Vorbemerkung

Im Bereich der Praktischen Theologie, hier konkret in der Religionspädagogik, wird der Begriff »Postmoderne« verwendet, um die geistige Situation zur Jahrtausendwende näher zu umreißen. Die Wahrnehmung des modernen Fortschrittsdenkens führte theologisch lediglich zu Klagelitaneien gegenüber Traditionsabbrüchen und Säkularisierungstendenzen. Für die Postmodernen in der Philosophie stellt sich die Situation hinsichtlich des Phänomens der Religion realistischer und pluraler dar. Damit steht aus christlicher Perspektive sofort die Bibeldidaktik auf der Tagesordnung, denn die Postmoderne fordert die Wahrnehmung der primären Dokumente der jeweiligen Religion. Es hat also nicht nur etwas mit dem Jahr der Bibel 2003 zu tun, wenn im Folgenden dargestellt wird, wie aus der Sicht der Religionspädagogen, für die der Begriff »Postmoderne« die gegenwärtige Situation umschreibt, die Aufgabe der Bibeldidaktik in Theorie und Praxis beschrieben wird und versucht, diese Linie in Richtung auf konkrete Unterrichtsabläufe ein wenig zu konkretisieren.1

1. Die Bibel ist ein religiöses Buch

Wird die Bibel als eine Art historische Urkunde behandelt, macht man sie fremder, als sie für die meisten Menschen ohnehin schon ist. Die Bibel ist in erster Linie ein religiöses Buch und entfaltet ihre fundamentale Kraft, wenn sie auch entsprechend behandelt wird.

In der Wahrnehmung dessen, was Jugendliche bewegt, stehen zur Zeit Begriffe wie Echtheit, Ehrlichkeit, Wahrheit hoch im Kurs. Authentische und glaubwürdige Beispiele gelebter Religion werden meist vorurteilslos mit Interesse aufgenommen. Die Jugendlichen interessiert im multireligiösen Kontext vor allem die Frage, welche Elemente für unsere christliche Religion typisch sind. Es werden nicht wie bisher klassische Texte in die Behandlung konkreter privater und gesellschaftlicher Themen eingebaut, sondern die Bibel als Ganzes gelesen, das sie die christliche Religion konstituiert. Dass heißt aber zugleich, dass die Bibel selbst mehr Raum im Unterricht einnehmen muss, wenn Unterrichtende glaubwürdig christliche Religion darstellen wollen.

In unserer Situation des Religiösen Pluralismus steht die Bibel symbolisch für das Wesen des Christentums, den Inhalt des christlichen Glaubens, das Evangelium. Das Jahr der Bibel stellt dies ja gerade heraus. »Die Bibel ist als Grundlage der christlich-abendländischen Kultur ebenso unverzichtbar wie sie das einigende Band aller Kirchen darstellt. Die hat Menschen immer wieder die Erfahrung vermittelt, dass Gott selbst in der Bibel zu uns redet.« (Bibelmagazin)2 Die Bibel ist streng genommen gar kein theologisches Buch, das mit irgendeiner Lernmethode bearbeitet werden möchte, sondern ihre eigentliche Bedeutung liegt darin, dass sie ein religiöses Buch ist. Die Bibel selbst erzählt ja die religiöse Bedeutung der Begegnungen Gottes für die Menschen in je ihrer Zeit. »Die Bibel ist nicht heilig an sich, sondern weil Menschen durch sie Erfahrung des Heiligen machen. Insofern ist das protestantische Christentum gerade kein Buchreligion, wohl aber eine Religion geisterfüllter Leseerlebnisse.« (Johann Hinrich Claussen)3 Das wird sicher jeder Mensch von seinem allgemeinen Vorwissen her bestätigen können, dass die Bibel etwas mit der Kirche zu tun hat. »In der Kirche – in ihren Gottesdiensten und Gemeindegruppen, in ihrem Unterricht und in dem in der Schule – wird die Bibel aufgeschlagen, gelesen und ausgelegt.« (Wilhelm Gräb)4

Die zentrale Stellung der Bibel in der Darstellung der christlichen Religion vollzieht sich im Spannungsfeld der Komponenten Gottes, des Christentums bzw. der Kirchen und der persönlich gelebten Gestalt christlichen Glaubens und Frömmigkeit.

Der Umgang mit der Gottesfrage ist dabei die besondere Herausforderung, färbt sie doch praktisch auf die Komponenten der Institution und der Person ab. Wer vom Christentum redet, muss auch von Gott reden. Wer mit der Bibel arbeitet, kann und darf die eigene Beziehung zu Gott nicht verleugnen, was wiederum von den persönlichen Voraussetzungen der Unterrichtenden abhängt. Der Umgang mit der Gottesfrage ist also schwierig, da sich Gott nicht in der Distanz zeigt. Verhalten sich die Unterrichtende dem Gottesbegriff gegenüber distanzierend, sind sie aus Sicht der Unterrichteten wenig kompetent in der Darstellung der eigenen Religion. Dies zeigt sich natürlich sofort im Verhältnis zu den Texten und Aussagen der Bibel. Vielleicht ist das schon der subjektive Grund dafür, dass man zu oft im Umgang mit der Bibel im Unterricht allenfalls bis zur Hermeneutik vorgedrungen ist. Ein weiteres Problem ist der historisch-kritische Umgang der früheren Universitätsexegese mit der Bibel, der der Lektüre aus religiöser Sicht entgegenstand. Ulrich Wilckens stellt fest, dass die biblischen Texte nichts anderes als »Gottes Handeln in seiner geschichtlichen Wirklichkeit bezeugen und Gottes eigenes Wort im menschlichen Wort seiner Propheten und Apostel zu Sprache bringen« wollen.5 Dies gilt auch für den Gebrauch der Bibel im interreligiösen Zusammenhang, sei es in der Frage danach, wie die Bibel von Gott redet, oder danach, wie die anderen Religionen den christlichen Gott verstehen. Jede einzelne Religion, ob monotheistisch oder universalistisch, hat es damit zu tun. Es gibt nach dem Glauben des Monotheismus nur einen Gott und nach der Vorstellung des religiös geprägten Weltganzen nur eine Wirklichkeit. Der Versuch, die Bibel selbst unter interreligiösem Aspekt zu lesen, führt die Erfahrung zu Tage, dass es dort hierfür auch schon einige Ansätze gibt.6

Ingo Baldermann führt am Beispiel der Psalmen vor, dass es im Religionsunterricht gelingen kann, dem Gottesthema nicht nur nicht auszuweichen, sondern in der Erarbeitung der biblischen Gottesvorstellung auch den religionsfremden Menschen die Grundaussage des Glaubens zu vermitteln. Wenn man versucht, die Bedeutung des Gottesnamens aus Exodus 3 mit »Ich bin da« wiederzugeben, gelingt es, die Gotteserfahrung mit der Lebenswirklichkeit zu konfrontieren. »Ich bin da« ist der Name des Vertrauens, von dem sich auch andere Gottesbezeichnungen und Gottesqualitäten ableiten lassen. Das ist noch etwas anderes als ein rein religionswissenschaftlicher Zugang, denn die Zusage des Vertrauens wird mit menschlichen Grundgefühlen konfrontiert.7 Es wird gezeigt, wie elementar wichtig diese Grunderfahrung ist, und wie es in der Bibel trotzdem auch sein kann, dass Gottes Gegenwart völlig in Frage zu stehen scheint, und damit wird ebenfalls eine menschliche Grunderfahrung aufgenommen. Von Gott zu reden, ja mit ihm zu reden, zu beten und so auch zu loben, zu danken, zu bitten und zu klagen, ist keinesfalls etwas, was menschlicher Erfahrungswelt fremd ist, sondern hat viel mit Grunderfahrungen des Vertrauens und der Enttäuschung zu tun. Daraus wird dann auch konsequent zu folgen sein, dass dies im sozialen Bereich, im menschlichen Miteinender viel damit zu hat, dass sich Menschen solche Erfahrung gegenseitig mitteilen. Die Rede mit Gott ist ja keine andere Rede, als sie Menschen untereinander gebrauchen. Gotteserfahrung ist folgerichtig zugleich ein Gegenstand von Kommunikation. Muster dieser Kommunikation sind die biblischen Texte.

2. Die Bibel erklärt sich selbst: Textinterpretation im Kontext.

Wenn es sich auch anbietet, die Bibel vor allem im religiösen Vollzug entsprechend bestimmter Gattungen zu lesen, so bleibt doch gleichzeitig bewusst, dass die biblischen Texte erst im Rahmen eines bestimmten Kontextes ihre eigentliche Qualität und Aussagen entfalten z.B. eines ganzes Paulusbriefes oder eines ganzen Evangeliums. Die einzelnen Textabschnitte sind Teil eines größeren Ganzen. Rück- und Vorverweise, sowie Schriftzitate und Anspielungen sind ihre eigenen Interpretationsmittel. Ohne sie bleibt der einzelne Text noch sehr interpretationsbedürftig, was dann dazu führen kann, das textfremde Interpretationsmuster eingetragen werden. Der Religionsunterricht könnte sich also einmal einige Stunden hintereinander mit der fortlaufenden Lektüre eines geschlossenen Bibeltextes befassen.

Es ist die Frage zu beantworten, welche Rolle die Bibel konkret im Unterrichtsgeschehen haben kann. Dazu lohnt ein Blick auf die verschiedenen Konzeptionen für den Religionsunterricht: »Die Bibel als ein Buch, mit dem und an dem gelernt wird und selbst das Lernen inspiriert, ist in der Tat immer Bezugspunkt christlichen Lernens und christlicher Religionspädagogik gewesen, auch in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts: die Bibel als Hort der Verkündigung in der Evangelischen Unterweisung; die Bibel als Grundlage abendländischer Kultur und wissenschaftlich-exegetisch zu erschließendes Dokument im hermeneutischen Religionsunterricht; die Bibel als Hilfe bei der Bewältigung von Gegenwartsfragen im problemorientierten Religionsunterricht; die Bibel als Quelle lebensdeutender und lebensstiftender Symbole in der Symboldidaktik; die Bibel als Kristallisationspunkt lebensgeschichtlich bedeutsamer und für Gruppenerfahrungen relevanter Inszenierungen im Bibliodrama.«8 Diese Formulieren machen deutlich, dass die Gefahr besteht, die Bibel für bestimmte Konzepte zu instrumentalisieren. Es mag sein, dass diese Ansätze ihr Recht haben. Die Frage ist heute, was es bedeutet, die Bibel mit ihrer eigenen Intention in die Mitte des Unterrichts zustellen. Dabei steht natürlich die hermeneutische Frage im Hintergrund. Seit der Reformation gibt es darauf eine recht eindeutige Antwort: Die Bibel erklärt sich selbst. Auf den Vorwurf, einige Stellen der Bibel seien dunkel und unverständlich, schreibt Martin Luther: »Die Dinge, welche in der Schrift verkündigt sind, liegen also klar am Tage, mögen auch einige Stellen bisher unbekannter Worte willen dunkel sein. … Die Schrift bekennt schlicht und einfache die Dreieinigkeit Gottes wie die Menschheit Christi und die unvergebbare Sünde.«9 Nun mag man zu recht einwenden, dass diese theologische Sicht recht grob ist. Dennoch ist an den theologischen Bezug zu einem christlichen Glaubensinhalt zu erinnern, den jeder biblische Text zumindest implizit hat. Nach den Ergebnissen der Textexegese sollte man außer im Bezug auf die Gottesfrage eher danach suchen, wie die Texte sich selbst erklären. Da die Bibel eine Sammlung einzelner Schriften ist, kann man also zumindest den Kontext der jeweiligen Schrift zu Interpretation heranziehen. Dies wird in den neueren exegetische Ansätzen auch wieder sehr stark betont. Das entsprechende Handwerkszeug wird in Form kleinerer Hefte von der Bibelgesellschaft zur Verfügung gestellt. Zusätzlich zu einer Bibelausgabe etwa der Einheitsübersetzung oder der Guten Nachricht Bibel sollte man z.B. die Arbeitshilfe benutzen: Basiswissen Bibel. Bibel praktisch 2. Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart 1999. Hier wird z.B. der Aufbau einer Textseite z.B. der Lutherbibel und anderer Übersetzungen erklärt, wozu ja Parallelstellen und Textverweise auch gehören. Man sollte zumindest zum Teil von der Ausschnittmethode wegkommen und stattdessen einfach einmal ganze Texte in einer Reihe behandeln, vielleicht solche, die auch im Unterricht vom Umfang her zu meistern wären, wie das Markusevangelium, den Philipperbrief, das Buch Jona, das Hohelied der Liebe, das Buch Rut oder Hiob, um nur einige Beispiele zu nennen. Nicht eine Methode der Vergegenwärtigung sollte die Behandlung der Texte bestimmen, denn dadurch wird zuerst Distanz hergestellt. Das didaktische Prinzip ist der Text selbst. Dies ist den biblischen Texten immer angemessen, denn sie sind ja zumeist in didaktischer Hinsicht aufgeschrieben worden.10 Ingo Baldermann fordert die Unterrichtenden auf, das protestantische Schriftprinzip erneut für sich zu entdecken. Jeder kann in der Beobachtung des Textes zum selbständigen Interpreten werden: Die Bibel »ermöglicht ein Lernen, in dem nicht die einen zu Herren des Glaubens der anderen werden, sondern jede und jeder selbst geöffnet wird für eigene Wahrnehmung.«11

3. Die Bibel vermittelt den Erfahrungshintergrund einer praktizierten Religion

Wird die Bibel im historischen Interesse gelesen, zeigt es sich, dass sie die Facetten der religiösen Erfahrungen des christlichen Glaubens in der Zeit seiner Entstehung darstellt. Die Zeichen der urchristlichen Religion sind andererseits in der Begegnung mit dem Bibeltext zugleich in der heutigen Gestalt des gelebten christlichen Glaubens wiederzufinden, so wie sie für die Religion konstitutiv sind.

Geschichte ist Wiederspiegelung gelebter Erfahrung. Schon dieses doppeldeutige Wort »Geschichte« zeigt, dass Erfahrung und Erzählung zusammengehören. Hier wäre natürlich zu fragen, ob man nicht im Grunde alle biblischen Texte unter die Rubrik Erzählung rechnen müsste, auch wenn sie eher poetischen oder diskursiven Charakter haben. Sowohl die Briefliteratur als auch die Psalmen oder andere prophetisch poetische Texte sind ohne den narrativen Kontext überliefert. Doch sowohl in den Evangelien, als auch in den Geschichts- und Prophetenbüchern des Alten Testaments sind Reden oder Psalmen Teil von Erzählung. Der narrative Text lebt von der wörtlichen Rede. Und dort, wo die Diskurse ohne den Kontext überliefert wurde, versucht man gerade diesen zu rekonstruieren. Auf alle biblischen Texte trifft demnach auch die Kategorie der Erfahrung zu. »Geschichten teilen Erfahrungen mit, Erzählungen prägen auch Erfahrungen, die wir mit unserem Leben gemacht haben, lassen sie neu entdecken und verstehen, weil sie Deutungsmuster zuspielen. Wahr ist aber auch, dass Erfahrungen ihre Erzählungen suchen.« (Klaus Wegenast)12 Unter den Bedingungen der Postmoderne wird der Bibeltext selbst ohne jede Apologetik herangezogen. Er wird allerdings wie bei einer Blütenlese aus dem Zusammenhang genommen, was m.E. nicht zwangsläufig so geschehen muss. Gerade wenn, wie er sagt, die Jugendlichen nach der »Dramaturgie des Textes«13 fragen, sollte dies durch die Behandlung eines größeren Textabschnitts geschehen. Erst dann kann man im Unterricht selbst, die gelesenen Begriffe aufeinander beziehen. Einige Autoren weisen auf die Entwicklung neuer Zugänge hin, die m.W. eher der außerschulischen Pädagogik entstammen. »Entscheidend ist die gruppendynamische, kreative, erlebnisorientierte Begegnung mit dem biblischen Text, das Sich – einbringen mit den eigenen Gefühlen, Erfahrungen, Vorstellungen und Gedanken. Partnerschaftlich soll die Begegnung mit der Bibel sein, nicht normativ oder gar autoritär. Partnerschaftlich soll diese Begegnung in dem Sinne sein, dass der biblische Text zur symbolischen Form wird, die subjektive Sinn-Horizonte erschließt, zum Medium, das weiterführende Gespräche über aktuelle und persönliche, religiöse, soziale und politische Erfahrungen und Konflikte ermöglicht.« (Wilhelm Gräb)14 Das klassische Beispiel dafür, in dem beides gelingt, die Aktualisierung und die kontinuierlich Textlektüre ist die vierbändige Ausgabe der Bibelarbeiten von Ernesto Cardenal: Das Evangelium der Bauern von Solentiname15. Seit Anfang der neunziger Jahre ist das weiterführende Konzept des »bible-sharing’s, auch die »sieben-Schritte-Methode« genannt, bekannt geworden.16 Es stammt aus den Kirchen der so genannten Dritten Welt und ersetzt dort in kleineren Gottesdiensten den fehlenden Priester. Hierbei wird ein assoziativer Textzugang in einer Gruppe ziemlich streng methodisch gestaltet, so dass genügend Raum zur Stille und zum eigenen ruhigen Weiterdenken bleibt. Problematisch bei der Umsetzung dieser Methode ist, dass sie eigentlich immer in eine gemeinsame Aktion münden sollte, und ich kann mir nicht vorstellen, das dies im schulischen Rahmen ausreichend möglich ist. Auch die Anwendung der Grundformen des Bibliodramas ist im Unterricht möglich: »Der didaktische Impuls, der bibliodramatische Arbeit von anderen Formen des Unterrichtsgesprächs unterscheidet, ist der zur Rollenübernahme. Sie aktiviert tatsächlich … ganz unerwartete Fähigkeiten des Verstehens … Die Rollenübernahme kennt viele Vorformen und ist auch schon in einer einfachen Gesprächsrunde möglich.« (Ingo Baldermann)17 Es sind die »Formen interaktionalen Lesens … in denen es zuerst um eine Erhebung der Strukturen des Textes geht, um die Personen, die da agieren, ihre Handlungen, sichtbare Motive und Vorstellungen, um die Zeit und den Ort des Erzählten, um die Strategien der einzelnen Personen und anderes mehr.« (Klaus Wegenast)18 Ich würde nur bei einer kontinuierlichen Lektüre dafür plädieren, die jeweilige Methode dann ruhig einige Male hintereinander zu versuchen, nicht also ständigen Methodenwechsel.19 Einige Methoden passen eher zu denselben Texten als andere und umgekehrt.

4. Die Bibel fragt nach den persönlichen Erfahrungen von Spiritualität

Jeder religiöse Text und damit auch jeder Bibeltext fragt über den Erfahrungshintergrund hinaus nach eigener Frömmigkeit. Da die Praktizierung von Frömmigkeit den Rahmen des Religionsunterrichts sprengt (im Gegensatz zum kirchlichen Unterricht), sollte stattdessen eine Art »Religionskunde« stattfinden, also eine Darstellung des Weges vom Text über die Person zur Religion.

Durch die Auswahl des Mediums Bibel rechne ich damit, dass sich die Auseinandersetzung damit auch überwiegend an den Themen der Religion orientieren wird. Natürlich gibt es auch noch andere Themen, die durch Texte der Bibel mit angestoßen werden, nämlich die, die mit den großen Themen der christlichen Ethik zu tun haben. Jeder und jede Unterrichtende muss sich fragen: Wie stehen Jugendliche zum Thema Religion? Welche Erwartungen, welche Wünsche, welche Einstellungen sind zu erwarten? Die vorletzte Shell-Jugendstudie widmete dem Thema »Religion« einen ganzen Fragenkomplex. Die Hauptergebnisse sind ernüchternd. Die Glaubensvorstellungen gehen weiter zurück, religiöse Praktiken werden nicht mehr ausgeübt. Eine Ausnahme bildet dabei die Gruppe ausländischer Jugendlicher, zumal wenn sie dem Islam zugehören. Im christlichen Spektrum gibt es keine Unterschiede zwischen den Konfessionen mehr, da beide in gleichem Maße entkirchlicht sind. Private religiöse Praktiken etwa des Okkulten gibt es kaum. Aus diesem aus kirchlicher Sicht sehr negativem Befund ragt ein Ergebnis hervor: Viele Jugendliche sind von einer persönlichen Glaubensüberzeugung an Gott als einer höheren Macht geprägt, ohne diese allerdings mit kirchlichen Lehrsätzen vermitteln zu wollen.20 Einige Ergebnisse weisen doch auf ganz private religiöse Prägungen: 1/5 aller männlichen und 1/3 aller weiblichen Jugendlichen beten.21 Eine sehr hohe Zahl feiert kirchliche Feste zumindest privat.22 1/3 aller Jugendlichen wollen die Kinder religiös erziehen.23 Deutlich mehr Jugendliche als bei einer früheren Studie glauben an eine höhere Macht, etwa 1/3 glauben an eine höhere Gerechtigkeit oder eine Art Vorsehung.24 Vermutlich ist diese Voraussetzung für den Religionsunterricht eher positiv einzuschätzen, sofern er keine ausgesprochenen Frömmigkeitsformen praktiziert, wogegen der Konfirmandenunterricht von den meisten sicher als zu dicht am Gemeindegeschehen empfunden wird. Daran wird auch nicht ändern, dass der KU vom Verständnis der Unterrichtenden eher zur Jugendarbeit zur rechnen ist.25 Ich sehe von daher aber eine mögliche Verbindung vom Religionsunterricht zur Jugendarbeit. Für die Arbeit mit der Bibel im Unterricht spricht, dass es eine Erkenntnisquelle ist, die bei aller Bezogenheit auf den christlichen Glauben kirchlich letztlich ungebunden ist. Die Bibellektüre selbst setzt keine Christlichkeit voraus. Damit kann man auch erst mal aus reinem Interesse beginnen. Die Konfessionsgrenzen selbst spielen dabei keine Rolle. Dies wird durch eine Lektüre besonders der Jesus-Überlieferung bewusst aufgenommen. Jesus, wie er von den Evangelien erzählt wird, macht selbst ernst mit dem Gebot der Feindesliebe: »Das Überschreiten der Konfessionsgrenzen von seinem Gottesauftrag her und um des Menschen willen begleitet Jesu ganzen Weg.«26 Weiterhin wird die Form der Evangelien als biographische Erzählungen dem Interesse der Jugendlichen nach Lebensdeutung entgegenkommen, da sie ja selbst damit beginnen, eine eigene Lebensgeschichte zu entwerfen. Psalmen und Gebete sind ebenfalls interessant. Hierbei geht es darum, eine eigene Sprache für Klage, Lob und Bitte zu finden. Man kann auch von Jesu Gebetsverständnis des stillen Kämmerleins sehr gut darauf kommen. Genau wie den heutigen Jugendlichen war Jesus eine öffentliche Darstellung eigener religiöser Praxis obskur: Matthäus 6, 1 »Hütet euch, eure Frömmigkeit vor den Menschen zur Schau zu stellen! Denn dann habt ihr keinen Lohn mehr von eurem Vater im Himmel zu erwarten.« und Matthäus 6, 6 »Wenn du beten willst, dann geh in dein Zimmer, schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird dich dafür belohnen.« Jesusgeschichten und die Schöpfungsthematik, aber auch »Israel und die Völker«, wie die »Welt-Mission des Paulus« sind ja eigentlich biblische Themenkomplexe, die gut zu den dargestellten Voraussetzungen passen. Darüber hinaus sollte man Jugendlichen wenigstens ein ehrliches Bedürfnis unterstellen und Information über ihre eigene Religion anbieten, die sich auch gewinnbringend im Gespräch mit Vertretern anderer Religionen gebrauchen lässt. In Bezug auf den Islam, sollten die Texte des Koran und der Bibel, die zueinander passen, verglichen werden: Jesus in der Bibel und im Koran, Maria, Abraham usw. Ich denke, dass die Bibel selbst genügend Aussagen bereit hält, um den Jugendlichen eine Kenntnis religiöser Erfahrung vermitteln zu können. Die Ebenen solcher Erfahrung können recht vielfältig sein. Dazu müsste die Bibellektüre so teilnehmerorientiert wie möglich sein. »Man macht religiöse Erfahrung in, mit und unter alltäglichen Erfahrungen, und das im Licht eines bestimmten Interpretationsrahmens, der nicht nur durch eine bestimmte religiöse Sprache bestimmt ist, sondern auch durch ein ursprüngliches und unmittelbares Sehen des Ganzen, in dem auch mein Erleben Platz hat. In religiöser Erfahrung erlebe ich z.B. etwas, was mich gerade betroffen hat, den Tod meiner Mutter, der mich traurig macht und schmerzt, meine mich aufwühlende Liebe zu einem Freund oder einer Freundin, meine Freude über das Gelingen eines wichtigen Vorhabens, ein schreiendes Unrecht etc., zwar nicht unabhängig von gesellschaftlichen Mustern, überschreite diese aber hin auf eine Ganzheit, oder, wie Tillich sagt, auf das, was mich unbedingt angeht, auf Gott.«27 Wo es möglich ist, könnte auch eine Deutung mit Hilfe von Medien geschehen, die eher eine ästhetische Erfahrung repräsentieren. Die ästhetische Erfahrung ist mit der religiösen in gewissem Sinn verwandt. Beide unterliegen einer Deutung im Rahmen persönlicher Subjektivität. Bei beiden kommt es darauf an, dass aus den vorliegenden Wahrnehmungs- und Deutungsmustern eine entsprechende Kommunikation erwächst. »Die Folge ist, dass nur wer solchen Zeichengebrauch lernt, auch seine eigenen religiöse und ästhetischen Erfahrungen zu identifizieren in der Lage ist.«28 Ich denke, dass nur der Gebrauch der Bibel selbst zu religiöser Kompetenz im Sinn biblischer Sprachwelt führen kann. Es ist sicher auch für Jugendliche ansprechend, wenn dazu dann als Interpretationshilfe Medien hinzugezogen werden, die aus der Sicht der Teilnehmer dem ästhetischen Bereich zuzurechnen sind, Popsongs, Ausschnitte aus Videos, Poster o.ä.

 

 

Über die Autorin / den Autor:

Ch. F., Jgg. 1955, geb in Iserlohn. Verheiratet, jetzt getrennt lebend, drei Kinder. Studium: Pädagogik PH Hagen, Theologie in Münster, Kontaktstudium in Bethel, KiHo (2002/03), Gasthörer an der KiHo Wuppertal. Gemeindepfarramt in Gelsenkirchen und Dortmund, jetzt Studierendenseelsorge an der FH Meschede, Krankenhausseelsorge. Interesse an Berufsschule, Schulpfarramt und wie aktuell Hochschulseelsorge. Publizistisch veröffentlich im Internet: Lieder, Gedichte, Referate und eine Erzählung »Hiob im 21. Jahrhundert«. Predigten sind nachzulesen auf der Seite www.kanzelgruss.de.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2004

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