Die Volkskirche auf dem Markt ist anders als die Volkskirche, die jahrhundertelang am Markt gestanden hat.

Am Markt stand das Gotteshaus neben dem Rathaus und dem Gasthaus. Alle drei, die Kirche, die Obrigkeit, das Volk in der Freizeit mit seinen Wünschen und Trieben haben das Leben auf dem Markt mehr oder weniger stark bestimmt. Die Kirche hat niemals in einem konfliktfreien Raum existiert. Aber sie konnte das konfliktträchtige Leben in der Gesellschaft von ihren eigenen Kraftreserven und Verhaltensvorgaben her weitgehend bestimmen, auch wenn so etwas wie Kirchenzucht uns inzwischen sehr fremdartig erscheint. Die Volkskirche am Markt war der entscheidende Einflussfaktor für das Leben des Volkes auf dem Markt. In der Gegenwart finden noch letzte Nachhutgefechte statt, etwa über Ladenschlusszeiten und Sonntagsruhe; aber die alten Traditionen werden dort nicht durch die Kirchen, sondern durch die Gewerkschaften tatkräftig verteidigt.

Heute hat die Kirche auf dem Markt Angst davor, dort zu stehen, wo sie jahrhundertelang gestanden hat, am Rand des Markes. Und das mit Recht; denn sie hat ihren mehr oder weniger selbstverständlichen Einfluss auf das Marktgeschehen verloren. In einem jahrhundertelangen Prozess, der viele Etappen umfasst, z. B. die Auflösung des landesherrlichen Kirchenregiments, die Aufklärung mit der Proklamation von Religions­freiheit, Migrationen, Emanzipationswellen, ist sie ein Teil des Marktgeschehens geworden.

Das bedeutet vor allem: Sie steht in Konkurrenz mit anderen Heilsangeboten wissenschaftlicher, politischer, therapeutischer, religiöser, esoterischer Art. Sie kämpft um Besitzstandswahrung im Blick auf rechtliche Privilegien. Sie sorgt sich darüber, ob sie ihr heilsames Wirken für die Gesellschaft im bisherigen Umfang fortsetzen kann. Sie leidet unter finanzieller Verknappung und vielleicht unter geistlicher Verarmung. Auf jeden Fall gilt: Ihre Position außerhalb des Marktes, die eine Stellung oberhalb des Marktes gewesen war, ist nicht mehr zu halten. Sie muss um Marktanteile kämpfen und steht vor der Frage, welche Chancen sie hat, welche Kräfte ihr zur Verfügung stehen, welche Methoden sie dabei einsetzen soll.

Ganz deutlich will ich zu Beginn festhalten: Die Volkskirche auf dem Markt braucht vor ihrer neuen Position keine Angst zu haben. Denn die Gemeinde Jesu Christi hat allerfrüheste Erfahrungen mit dieser Stellung. Sie hat sich auf dem weltanschaulichen Markt der Antike, der gewiss noch pluralistischer war, durchgesetzt. Sie ist auf dem Markt so stark geworden, dass sie sich an den Rand des Marktes zurückziehen konnte. Diese Zeit ist vorbei. Nun gilt es eigentlich nur, die alte Ursprungspower neu zu entdecken.

 

 

I. Wie lebt man in der Volkskirche?

 

Jede Gemeinschaft lässt sich in der Polarität von Zugehörigkeit und Beteiligung erfassen. Ein Fußballverein konstituiert sich durch eine Mitgliederschar, die einen finanziellen Mitgliedsbeitrag leistet, zwar in den meisten Fällen nicht selber sportlich aktiv wird, aber doch regelmäßig zu den Spielen ihrer Mannschaft erscheint. Auch für die Kirchen hat die Kombination von Zugehörigkeit und Beteiligung in der Vergangenheit eine fundamentale Rolle gespielt. Zu erinnern ist an die Sonntagspflicht im römischen Katholizismus, aber auch an den selbstverständlichen Kirchgang in Reformation und Orthodoxie. Erst im Pietismus ist die Norm des sonntäglichen Gottesdienstbesuchs aufgelöst worden, zunächst mit dem Angebot anderer religiöser Gesellungsformen. Inzwischen ist auch in der römisch-katholischen Kirche ein starkes Absinken der Gottesdienstbesucherzahlen wahrzunehmen.

In den Landeskirchen kann man verschiedene Formen der Beteiligung unterscheiden. Stark ist sie zum Teil noch in der Diaspora, durch individuelle Familienprägung und auch in verpflichtenden Rollen, wie bei Mitgliedern des Kirchenvorstands oder den Konfirmanden. Regelmäßig finden sich immer noch viele Kirchenmitglieder zu den Festgottesdiensten ein. Eine gelegentliche Beteiligung findet statt im Rahmen von Kasualpraxis und zum Kirchentag. Schließlich gibt es Grenzformen der Mitgliedschaft ohne Beteiligung am religiösen Leben. Es gibt hauptamtliche Mitarbeiter in der Verwaltung und an anderen Stellen, die der Landeskirche gar nicht mehr angehören. Es gibt Freizeitkontakte, wie bei Seminarangeboten, Veranstaltungen der evangelischen Akademien oder auch bei der Seelsorge im Krankenhaus.

Der wichtigste Indikator dafür, dass das alles auch mit der Marktsituation zu tun hat, ist die Aufkündigung der Mitgliedschaft aus Gründen der Kirchensteuerersparnis. Es geht dabei nicht, wie die meisten versichern, um einen Wechsel im Glauben, sondern um Kalkulationen des Steuerberaters. Von kirchlicher Seite müsste man freilich erwarten, dass die Unmöglichkeit, aus der Kirche wie aus einem Verein auszutreten, stärker betont wird. Wer einmal durch die heilige Taufe in den Leib Christi integriert ist, kann aus der Gemeinde der Heiligen nicht einfach aussteigen.1 Die Freiheit zum Kirchenaustritt mag aus staatkirchenrechtlichen Gründen zu respektieren sein. Aber die Kirche nimmt das Taufgeschehen nicht ernst, wenn sie nicht schon bei der Kindertaufe Eltern und Paten darauf hinweist, dass dieses sakramentale Geschehen durch zivilrechtliche Akte nicht mehr aus der Welt zu schaffen sein wird.

Trotzdem bleibt festzuhalten: Die neue Situation, in der die Volkskirche auf dem Markt sich befindet, enthält eine evangelische Offenheit für individuelle Lebenswege und individuelle Lebenslagen. Die Veränderungen, die dabei ablaufen, verdanken sich nicht immer individuellen Entscheidungen. Der Umzug vom Land in die Stadt, wie er verstärkt im 19. Jahrhundert begonnen hat, war von Anfang an verbunden mit einem Wechsel aus dem kirchlichen Milieuzwang zum unkirchlichen Milieuzwang. Die Kongruenz zwischen Zugehörigkeit und Beteiligung, wie sie früher geherrscht hat, ist deswegen evangelisch zu nennen, weil sie einen Freiraum für die religiöse Entwicklung eröffnet hat. Und natürlich auch, weil sie den Zwang zur Heuchelei, den das volkskirchliche System unvermeidlich ausgelöst hat, inzwischen gelockert hat.

Wir leben in einer Situation, die jedenfalls in dieser Hinsicht auch Chancen enthält. Die Zugehörigkeit zur Volkskirche ist immer noch groß, wenn auch schwankend. Es gibt Latenzen zum Austritt hin, aber in bestimmten Situationen gibt es auch Impulse zu einer neuen Beteiligung. Meine Einschätzung der Volkskirche hat sich in den Zeiten der Friedensbewegung sehr stark zum Positiven verändert. Dort waren es die Kirchen, die sehr viel mehr als andere Gruppen, als Gewerkschaften, als Parteien, als einzelne Verbände, Menschen zum Protest gegen die Aufrüstung mit Massenvernichtungsmitteln auf die Straße gebracht haben. Und ähnlich sind die Erfahrungen, die Gemeinden machen, wenn sie sich für einen begründeten Fall von Kirchenasyl einsetzen. Dann bieten auf einmal Zeitgenossen eine Mitarbeit an, die man lange nicht im Gottesdienst und vielleicht gar nicht in Gemeindegruppen gesehen hat.

Insgesamt muss man sagen: Die Zugehörigkeitsmuster sind in den meisten Fällen von der neuen Marktlage bestimmt. Äußere und innere Mobilität verändern die christlichen Biographien. Während früher der Lebensweg zwischen Kindertaufe und kirchlicher Beerdigung einigermaßen spannungslos verlief, eventuell sogar im selben Dorf, in derselben Kirchengemeinde, sind heute die Lebenswege sehr viel bunter, sehr viel verwirrter und verwirrender, aber insgesamt doch vielleicht auch lebendiger. Was in der Volkskirche zum Nachdenken veranlassen sollte, ist ein Tatbestand, den man in der soziologischen Forschung ermittelt hat.2 Die meisten Karrieren, die in esoterische Gruppen führen, beginnen in den Kirchengemeinden. Menschen, die Kontakt mit dem Heiligen suchen, wenden sich sehr häufig zunächst einmal in die lokalen Zentren, die die biblische Tradition der Gottesbegegnung vermitteln wollen. Sie finden dort eine Theologie und eine mehr oder weniger offene Gemeinschaft, aber das, was sie eigentlich suchen, die religiöse Erfahrung, taucht dort sehr zurückhaltend, in geringer Dosierung auf. Der nächste Schritt führt dann meist in die Psychoszene mit aufregenden Erlebnissen bei der Selbstwahrnehmung und beim Kontakt mit anderen. Aber auch das ist noch nicht, was diese Menschen suchen. Erst in esoterischen Gruppen, die ja in vieler Hinsicht und manchmal in merkwürdiger Verpackung auch alte christliche Traditionen verwalten, finden sie dann Möglichkeiten, durch spirituelle Techniken den methodischen Kontakt mit der überweltlichen Macht zu gestalten. Alle manchmal auch notwendige Kritik gegenüber esoterischen Gruppen sollte die Landeskirchen nicht vergessen lassen, dass ihr in dieser Konkurrenz ein Spiegelbild der eigenen Defizite begegnet.3 An dieser Stelle kann sie lernen, dass sie die Lebenskräfte, von denen die biblische und die reformatorische Tradition redet, noch längst nicht ausgeschöpft hat.

 

 

II. Wovon lebt die Volkskirche?

 

Auf dem Markt herrscht uneingeschränkte Konkurrenz von höchst unterschiedlichen Interessengruppen. Warenhäuser, Betriebe, Hilfsorganisationen, politische, therapeutische, wissenschaftliche und religiöse Gruppen – alle machen sie Angebote für das Leben der anderen, um selbst am Leben zu bleiben. Was setzt die Volkskirche ein, um in dieser Situation zu bestehen und eventuell gar neue Marktanteile zu gewinnen? Früher hat man das, was in den Konkurrenzkonflikten passiert, einen Kampf um die Seele genannt.

 

 

II.1 Marktförmige Faktoren

 

Als Organisation sind die Landeskirchen in einem hohen Maß ausdifferenziert auf den verschiedensten Ebenen. Sie arbeiten mit einem hoch entwickelten juristischen und bürokratischen Apparat. Das wird nur kritisieren, wer nicht im Kosovo und in Afghanistan gelernt hat, wie wichtig solche Strukturen für den Bestand einer Gesellschaft sind. Entwickelt hat man in den Landeskirchen ein ausgefeiltes ökonomisches System, das für den Finanzausgleich zwischen den Gemeinden und für die Bezahlung einer vielschichtigen Mitarbeiterschaft sorgt, das freilich mit seiner stark zentralistischen Struktur auch besonders anfällig für ökonomische Krisen ist. Eine intensive Tagungs- und Beteiligungskultur lädt auch Fernstehende immer wieder zur Teilnahme ein. Das ausgeprägte Interesse an Kundenwünschen und Mitarbeiterzufriedenheit bezeugen all jene Befragungen, die seit mehreren Jahrzehnten laufen. Wobei man freilich hinzufügen muss, dass die nach außen gerichtete Frage nach der eigenen Identität zunächst nichts anderes als die eigene Identitätskrise verrät und dass die von den Pfarrervereinen angestoßene Untersuchung zur Mitarbeiterzufriedenheit im Licht der biblischen Tradition zumindest merkwürdig erscheint.

Auch in dem, was man heute die »Philosophie« einer Organisation nennt, ist die Volkskirche gut bestückt. Sie arbeitet auf der Basis einer hoch spezialisierten Theologie, die lange Zeit führend war im historischen und hermeneutischen Wissenschaftsfeld. Immerhin ist sie jetzt noch innovativ im Zugriff auf Entwicklungen, die in anderen Forschungsfeldern laufen. Zu erinnern ist an die Rezeption von Psychotherapie und Soziologie, die die Arbeit innerhalb der praktischen Theologie sehr stark beeinflusst haben. Auch in dieser Hinsicht ist die Volkskirche auf dem Markt, wie man heute zu sagen pflegt, gut aufgestellt. Ob das alles einer religiösen Gemeinschaft zum Bestehen von Krisen oder gar zum Wachstum verhilft, ist freilich zweifelhaft. Dass die missionarischen Aktivitäten, wie sie diese Organisation mit Hilfe ihrer Theologie immer wieder versucht, so wenig ausrichten, könnte die Vermutung stützen: Wir planen zu viel und wir wissen zu viel, um den Kampf um die Seelen erfolgreich  gestalten zu können.

 

 

II.2 Markttranszendente Felder

 

Die Organisation, als die sich die Volkskirche auch darstellt, umfasst Felder, die mit den gängigen Kategorien des Marktes nicht zureichend zu erfassen sind. Ja, die Theologie in dieser Organisation behauptet, dass die Volkskirche erst durch die Arbeit auf diesen Feldern zur Kirche wird. Dabei geht es um das, was man herkömmlich als die Frömmigkeitspraxis dieser religiösen Gemeinschaft bezeichnet.

In der Volkskirche gibt es Menschen, die beten. Mit diesem Handeln nehmen sie Einfluss auf Gott und die Welt, in einem Ausmaß, das man empirisch nicht zu fassen vermag. Weder ist die Zahl der ernsthaft Betenden durch empirische Befragungen genau zu ermitteln, noch kann man den Erfolg dieser Tätigkeit durch ein Effizienzkriterium eindeutig bestimmen.

Dasselbe gilt von all denen, die regelmäßig die Losungen oder die Bibel lesen. Sie vollziehen damit eine alltägliche Bestimmung des eigenen Lebens durch heilige Texte und immunisieren sich auf diese Weise gegen den starken Einfluss von Moden und Zeitgeistströmungen, der Menschen in der modernen Gesellschaft von allen Seiten erreicht.

Das gilt erst recht für all jene, die einen Gottesdienst feiern. Sie gehen aus dem Markt heraus. Sie begegnen der Macht des Heiligen. Und kehren dann, gestärkt durch diese Begegnung, auf den Markt zurück. Was bedeutet dieser Vorgang für die Welt des Marktes, dass Menschen ihn von Zeit zu Zeit auf ganz unterschiedliche Weise verlassen? Was bedeutet das für die Machthaber auf dem Markt, für die Manager der großen Unternehmen, für die Politiker? Was bedeutet das für die Teilnehmer auf dem Markt, für die Geschäftsleute, die Handwerker, die Angestellten, Beamten? Und was bedeutet das für all jene, die von dem Grundgeschehen des Marktes ausgeschlossen bleiben, die als Arbeitslose und Rentner und in vielen anderen Formen weder an der Produktion noch am Konsum ausreichend beteiligt sind?

Derartige Emigrationen aus dem Geschäftsbetrieb gibt es auch sonst. Zu denken ist vor allem an den Kulturbereich und an den Sport. Aber nicht nur die gegenwärtig laufende Fußball-Weltmeisterschaft demonstriert, wie stark auch diese Bereiche von den Gesetzen des Marktes dominiert sind. Die Eigenart der Volkskirche besteht in ihrem Kern darin, dass sie nicht nur kulturelle Erlebnisse und moralische Werte vermittelt, sondern auch einen Zugang eröffnet, der sich der Verfügbarkeit des Marktes entzieht. Für Kulturevents kann man werben. Stars der verschiedensten Art kann man kaufen. Die Arbeit im Kontakt mit dem Heiligen bleibt der ökonomischen Kalkulation in fast jeder Hinsicht entzogen.

Die Volkskirche lebt davon, dass sie auf den Frömmigkeitsfeldern des Glaubens zur Kirche wird. Das kann man schon in der Architektur erkennen. Das Landeskirchenamt, in dem sich die Organisation darstellt, ist ein Verwaltungsgebäude, in dem sich auch eine Kapelle befindet. Eine Kirche aber steht heute noch in fast jedem Dorf. Dort ist das Zentrum des Glaubens. Nur dort, nicht in den Ausschüssen, nicht in den Gremien, nicht in den zahlreichen Tagungsstätten. Kirche lebt als Kirche im Dorf, als Kirche am Markt, wo sich heute neben dem Rathaus und den Gasthäusern eine Vielzahl von Warenhäusern angesiedelt hat.

Die Grundfrage für die kirchliche Existenz in der Zukunft wird also sein: Wie bewegt man Menschen auf dem Markt dazu, vom Markt her den Weg in die Kirche zu finden? Früher sorgte dafür ein sozialer Druck, der sich teils in gesellschaftlichen Normen, teils auch in familiären Konventionen niedergeschlagen hatte. Nicht ohne Grund hatte freilich die Theologie in diesem Zusammenhang auch immer von Erwählung und Berufung geredet. Dass jemand zur Kirche Jesu Christi findet, das verdankt sich niemals allein sozialen Konstellationen, sondern setzt ein Einflussgeschehen voraus, das sich wiederum der empirischen Erfassung wie der sozialpsychologischen Bemühung entzieht.

Deshalb muss man mit einiger Distanz all jene kirchlichen Versuche betrachten, die auf dem Markt mit den Methoden des Marktes operieren wollen. Ich erinnere an die Werbekampagnen durch professionelle Agenturen. Überall gibt es Sonderangebote, die den Zugang zum religiösen Leben erleichtern sollen. Was Karl der Große im angeblich so finsteren Mittelalter gefordert hat, dass eine Kindertaufe nur in Frage kommt, wenn Eltern und Paten das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser sprechen können4, ist auch heute noch sehr aktuell. Immer wieder kommt es zu Strategien der Anpassung an die Kundenwünsche, vor allem was die Säkularisierug des Lebensstils betrifft. Auch Formen der Neophilie kann man immer wieder beobachten. Die einen locken mit dem neuen Persil, die anderen versprechen den neuen Gottesdienst. Zu alledem muss man im marktwirtschaftlichen Jargon auch sagen: Eine Firma, die ihre erstklassigen Waren andauernd verramscht, bringt sich auf die Dauer um ihren guten Ruf. Noch immer ahnen zahlreiche Zeitgenossen, dass eine lebendige Beziehung zum heiligen Gott nicht billig zu haben ist.

 

 

III. Wie bleibt die Volkskirche am Leben?

 

Alle Arbeit im kirchlichen Raum verfolgt das eine Ziel: Menschen auf dem Markt so zu erreichen, dass sie sich auf die Kirche am Markt einlassen können. In diesem Zusammenhang ist eine doppelte Abgrenzung nötig. Man darf vor dem Markt und den darin waltenden Gesetzen nicht die Augen verschließen und sich in eine Sonderwelt zurückziehen. Man darf sich aber auch den Gesetzen des Marktes nicht einfach unterwerfen. Denn die Wirklichkeit des Heiligen ist eine Macht, die sich kirchlich nicht einsperren, aber auch weltlich nicht domestizieren lässt. Wie sich diese Stellung im Grenzbereich zwischen Kirche und Welt inhaltlich umschreiben lässt, sollen einige zentrale Alternativkonstellationen aufzeigen.

 

 

III.1 Bedürfnisse und/oder Bedarf

 

Die Arbeit der Kirche auf dem Markt setzt grundsätzlich eine Antwort auf die Frage voraus: Womit rechnen wir bei unserem Handeln? Als Antwort bieten sich zwei Optionen an, die eine relative Alternative darstellen. Entweder orientieren wir uns an den Bedürfnissen der Menschen oder an ihrem Bedarf. Entweder arbeiten wir weiter im Rahmen des Satzes, den man auf Pfarrkonferenzen immer wieder hört: Das kommt gut an. Oder wir nehmen das ernst, was in einer Formulierung von P. Tillich so lautet: Das geht die Menschen unbedingt an.

Bedürfnisse sind Wünsche, die Zeitgenossen in den zahlreichen Befragungen äußern. Sie verweisen auf die Schwierigkeiten, die sie haben. Sie äußern Kritik gegen die Pfarrerschaft, die Kirche, gegen die Religion allgemein. Ein orientierendes Leitbild im kirchlichen Jargon ist der moderne Mensch, der einen guten Gott sucht, der an stellvertretende Opfer nicht glauben kann, der frei, unbeschwert und in Wellness leben will.

Wer sich nur an solchen Aussagen orientiert, der verfehlt unvermeidlich das, was die Menschen in unserer Zeit wirklich brauchen. Sie müssen die Illusion verlieren, dass es im Leben nur Glück gibt. Sie müssen die Angst wahrnehmen lernen, die hinter ihren Wünschen steckt. Sie müssen aufgeben, was H.-E. Richter die »Unfähigkeit zu leiden«5 genannt hat. Vor allem benötigen sie gegen alle eingebildete und durchaus reale Schwachheit die Kraft Gottes, die nach Paulus das Evangelium vermittelt (Römer 1,16).

Die Alternative zwischen Bedürfnissen und Bedarf ist durchaus relativ. Was die Menschen wollen, das zeigen uns allgemeine Befragungen und individuelle Gespräche. Was die Menschen um Gottes willen brauchen, das erfahren wir aus der Bibel und auch aus den Bekenntnisschriften. Das Evangelium ist keine Aktion zur Bedürfnisbefriedigung, sondern jene Kraft zur Lebenserneuerung, die alle Bedürfnisprobleme weit überholt.

 

 

III.2 Annahme und/oder Buße

 

Das älteste Evangelium hat die Botschaft Jesu programmatisch so zusammengefasst: »Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt in dem Evangelium!« (Markus 1,15). Das scheint im Widerspruch zu stehen zu dem Stichwort »Annahme«, das in den letzten Jahrzehnten die kirchliche Arbeit in vieler Hinsicht geprägt hat. Es stammt aus der klinischen Seelsorge nach Rogers. Die bedingungslose Annahme des Klienten ist der Ansatzpunkt für das Ziel, seine emotionale Öffnung zu erreichen und seine Entwicklung zu fördern. Natürlich kann man sich dabei auch auf die biblische und die reformatorische Tradition berufen. Jesus hat die Sünder angenommen. Im Rechtfertigungsgeschehen geht es grundlegend um die Annahme des gottlosen Menschen.

Die Annahme, die das Evangelium meint, ist freilich mehr als das bedingungslose Akzeptieren des Anderen mit all seinen Eigenarten. Sie schließt immer auch eine positive Veränderung beim Anderen ein, was ja letztlich auch Rogers intendiert hat. Sicher ist das Wort »Buße« heute kaum noch zu retten. Es ist von Modellen der Gesetzlichkeit besetzt, von Johannes dem Täufer, der im Unterschied zu Jesus kein »Fresser und Weintrinker« (Matthäus 11,19) war, und von den Bußübungen, die eine christliche Askese in vielfältigen Formen entwickelt hat.

Buße im biblischen Kontext ist ein Befreiungsgeschehen und bildet deshalb den Eingang in den Raum des Evangeliums. Man kann sich dieses Verständnis an Aussagen deutlich machen, die von der modernen Psychologie aus sehr merkwürdig erscheinen mögen. Zur Nachfolge Jesu gehört auch »das Hassen von Vater und Mutter« (Lukas 14,26). Dieser Satz ist missverständlich, wenn man ihn emotionspsychologisch interpretiert. Schon das Gebot zur Elternehrung schließt ein solches Verständnis aber grundsätzlich aus. Für das vormoderne Erleben heißt Hass zunächst nur Abwendung von Menschen oder von einer Sache – Aversion wegen der Attraktion, die Jesus repräsentiert und der man sich in Liebe zuwenden soll. In dieser Wende geschieht die Erfüllung der Zeit und der Anbruch des Reiches Gottes. Etwas Ähnliches soll aber in fast allen Therapieformen vor sich gehen, die Abwendung von den Eltern als Befreiung von ihnen und ihren immer auch schädigenden Einflüssen. Buße ist so gesehen ein heilsames Befreiungsgeschehen, von der Macht der Eltern, von den Leitbildern der globalisierten Gesellschaft, auch von den Verheißungen und den Drohungen, die die Wirtschaft bereit hält. Buße führt in die Freiheit gegenüber dem Markt und seinen Entwicklungen. Es sollte nachdenklich machen, dass auch die Seelsorger/innen eine solche Freiheitsbewegung heute meistens in der Therapie lernen und nicht in einem Geschehen, das grundsätzlich zum Glauben gehört.

 

 

III.3 Erlebnisse und/oder Erfahrung

 

Die Kirche am Markt will Menschen auf dem Markt anlocken. Sie sollen sich auf das, was in der Kirche passiert, einlassen. Wie bewegt man Menschen dazu, diesen Schritt zu beginnen?

Die Methode, die marktgängig ist, hat der Pfarrerssohn G. Schulze als Angebot von Erlebnissen charakterisiert.6 Erlebnisse müssen schnell konsumierbar und leicht verdaulich sein. Sie dürfen nicht langweilig wirken, sondern müssen immer neue Sensationen vermitteln. Sie sollen Spaß machen und dürfen die mühsam erworbene Identitätsbalance nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Sie müssen vor allem »in« sein und dürfen die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht attackieren.

Viele Programme zur Gottesdienstreform haben den Erlebniswert des Geschehens zu steigern versucht, durch eine abwechslungsreiche Dramaturgie, durch Beschleunigung des Tempos, durch Beteiligung von Gemeindegliedern, durch eine moderne Gestaltung von Musik und von Sprache, durch eine differenzierte Zielgruppenorientierung.

Dagegen ist natürlich gar nichts zu sagen, wenn der entscheidende Unterschied beachtet wird. Erlebnisse sind etwas anderes als Erfahrungen. Der Gottesdienst hat immer Alltagserfahrungen angesprochen und in Glaubenserfahrungen geführt und hat dadurch Menschen eine neue Lebensperspektive eröffnet. Die Differenz zwischen Erlebnis und Erfahrung lässt sich formelhaft so beschreiben: Erlebnisse konsumiert man, Erfahrungen verändern einen. Das gilt für die Kunst – Schlager wirken anders als ein Volkslied oder ein Kunstlied. Das prägt auch die Begegnung mit anderen Menschen, etwa im Unterschied zwischen einem one-night-stand und einer ernsthaften Beziehung. Und erst recht gilt das für die Begegnung mit dem heiligen Gott, der sich nicht im Schnellverfahren als fast-food-Ware verbrauchen lässt. Deshalb benötigt der christliche Gottesdienst die Einbettung in die alltägliche Lebenspraxis. Den one-hour-stand am Sonntagmorgen kann man in der Regel unbeschadet überstehen. Ernsthafte Veränderungen beruhen meistens auf der Erfahrung von Lebenskrisen. Und die dort gewonnene Einsicht in die Brüchigkeit und Fraglichkeit des eigenen Daseins will nicht nur vorübergehend betreut, sondern sollte in die tägliche Begegnung mit der Macht des Heiligen übergeführt werden.

 

 

III.4 Weltlichkeit und /oder Heiligkeit

 

»Pfarrer sind auch nur Menschen«. Viele hören diesen Satz als Kompliment. Aber sehr häufig klingt darin auch ein Unterton der Enttäuschung, ja der Kritik an. Wenn Pfarrer wirklich nur Menschen sind – lohnt es sich dann, sich auf das, was sie andauernd sagen, selbst einzulassen?

Der Gottesdienst der Christen findet statt im Alltag der Welt, hat E. Käsemann im Anschluss an Paulus gesagt. Und D. Bonhoeffer hat mit Recht davor gewarnt, sich als Christ zu einem Heiligen stilisieren zu wollen. Deshalb sollen wir auf der Kanzel »weltlich von Gott reden«. Dieses Postulat von Weltlichkeit reicht inzwischen so weit, dass das allgemeine Priestertum aller Gläubigen in der Praxis so ausgelegt wird: Nicht alle Christen sind zum priesterlichen Leben berufen, sondern alle Pfarrer und Pfarrerinnen dürfen durch und durch weltlich leben.

Wie will man Menschen vom Markt in die Kirche holen, wenn es dort nur das gibt, was auf dem Markt schon herrscht, die Wirklichkeit der Marktgesetze, allenfalls garniert durch ein bisschen Moral? Wer Menschen vom Markt holen und zum Gang in die Kirche verführen will, muss deutlich machen, was man jenseits des Marktes im Glaubensraum des Evangeliums finden kann. Attraktiv wird der Weg in die Kirche nur dann, wenn es dort eine Alternative gibt, die stärker ist als die Gesetzlichkeit, die den Markt beherrscht. Dass die alternativen Lebensentwürfe in der vorigen Generation sich nicht mehr oder nur höchst indirekt religiösen Traditionen verdanken, dürfte mit ein Grund für die Irrelevanz aller kirchlichen Werbemaßnahmen sein.

In der Sprache von Bibel und theologischer Tradition steht fest: Dort, wo Kirche ist, findet man nicht nur eine Organisation mit ordentlicher Theologie und nicht nur eine Milieu voller netter Menschen, dort kommt es vielmehr zur Begegnung mit dem heiligen Gott. Und diese Begegnung verändert wie jede intensive Erfahrung das Leben. Denn das Evangelium, das dort laut in die Herzen gepflanzt wird, ist mehr als eine theologische Lehre oder ein frommes Gefühl. Das Evangelium ist für Paulus in seiner berühmten Definition »Kraft Gottes«, die altes Leben verändert und neue Lebensmöglichkeiten eröffnet. Das Evangelium ist keine offizielle Doktrin und keine Herrschaftsmeldung, sondern ein »Gerücht« (Markus 1,28 in der älteren Luther-Übersetzung). Der Friede, von dem es redet, ist »höher als alle Vernunft« (Philipper 4,7) und appelliert nicht nur an das Bewusstsein, sondern verändert Herz und Gewissen. Christen sind Heilige, nicht als religiöse Heroen oder moralische Helden, sondern als »elende, arme, sündige Menschen«, die aus der Quelle des Lebens jeden Tag neue Kraft schöpfen können und deshalb für andere auf dem Markt, der andauernd Menschen beschädigt, zum Christus werden.

Die große Alternative, die auf dem Markt heute zu melden ist, steht im Widerspruch zu allem, was der Markt andauernd behauptet. Die Bedürfnisse, die dort proklamiert werden, suggerieren: Wir brauchen mehr Geld, mehr Gesundheit, mehr Arbeit, mehr Spaß. Dagegen setzt das Evangelium die menschenfreundliche Botschaft, die gerade im Zeitalter der Globalisierung lebenswichtig ist: Ihr braucht mehr Kraft, mehr Mut, mehr Geduld, mehr Freiheit. Lasst euch euer Leben durch die Veränderungen auf dem Markt nicht verderben, sondern lebt in der Freiheit der Kinder Gottes – durch den Frieden mit Gott!

 

 

Vortrag auf der Jahrestagung des West­fälischen Pfarrervereins am 19. Juni 2006 in Gütersloh.

 

Anmerkungen:

 

1    Vgl. M. Josuttis, Heiligung des Lebens. Zur Wirkungslogik religiöser Erfahrung, Gütersloh 2004, 240ff.

2    Vgl. H. Stenger, Die soziale Konstruktion okkulter Wirklichkeit. Eine Soziologie des „New Age“, Opladen 1993, 204ff.

3    Vgl. M. Josuttis, Esoterik in pastoraltheologischer Sicht, EvTh 65, 2005, 58ff.

4    Vgl. A. Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 2. Auflage Darmstadt 2000, 469ff.

5    Vgl. H.E.Richter, Der Gotteskomplex. Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen, Reinbek 1979, 127ff.

6    G. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt 1993.

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2006

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