Lösen statt Binden

 

Strukturelles

Abgesehen von V. 15, der eine Parallele in Lukas 17,3 hat, ist der Abschnitt Sondergut des Matthäus. Unerlässlich ist die Betrachtung des Kontexts: Voraus geht unserer Perikope das Gleichnis vom verlorenen Schaf mit dem Skopus, dass niemand verloren gehen darf, und hat sich eines der Kleinen verirrt, ist es Aufgabe, sich wie ein Hirt (vgl. Jesus) um das Verirrte zu bemühen. Im Anschluss an unseren Abschnitt wird die Frage nach der Häufigkeit der Vergebungsbereitschaft gegenüber dem Bruder mit »unbegrenzt« beantwortet. Es folgt das Gleichnis vom Schalksknecht, das aus empfangener Barmherzigkeit die Verpflichtung zur Vergebung ableitet.

Schon in Mt. 1, 21 blitzt die richtungsweisende Verheißung auf: »Er wird sein Volk retten von ihren Sünden«, was sich für Matthäus in Jesu Tod bewahrheitet und den Duktus des Evangeliums bestimmt. In Mt 9, 8 ist solche Macht den Menschen gegeben und in Mt 26, 28 gehört die Macht zur Sündenvergebung im Rahmen des Abendmahls der Gemeinde. (Bei Markus und Lukas ist das »zur Vergebung der Sünden« mit der Taufe anstatt dem Abendmahl verbunden.)

Die Verse 15–20 gliedern sich in drei Teile: V. 15–17 eine Gemeinderegel zum Umgang mit der menschlichen Verfehlung, V. 18 das Doppelwort vom Binden und Lösen auf Erden und im Himmel, V. 19c20 das Einswerden in der Gegenwart der Erhöhten.

 

Inhaltliches

In Vers 15 ist die Textbezeugung des »an dir« nicht durchgängig gegeben. Ist das »an dir« sekundär, wird es sich um eine offensichtliche Sünde handeln, die ins Auge fällt und vielen zugänglich ist. Nimmt man stattdessen an, dass das »an dir« ursprünglich ist, so geht es um eine ganz persönliche Verfehlung gegenüber dem Adressaten. Wie es auch sei, soll der dem die Verfehlung ins Auge fällt oder gegen den sie gerichtet ist, die Sache zunächst nicht an die große Glocke hängen, sondern das direkte Gespräch unter vier Augen suchen. Das kann Irritationen in der Gemeinde vermeiden und persönlichen Missverständnissen vorbeugen. Und es dient dem Schutze des Sünders, dessen Würde nicht in den Schmutz gezogen wird, indem mit anderen über ihn getuschelt wird, ohne dass der Betroffene zur Rede gestellt und eine Chance der Entschuldigung oder Korrektur erhält. »Elengchein« bedeutet jemandem eine Sünde vorhalten und ihn zur Umkehr auffordern, also erzieherisch zurechtweisen. »Gewonnen« für die Gemeinschaft – für das Reich Gottes – hat man seinen Bruder, wenn er auf die Vorhaltung hört und sich zurechtweisen lässt, das heißt sein Verhalten ändert.

Misslingt dieser Versuch der Schadensbegrenzung und -bereinigung und lässt sich die Sache damit nicht aus der Welt schaffen, soll man im zweiten Anlauf (Vers 16) einen oder zwei hinzunehmen (vgl. die Zeugenregel Dtn 19, 15), die als Zeugen beitreten und das Gewicht erhöhen.

Bringt auch dies nicht die erhoffte Bereinigung, wird der Vorfall im dritten Anlauf (Vers 17) öffentlich, in dem er der Gemeinde zu Gehör gebracht wird. Wird auch in der Gemeindeversammlung keine Klärung herbeigeführt, folgt der Ausschluss aus der Gemeinschaft. Das ist wohl mit dem Begriff »Heide und Zöllner« gemeint.

Nebenbei: Ein solcher Dreistufenplan: Begegnung unter vier Augen – Gespräch vor Zeugen – Vollversammlung findet sich auch in Qumran, vgl. I QS V,25–VI,1 bzw. Dam. IX, 2–4.

Vers 18 mit seiner betonten Einleitung spricht dem Handeln der Gemeinde auf Erden auch die Gültigkeit im Himmel zu. Es ist die verbindliche Vollmacht der Aufnahme in die oder des Ausschlusses aus der Gemeinde (anders Mt 16, 19), die im Grunde die Vergebung oder die Behaftung der Sünde mit einschließt. Diese Vollmacht obliegt nicht Einzelnen, sondern der ganzen Gemeinde. Die Vollmacht des Bindens und Lösens ermöglicht rechtskräftig die Aufnahme in die Gemeinschaft sowie den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Aber auch die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines durch unbußfertige Verfehlung zunächst Ausgeschlossenen und durch spätere Umkehr zur Vergebung Gelangten ist gegeben.

Vers 19f ist m.E. unbedingt im Kontext des Vorangegangenen zu verstehen. Wie in Vers 16 ist von den »zwei oder drei« die Rede. Wie in Vers 18 kommen »Himmel und Erde« zur Sprache. In V. 16 sind die »zwei oder drei« Zeugen, die den Sünder zur Umkehr bewegen sollen. In V. 19 sind sie diejenigen, die das Gebet zur Fürbitte werden lassen, das die Zurückgewinnung des Sünders auf Erden beim Vater im Himmel erbittet. Vielleicht ist das gar als eine Steigerung (gegenüber V. 16) der Bemühung um den Sünder zu verstehen, die ihn noch längst nicht verloren gibt und die Zusage hat, dass gemeinsamem Bitten Aussicht auf Erfolg zusteht. In solchem gemeinsamen Fürbitten wird die Verantwortung gegenüber der Schwester und dem Bruder wahr- und ernstgenommen. V. 20 verheißt ihrer Versammlung die Gegenwart des erhöhten Christus. Dieser erhöhte Christus allein konstituiert Gemeinde.

Eine rabbinische Parallele lautet: »Wenn zwei zusammensitzen und sich mit Thoraworten beschäftigen, so ist die Schekhina unter ihnen.« (Mischna, Aboth III/2)

 

Praktisches

Die Frage stellt sich, ob ein solcher Umgang mit menschlicher Verfehlung in unseren unübersichtlichen differenzierten volkskirchlichen Strukturen möglich ist? Die Gemeinde zerfällt in unterschiedliche Gruppen und Kreise. Die gottesdienstliche Gemeinde ist keine feste Größe, sondern tritt sonntäglich in anderer Konstellation zusammen. Die einzelnen Gottesdienstbesucher/innen haben die Woche über in der Regel wenig miteinander zu tun. Aufeinander angewiesen ist man nicht und von anderen sagen lässt man sich nichts. Die Volkskirche ist heute froh, wenn sie Eintritte verzeichnen kann, damit sie finanziell überleben kann. Da spielt »das Private« keine Rolle.

Die urchristliche Hauskreisgemeinde mag da anders ausgesehen haben – wirtschaftlich, sozial, religiös – und eine feste überschaubare Größe gewesen sein, wo jeder jedem vertraut und das matthäische Dreischritte-Programm zur Gemeindeerhaltung praktikabel war.

Zu predigen wäre aufgrund dieser Einschätzung, dass es Grenzen menschlichen

Zusammenlebens und christlicher Gemeinschaft gibt. Diese werden da überschritten, wo man seine Mitmenschen/ Mitchristen missachtet, übervorteilt, verletzt. Ein Unter-vier-Augen-Gespräch ist allemal besser als Übereinanderherziehen und öffentliches Unmöglichmachen, ein Konfliktlösungsversuch mithilfe von Berater(inne)n ist angebrachter als Rechtsstreitereien und endloser Auseinandersetzungen. Man kann Menschen bei ihrer Schuld behaften und sich selbst in Ketten legen, man kann sie aber auch lösen und sich selbst frei machen. Wo Ersteres offensichtlich wird, ist Mitverantwortung anstatt Gleichgültigkeit gefragt, die hilft, die Ketten zu sprengen. Das Gebet gibt nicht auf und hofft auf das menschlich Unmögliche. Der Beter weiß um die eigene Fehlbarkeit und unterwirft sich nicht seiner eigenen Überheblichkeit, sondern vertraut auf die Möglichkeiten des erhöhten Christus, der keinen aufgibt und abschreibt. Ein neuer Anfang ist immer möglich und für das freisprechende Wort ist es nie zu spät. Die Facetten christlicher Solidarität können dabei neu entdeckt werden.

 

Kurt Rainer Klein

 

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 9/2005

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