Jede(r) scheint genau zu wissen, was eine Kirche ausmacht. Ob in den Zeichnungen der Kinder, den Videoclips der Jugendlichen oder den Karikaturen der Erwachsenen – immer wieder werden altehrwürdige Steinbauten mit hochaufragenden Türmen, spitzbogigen Portalen und buntverglasten Fenstern abgebildet. Doch wie nahmen und nehmen einzelne Menschen eine Kirche wahr? Welche Bedeutung(en) schreiben sie jeweils »sakralen« Bauten zu? Und wie eindeutig ist unser Bild, sind unsere Bilder von Kirche wirklich?

 

 

»Sakral« und profan

 

Vielerorts lädt eine turmreiche Stadtsilhouette zum Rundgang durch die örtlichen Kirchenbauten, so auch im thüringischen Altenburg. Auf dem Weg zur Altstadt verspricht hier ein romanisch gestalteter Turm eine »würdige« Kirche. Diese entpuppt sich allerdings auf den zweiten Blick als ganz profanes Postgebäude, das man – wie viele öffentliche Bauten der Zeit um 1900 – mit klassischen »sakralen« Formen geschmückt hat: Poststellen, Bahnhöfe, Hallenbäder und Theater als »Kathedralen des Fortschritts«.

 

Malerisch an einem Teich gelegen, erinnert ein Turm an einen italienischen Campanile. Doch beim Nähertreten zeigt sich keine Kirche, sondern der klassizistische »Turm der Wasserkunst«, eine ausgeklügelte Wasser-Pump-Konstruktion aus dem Jahr 1844. Seine kirchenähnliche Form erhielt er, wie manches Spritzenhaus, durch eine ganz weltliche technische Notwendigkeit.

 

Aus den Gassen der Altstadt erheben sich weithin sichtbar die Wahrzeichen Altenburgs, die »Roten Spitzen«: Zwei Backsteintürme einer Klosterkirche des 12. Jahrhunderts. Eine vollständige mittelalterliche Kirchenanlage sucht man allerdings vergeblich, da sich von ihr nur Reste erhalten haben. Übrig blieben vor allem die historischen Türme, die seitdem u. a. als Museum für mittelalterliche Plastik dienten, so wie viele ehemalige Kirchenbauten in der Geschichte zu Schule oder Wohngebäude »umgenutzt« wurden.

 

Etwas abseits des Marktplatzes findet sich schließlich eine »echte« Kirche, die 1905 eingeweihte Brüderkirche. In ihrem Inneren birgt sie verschiedenste Nebenräume – einen Raum unter der Empore kann man gar durch verglaste und versenkbare Trennwände der Erbauungszeit abteilen – und wird so heute auch für Akademie oder Ausstellung genutzt. Einer von vielen Kirchenbauten, die bereits bei ihrer Entstehung auch für vielfältige neben- und außergottesdienstliche Veranstaltungen gedacht waren.

 

Dieser Rundgang ließe sich andernorts fortsetzen, teils sogar umdrehen: An manchem reformierten Betsaal des Barock, an manchem schlichten Kirchsaal der Nachkriegszeit, an manchem nüchternen Gemeindezentrum der Siebzigerjahre und an manchem modernen Gottesdienstraum freikirchlicher Gemeinschaften geht man zu Unrecht achtlos vorüber, da sie – bewusst oder notgedrungen – auf jede vordergründig »sakrale« Anmutung verzichten.

 

Was also sind typische unverwechselbare Erkennungsmerkmale eines Kirchenbaus? Über Spitzbogen und Gewölbe etwa verfügten in der Gotik auch Burgen und Rathäuser, die sich allerdings nur selten bis heute erhalten haben. Denn vor allem Kirchen bewahrten gewisse Bau- und Schmuckformen durch die Jahrhunderte sowie sich wandelnde Geschmäcker, Konfessionen und Liturgien und füllten sie mit immer neuem Leben. So dass manche dieser Elemente als typisch kirchlich wahrgenommen, gedeutet und weitergegeben wurden, so dass einige »sakrale« Formen für profane Bauaufgaben, einige profane Formen wiederum für kirchliche Bauaufgaben übernommen wurden.

 

 

Emotional und profitabel

 

Um die besondere Wirkung, den emotionalen Marktwert von Kirchen weiß auch die Werbung und bedient sich gerne ihrer Wiedererkennbarkeit. Eine Kölner Imbiss-Bude etwa spielte mit der Nahaufnahme einer Pommes-Gabel auf die Silhouette des Doms an, eine Kasseler Biermarke trägt die Türme des gleichnamigen Kirchenbaus auf ihrem Etikett und eine Nürnberger Lebkuchen-Fabrik bedruckt ihre weihnachtlichen Schmuckdosen mit historischen Kirchen-Ansichten. Die stadtbildprägende Funktion der Kirchenbauten wird auf die Wiedererkennbarkeit des Produkts übertragen. Ein Prinzip, das sich auch die Institution Kirche gerne zu Nutze macht. Nicht umsonst zieren die jeweiligen Kirchtürme häufig den Gemeindebrief, das Gemeindesiegel und das Werbeplakat der Kirchenmusik.

 

Auch in einem anderen Feld der Alltagskultur dürfen Kirchen nicht fehlen. Was wäre die sonntägliche Rosamunde-Pilcher-Verfilmung ohne die tränenreiche Hochzeit in einer romantischen Dorfkirche. Oder der wieder beliebte Heimatfilm ohne das Gebet der vom Schicksal gepeinigten Mutter in einer malerischen (bayerischen) Barock-Kapelle. Kirchenbauten verkörpern (nicht nur) hier die »heile Welt«, in der die Kirche noch im Dorf steht und zum Leben selbstverständlich dazugehört. Eine nachvollziehbare Sehnsucht, die Kirche selbst alljährlich reich besuchte Weihnachtsgottesdienste beschert.

 

Seit kurzem kann man noch einen Schritt weiter gehen und sich eine »echte« Kirche nach Hause holen: Eine – zu mietende oder zu kaufende – aufblasbare Kirche wertet das heimische Gartenfest auf, verhilft dem Nachtclub zu einer Attraktion oder verleiht der Trauung einen feierlichen Rahmen. Denn so sehr sich die Institution Kirche gegen standesamtliche Trauungen in ihren Räumen sträuben mag, das Monopol auf ihre Bauten hat sie – wenn sie es jemals besaß – in der Realität globaler Marktwirtschaft längst eingebüßt. Was die württembergische Landeskirche ihrerseits nicht daran hinderte, die aufblasbare Kirche zu eigenen Werbezwecken einzusetzen.1

 

Kirchenbauten waren immer auch Macht- und Marktfaktor – ob als profitable Pilgerstätte eines mittelalterlichen Ortes, als Repräsentationsobjekt eines absolutistischen Fürsten, als selbstbewusste Geste eines erstarkenden Bürgertums oder als vorzeigbares Baukunstwerk eines ehrgeizigen Architekten. Verklären wir in unserer heutigen Wahrnehmung etwa die Pracht gotischer Kirchen, wünscht sich doch niemand ernsthaft die Leibeigenschaft zurück, die viele dieser Kunstschätze zu finanzieren half. So haben Kirchenbauten eine hohe emotionale und identitätsstiftende Bedeutung, bieten eine ideale Projektionsfläche für unsere berechtigte Sehnsucht nach Beheimatung, nach – vergangenen oder künftigen – besseren Zeiten.

 

 

»Heilig« und menschlich

 

Hierfür muss heute jedoch niemand eine aufblasbare Kirche mit sich führen, da an öffentlichen Orten – vom Hamburger Hauptbahnhof über das Brandenburger Tor bis zum Einkaufszentrum um die Ecke – immer häufiger »Räume der Stille« bereit stehen. Teils deutlich christlich, teils bewusst werteneutral gestaltet, versprechen sie die kurze Besinnung zwischendurch in besonderer Atmosphäre. Auch Kirchengemeinden ziehen sich aktuell gerne in eigene überschaubare »Räume der Stille« zurück, die Gemeindehaus oder bestehende Kirche »spirituell aufwerten« sollen.

 

Nach Wahrnehmung und Bedeutung kirchlicher Räume sucht und fragt gegenwärtig ebenso die protestantische Theologie. Während der Begriff der »Heiligkeit« lange vereinfachend als typisch katholisch galt, ist er nun auch im evangelischen Bereich wieder salonfähig und findet – als teils fast materiell wirkende Qualität – erneut Eingang in die Diskussion um den Kirchenbau.2 »Heiligkeit« scheint dabei verbunden mit der rein geistlich-liturgischen Nutzung des Bauwerks, das somit in letzter Konsequenz seine (alleinige) Existenzberechtigung aus seiner gottesdienstlichen Funktion beziehen würde.

 

Doch dienen Kirchenräume vielfach (auch) ganz anderen Zwecken3: Die historische Kirche im nordhessischen Willingen etwa, von der evangelischen Kirchengemeinde zugunsten eines theologisch wie gestalterisch moderneren Bauwerks aufgegeben, beherbergt heute eine Kneipe. Die Bielefelder Martini-Kirche, von Kirche (vorerst) aus gottesdienstlicher Nutzung entlassen, gestaltete man aktuell zum Erlebnisrestaurant »GlückundSeligkeit« um. Häufig wird allerdings der Tresen neben der Kanzel, die Event-Gastronomie unter gotisierendem Gewölbe, die weltliche Nutzung eines »geistlichen« Raums als störend und unpassend empfunden. Wie viel der besonderen »Würde« und Ausstrahlung eines Kirchenbaus liegt dabei im Auge des Betrachters?

 

Dieser Frage geht eine zweite Forschungsmeinung4 der aktuellen theologischen Diskussion um Wesen und (Be-)Deutung einer Kirche nach, die sich gegen eine »Heiligkeit« oder Theologie des Kirchenbaus ausspricht. Besonders gestalteter Gottesdiensträume bedarf es demnach nicht um Gottes, sondern allein um des Menschen willen. Angesichts dieses anthropologisch orientierten Ansatzes entspricht es vielleicht Mensch und Bauwerk eher, hier etwa eine lebendige Gaststätte einzurichten, als den Menschen ihre ehemalige Gottesdienststätte durch dauerhaften Leerstand oder gar Abriss endgültig zu entziehen.

 

Zwischen öffentlichen »Räumen der Stille« und profanen Kirchen-(Um-)Nutzungen ringen Kirchengemeinden vielerorts um einen ebenso angemessenen wie lebendigen Umgang mit ihren Bauten. Neben dem Gottesdienst werden Kirchen daher teils auch für Gemeinde-, Sozial- und Kulturarbeit geöffnet, teils für Besuchende in ihren gegenwärtigen Schönheiten und historischen Funktionen erschlossen.

 

In den Spuren (gottesdienstlicher) Nutzungen sieht ein drittes theologisches Denkmodell5 – zwischen der Idee eines »heiligen« Raums und der anthropologischen Herangehensweise – die besondere Bedeutung einer Kirche. Somit sind Spuren, mehr oder minder deutlich, am und im Bauwerk wahrnehmbar und können Betrachtenden beispielsweise kirchenpädagogisch vermittelt werden. Dieser Ansatz wäre allerdings sicher grundlegend falsch verstanden, wollte man damit – wie es aktuell einige geplante radikale Umgestaltungen oder Abrisse versuchen – »Spuren« bewusster Zerstörung rechtfertigen oder adeln.

 

Ob »Heiligkeit«, anthropologische Interpretation oder Spuren vergangener Nutzungen, bereits die leidenschaftlich geführte Debatte bildet ein Wesensmerkmal kirchlicher Räume. Schon die Bibel kennt zum Tempel(bau) verschiedenste Meinungen, von der radikalen Kritik6 bis zum euphorischen Lobpreis7. Und nicht nur reformatorische Gruppierungen stritten (bis aufs Blut) um Bedeutung und Gestaltung von Gottesdienststätten. Angesichts dieser jahrhundertealten theologischen Streitkultur wäre es unverzeihlich, über einzelne Kirchenbauten – aufgrund gegenwärtig schwindender Finanz- und Mitgliederstärke – vorschnell den Stab zu brechen.

 

Denn vielerorts droht aktuell eine Art »Architektur-Darwinismus«: Die »stärksten«, »schönsten« und »wertvollsten« Kirchen mögen sich im freien Spiel der Kräfte alleine durchsetzen. Ein solches Szenario würde aber Kirchenbauten einer gerade unmodernen Stilrichtung, mit weniger kämpferischen Pastor/‑innen, in finanz- und sozialschwachen Stadtteilen sowie auf für Bodenspekulation interessanten Grundstücken ungeschützt lassen und damit viele erst auf den zweiten Blick schöne und wertvolle Baukunstwerke der Vernichtung preisgeben.

 

 

Einnehmend und gastoffen

 

Die besondere Faszination kirchlicher Räume gründet somit auch in der reizvoll zwischen »sakral« und profan changierenden Wahrnehmung ihrer Bauformen, in der unverzichtbar identitätsstiftenden Kraft ihrer Außenwirkung sowie in der streitbar leidenschaftlichen Verschiedenheit ihrer (Be‑) Deutungen. Denn für welche der Sichtweisen, Standpunkte und Meinungen sich jede/r Einzelne, jede Gemeinde und Kirchenleitung entscheiden mag, bergen Kirchenbauten in jedem Fall besondere Schönheiten, besondere Gefühlswerte und besondere Verantwortung.

 

Liegt der Reichtum kirchlicher Bauten daher gerade in ihrer Vielschichtigkeit, verdienen und lohnen diese Bauwerke auch in ihrer Gestaltung, Nutzung und Vermittlung vielfältige offene Formen. Diese können – fachlich angeleitet – von der raumbezogenen liturgischen Neuordnung über die behutsame kirchlich-kommunale Nutzungspartnerschaft bis zu geistlichen Reise-Angeboten8 reichen. Um Kirchenbauten nicht vordergründig als Werkzeuge schneller »Missionserfolge« zu missbrauchen sowie in Substanz und Wirkung zu »verschleißen«, sondern ihre ästhetischen, sozialen, funktionalen und theologischen Potenziale kreativ und nachhaltig zu erschließen.

 

 

Anmerkungen:

 

1     Vgl. u. a. Fischer, Manfred F., Eine »Hüpfburg« als Kirche?, in: Offene Kirchen. Brandenburgische Dorfkirchen laden ein 2004, S. 2; www.inflatablechurch.com.

2     Vgl. u. a. Josuttis, Manfred, Vom Umgang mit heiligen Räumen, in: Klie, Thomas (Hg.), Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen (Grundlegungen. Veröffentlichungen des Religionspädagogischen Instituts Loccum 3), Münster 1998, S. 34–43; Leipziger Erklärung. Nehmt eure Kirchen wahr!, Berlin 2003 (http://www.kirchbautag.de/downloadbereich/downloadmaterial/leipzig.doc); Der Seele Raum geben. Kirchen als Orte der Besinnung und Ermutigung. Texte zum Sachthema der 1. Tagung der 10. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). 22. bis 25. Mai 2003, Leipzig, im Auftrag des Präsidiums der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hg. vom Kirchenamt der EKD, Hannover 2003.

3     Zu Beispielen und Meinungen zur Nutzung kirchlicher Bauten vgl. u. a. das von Dipl.-Theol. Matthias Ludwig und der Verfasserin bereitgestellte »Diskussions-Forum zur Kirchen-Nutzung – www.kirchennutzung.info«.

4     Vgl. u. a. Schwebel, Horst, Von der Kirche in der Stadt zur City-Kirche, in: Ders./Ludwig, Matthias (Hg.), Kirchen in der Stadt, Band 1, Erfahrungen und Perspektiven (Schriften des Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart an der Philipps-Universität Marburg/Lahn – A.1), Marburg 21996, S. 9–22.

5     Vgl. u. a. Raschzok, Klaus, Spuren im Kirchenraum. Anstöße zur Raumwahrnehmung, in: Pastoraltheologie 89, 2000, S. 142–157.

6     Vgl. u. a. 1. Könige 8, 27; Jesaja 66, 1-2.

7     Vgl. u. a. Psalm 26, 8.

8     Vgl. Berkemann, Karin, Spiritueller Tourismus in Sachsen-Anhalt. Potenzialanalyse und Handlungsempfehlungen für eine besondere Reiseform (Tourismus-Studien Sachsen-Anhalt 19), hg. vom Ministerium für Wirtschaft und Arbeit des Landes Sachsen-Anhalt/Referat Tourismus, Magdeburg/Lutherstadt Wittenberg 2006. Die Studie kann kostenfrei bestellt werden unter: Regionaler Tourismusverband »TourismusRegion Wittenberg« e. V., Neustr. 13, 06886 Lutherstadt Wittenberg, 0 34 91/40 26 10, [email protected].

 

Über die Autorin / den Autor:

Dipl.-Theol. K. B., M. A. Jahrgang. 1972. Diplom-Theologin und Magistra der Kunstgeschichte. Freiberuflich forschend, beratend und begleitend bei der Gestaltung, Nutzung und Erschließung (kirchlicher) Bau-Kunst (www.kirchenkunst.info). Beiträge u. a. in: monumente-online, das münster, kunst und kirche. Projekte u. a.: Studie »Spiritueller Tourismus in Sachsen-Anhalt«/Ministerium für Wirtschaft und Arbeit, Sachsen-Anhalt u. a.; Baugeschichtliche Erschließung/Klosterkirche Kassel-Nordshausen; Gestaltungs-/Nutzungsberatung Markuskirche Marburg-Marbach; Bibliografie für UNESCO-Welt-

kulturerbeantrag/Stadt Heidelberg. E-Mail: [email protected].

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2006

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.