.
Entscheidender, als zu wissen, wer sie sind, ist es für Pastorinnen und Pfarrer, zu wissen, wo sie sind. Das Hintergrundbild sagt: in der Wüste. Das Bild selber sagt: aber nicht ohne Haut.


Anmerkungen:

1    Gedanken zu einem Gespräch im Ausbildungsausschuss der Landessynode der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers am 29.01.2007.
2    Vgl. in umfassender – medizinischer, psychologischer, soziologischer – Analyse: Alain Ehrenberg, La Fatigue d’Être Soi. Dépression et Société, Paris 1998.
3    F. Steffensky (Hg.), Nicolaigasse. Der Pfarrer und das Pfarrhaus in der Literatur, Stuttgart 2004, S. 14.
4    Dieser Vorbehalt gilt angesichts sehr eigener Entwicklungen in den Kirchen der DDR, die für sich zu betrachten und darzustellen wären.
5    Vgl. J. Halbe, Die dünne Haut der Zelte. Gemeinde als transitorischer Ort – nicht nur in Diensten und Werken, in: WzM 55/2003, S. 92–104.
6    Vgl. H. Hild (Hg.), Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung. Ergebnisse einer Umfrage, 1974 (21975). – Danach im Zehnjahresabstand fortgeschrieben.
7    Vgl. summarisch K.-W. Dahm, Wird das evangelische Pfarrhaus »katholisch«? Zur Rückwanderung zentraler »Pfarrhausfunktionen« an die Person des »Geistlichen«, in: R. Riess (Hrsg.), Haus in der Zeit. Das evangelische Pfarrhaus heute, 1979, 21992, S. 244-257, S. 247f.
8    K.-W. Dahm, aaO, S. 248, spricht von der Konstellation eines »Bündels von Rollen und damit Funktionen«.
9    Vgl. E. Lange, Die Schwierigkeit, Pfarrer zu sein, in: E. Lange u. a. (Hrsg.), Predigtstudien 1973/1974, II.l, 1973, S. 14-33.
10    E. Herms, Was heißt »theologische Kompetenz«?, in: WzM 30/1978, 253-265. Dann: W. Hanssiepen - E. Herms (Hg.), Grundlagen der theologischen Ausbildung und Fortbildung im Gespräch. Reform der theologischen Ausbildung 14, 1993, S. 19ff.105ff. und passim.
11    Vgl. W. Hanssiepen - E. Herms (Hg.), Grundlagen, aaO, S. 20f. 105f.
12    Vgl. ebd., S. 24.107f.113.
13    Oder nur so, wie bei W. Hanssiepen - E. Herms, ebd., S. 244 (Ziffer 4).
14    »Leben im Angebot. Protestantische Orientierung in der modernen Welt«: Schwerpunktthema der 4. Tagung der 8. Synode der EKD, November 1993.
15    Evangelisch-lutherische Kirche in Bayern, Dekanat München (Hrsg.), Das Evangelische München-Programm, Zusammenfassung der Ergebnisse 22.7.1996. – Inzwischen und (trotz erwiesenermaßen enttäuschender Ergebnisse des »München-Programms«) programmatisch: Kirchenamt der der EKD, Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, 2006. Dazu mit Bezug auf das »München-Programm«: Matthias Rein, Wachsen gegen den Trend? Fragen zu Herkunft und Bedeutung eines Leitmotivs des EKD-Impulspapiers »Kirche der Freiheit«, MS (08.11.2006), bes. S. 8–9. Inzwischen vor allem: Günter Thomas, 10 Klippen auf dem Reformkurs der Evangelischen Kirche in Deutschland – oder: Warum die Lösungen die Probleme vergrößern, in: EvTh 67/5, 2007, S. 361–387.
16    Vgl. zum Folgenden J. Halbe, Chancen des Subjekts. Selbstorganisation als Leitungsaufgabe und als Praxis der Befreiung in der Kirche, in: WzM 56/2004, S. 243–258.
17    U. Bröckling, Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement, in: Ders. u.a. (Hg.), Gouvernementalität in der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, stw 1490, Frankfurt/M 2000, S. 131-167, S. 133f.
18    Ebd., S. 162f.
19    Ebd., S. 162.
20    Ebd., S. 137; vgl. 143ff.152ff.
21    Ebd., S. 153.
22    Vgl. z.B. Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), in: K. Bornkamm / G. Ebeling (Hg.), Martin Luther. Ausgewählte Schriften I, Frankfurt/M 1982, S. 238-263, S. 254ff.; Ders., Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können (1526), in: Dies. (Hg.), Martin Luther. Ausgewählte Schriften IV, Frankfurt/M 1982, S. 172–222, S. 174ff.
23    Vgl. Michael Beintker, Rechtfertigung in der neuzeitlichen Lebenswelt. Theologische Erkundungen, Tübingen 1998, bes. S. 155ff.170ff.
24    Karl-Wilhelm Dahm, Frust und Lust im heutigen Pfarrberuf, in: Deutsches Pfarrerblatt 5/2005, http://www.deutsches-pfarrerblatt.d…/de.pfarrerblatt.servlet.Query?mode=article&id=165, S. 3 (Hervorhebung im Original).
25    F. Steffensky, Gott loben, das Recht ehren, Gesicht zeigen. Das Wesen und die zentralen Aufgaben der Kirche, in: Ders., Schwarzbrot-Spiritualität, Stuttgart 2006, S. 53–72, S. 55.
26    K.-A. Bauer – M. Josuttis, Dass du dem Kopf nicht das Herz abschlägst. Theologie als Erfahrung, Breklum 1996, S. 55 mit Anm. 114.
27    Vgl. umfassend K.-A.. Bauer – M. Josuttis, aaO, und s. J. Halbe, Das Pastoralkolleg – ein institutionalisiertes Überraschungsrisiko, demnächst in PTh.
28    Vgl. H. Steinkamp / J. Halbe, »Gemeinde lernen«. Zur Didaktik Praktischer Theologie der Gemeinde, in: Martin Steinhäuser / Wolfgang Ratzmann (Hrsg.), Didaktische Modelle Praktischer Theologie, Leipzig 2002, S. 134–177, bes. S. 167ff.
29    D. Voll, Damit auch Pfarrer zu sich kommen, Neuendettelsau 1982, S. 77 (Hervorhebung J.H.).
30    Vgl. »Ordnungsgemäß berufen«. Eine Empfehlung der Bischofskonferenz der VELKD zur Berufung zu Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung nach evangelischem Verständnis. Texte aus der VELKD 136, 2006, und s. dagegen Ulrich Wilckens, Kirchliches Amt und gemeinsames Priestertum aller Getauften im Blick auf die Kirchenverfassungen der Lutherischen Kirchen, in: KuD 52, 2006, S. 25–57!
31    F. Steffensky, Ist das Pfarrhaus zu retten?, in: R. Riess (Hg.), Haus in der Zeit: Das evangelische Pfarrhaus heute, München, 21992, S. 302–309, S. 305.
32    F. Steffensky, Gott loben, S. 61.
33    Ebd., S. 60.
34    Programmblatt »Spirituelle Weggemeinschaft«, Pfarrer Dr. Matthias Rost, Jacob-Michelsen-Straße 5, 07749 Jena, T: 03641-425352, M: [email protected]. Hier auch das Weitere.             ■

Über die Autorin / den Autor:

Jörn Halbe war von 1981 an Direktor des Predigerseminars der NEK, 1988–1990 OKR als Dezernent für das Erziehungs-, Bildungs- und Schulwesen im Nordelbischen Kirchenamt, 1990–2005 Rektor des Pastoralkollegs der NEK und PEK in Ratzeburg; seit Oktober 2005 im Ruhestand.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 4/2008

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