Und Ahab sagte Isebel alles, was Elia getan hatte und wie er alle Propheten Baals mit dem Schwert umgebracht hatte. Da sandte Isebel einen Boten zu Elia und ließ ihm sagen: Die Götter sollen mir dies und das tun, wenn ich nicht morgen um diese Zeit dir tue, wie du diesen getan hast! Da fürchtete er sich, machte sich auf und lief um sein Leben und kam nach Beerscheba in Juda und ließ seinen Diener dort. Er aber ging hin in die Wüste eine Tagereise weit und kam und setzte sich unter einen Wacholder und wünschte sich zu sterben und sprach. Es ist genug, so nimm nun, HERR, meine Seele; ich bin nicht besser als meine Väter. Und er legte sich hin und schlief unter dem Wacholder. Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iß! Und er sah sich um, und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen. Und der Engel des HERRN kam zum zweitenmal wieder und rührte ihn an und sprach. Steh auf und iß! Denn du hast einen weiten Weg vor dir. Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb. (1. Kön. 19, 1–8)

 

Was der Prophet Elia vor langer Zeit durchlitt, erfahren Menschen bis zum heutigen Tag: Daß es Momente gibt, wo man völlig am Ende ist, restlos ausgepumpt und kraftlos. Daß man manchmal einfach nicht mehr kann und nicht mehr will. Daß man sich zu Tode erschöpft fühlt, todmüde – lebensmüde. Oft hat man dann nur noch einen Wunsch: zu schlafen, oder besser noch: einfach zu sterben, vergessen, zum Ende kommen. »Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele ...«

In diese Situation kann man geraten, wenn einem ein schwerer Schicksalsschlag widerfährt, eine Scheidung etwa, der Verlust eines Kindes oder die Entdeckung eines Tumors unter der eigenen Haut. So weit kann es aber auch mit einem kommen, wenn man sich über längere Zeit hinweg fortwährend überlastet und überfordert, sei es durch Anforderungen von außen oder von innen. Daß man gibt und gibt – bis man sich eines Tages eben völlig verausgabt hat und nur noch wie eine leere Hülse fühlt. Dann bricht das Energiefeld, das eine Person normalerweise umgibt, zusammen, die Spannung, die Aura, der Glanz geht verloren, die Augen hören auf, zu leuchten, die Betroffenen wirken wie erloschene Sterne. »Ausgebrannt«, »burned out« sagt man in Amerika dazu, und auch bei uns hat sich in den letzten Jahren der Begriff des »Burnout« bzw. des »Burnout-Syndroms« eingebürgert.

Schon lange ist man sich in Fachkreisen einig, daß es dabei nicht um eine mehr oder weniger harmlose Form der Überarbeitung geht, die mit ein paar freien Tagen schnell wieder in den Griff zu bekommen wäre, sondern um eine ernstzunehmende, manchmal sogar lebensbedrohliche psychosoziale Krise, die dringend fachkundiger Behandlung bedarf. Die amerikanische Sozialpsychologin Christina Maslach, eine Pionierin der Burnout-Forschung, definiert »Burnout« als »ein Syndrom aus emotionaler Erschöpfung, Entpersönlichung (d.h. man behandelt diejenigen, mit denen man beruflich zu tun hat, nur noch wie Objekte, A.v.H.) und reduzierter persönlicher Leistungsfähigkeit, das bei Personen auftreten kann, die in einer bestimmten Weise mit Menschen arbeiten. Es ist eine Antwort auf den chronischen emotionalen Stress, den es mit sich bringt, bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit mit anderen Menschen umzugehen, besonders wenn sie in Nöten sind oder Probleme haben.« Jerry Edelwich und Archie Brodsky, zwei andere Burnout-Forscher, haben den Sachverhalt auf die kurze Formel gebracht: »Ausgebrannt ist jeder, der, wenn man ihn fragt, was er davon halten würde, in zehn Jahren dieselbe Arbeit zu machen, antwortet: ›Eher möchte ich sterben‹.«

»Burnout« ist keine psychische Erkrankung, sondern ein systemisches Phänomen. Es handelt sich um ein aus Arbeitsbedingungen, Aufgabenmerkmalen und der Persönlichkeitsstruktur gemeinsam zu erklärendes und erklärbares Reaktionssyndrom. Dennoch trifft diese Erfahrung die Psyche der Betroffenen in all ihren seelischen Schichten mit ähnlicher Wucht, wie eine Depression oder Psychose. Wie bedrohlich der Vorgang erlebt wird, bringt eine Betroffene anschaulich zum Ausdruck. Carol B., eine Sozialarbeiterin, die aufgrund chronischer Überlastung berufsunfähig wurde, erklärt:

»Wenn ich versuche, meine Erfahrung zu beschreiben, dann gebrauche ich das Bild eines Teekessels. Wie ein Teekessel war ich auf dem Feuer, mit kochendem Wasser und arbeitete hart um all die beruflichen Probleme zu lösen und meine Sache gut zu machen. Aber nach einigen Jahren war das Wasser verkocht und ich stand trotzdem noch auf dem Feuer – ein ausgebrannter Teekessel in Gefahr zu bersten.«

Der Kessel ist leer – schlimmer noch: der Kessel brennt aus, und wenn er nicht vom Feuer genommen wird, platzt er schließlich und setzt möglicherweise noch das ganze Haus in Brand. Längst weiß man, daß Burnout ansteckend ist. Die depressive und destruktive Energie eines ausbrennenden Mitarbeiters kann ein ganzes Team blockieren. Nicht nur die seelischen, auch die wirtschaftlichen Schäden sind enorm, zumal ausgebrannte Arbeitnehmer sich auf ihren Positionen oft noch jahrelang mehr schlecht als recht dahinschleppen, obwohl sie schon längst die »innere Kündigung« vollzogen haben und nur noch »Dienst nach Vorschrift« machen.

Eines aber ist ebenfalls klar: Wer ausbrennt, muß zuvor »gebrannt« haben, muß einmal »Feuer und Flamme« gewesen sein für seine Aufgabe, seine Ziele, seine Ideale, war mit aller Energie eingetreten für das, was er tun wollte oder tun sollte. Es sind oft gerade die Besten, jene, die bereit sind, alles zu geben, die in Gefahr stehen, daß sie schließlich nichts mehr geben können.

So ein »Brennender«, war auch Elia. Den »feurigen Elias« hat man ihn genannt – nicht nur weil er am Ende seines Lebens mit einem feurigen Wagen, gezogen von feurigen Rossen, in den Himmel entrückt wurde, sondern weil er offenbar zeitlebens getrieben war vom Eifer für seinen Gott. So sehr, daß er sich nicht einmal fürchtete, sich mit dem Königspaar anzulegen und ihnen ins Gesicht das Gericht Gottes anzusagen. So sehr, daß er sich schließlich sogar, nach der spektakulären Inszenierung des Gottesurteils auf dem Berg Karmel in einen orgiastischen Blutrausch steigert und eigenhändig alle Baalspriester erschlägt. Dann aber bricht er zusammen. Daß sein jahrelanger beharrlicher Einsatz für Jahwe vergeblich war, hatte er noch irgendwie verkraften können. Aber daß nun selbst der eindeutige Ausgang des Gottesurteils Israel nicht zur Umkehr zwingt, daß ihn die kalte Isebel jetzt sogar auf ihre Todesliste setzt, das ist zuviel für ihn. Verzweiflung und Angst, wohl auch das bittere Gefühl, versagt zu haben, treiben ihn in die Wüste, wo er nur noch zu sterben wünscht. »Es ist genug. So nimm nun, Herr, meine Seele. Ich bin nicht besser als meine Väter.«

Gott jedoch will nicht, daß wir auf dem Grund unserer Lebenskrisen das Leben aufgeben oder verlieren. Er will, daß wir an unseren Krisen wachsen und schließlich gestärkt aus diesen Wüstenerfahrungen zurück ins Leben finden. Gerade dort, wo wir »zu Grunde gehen«, auf dem Grund unserer Person, der Seele, unserer Existenz, ist es möglich, daß sich uns ganz neue Kraftquellen erschließen. Damit dies gelingt, kann es manchmal sein, daß Gott selbst in den Stunden unserer höchsten Not hervortritt und uns ein Zeichen gibt oder uns einen Engel sendet. So berichten es jedenfalls Menschen, die zusammengebrochen waren. Daß der Mensch gerade an den Grenzen seiner Existenz Erfahrungen des Numinosen machen kann, ist seit Urzeiten vertraut. Wo der Boden des alltäglichen, gewohnten Lebens brüchig wird, kommt die Frage nach dem tragenden Grund des Lebens in den Blick, bzw. nach dem, der dieses Leben geschaffen hat. Dann kann es sein, daß sich darüber nach und nach eine völlig neue Sicht der eigenen Existenz erschließt, aus der einem neue Kräfte und ein ganz neues Lebens- und Selbstverständnis zuwachsen. Schon lange bevor sich die Vorstellung vom »Christus medicus« herausgebildet hat, wußte man, daß die tiefsten Wunden nur Gott selber heilen kann – und daß es darum wichtig ist, schwer Kranke, tief Verletzte und Erschütterte in Kontakt mit ihm zu bringen. Ganz selbstverständlich wurde in alten Zeiten die Religion zugleich als Medizin verstanden und die »Gottesmänner« (und »-frauen«) galten auch als Heiler. Elia hatte sich ja selbst als ein solcher erwiesen, indem er, wie das Kapitel vor unserem Text berichtet, den Sohn der Witwe von Zarpath wieder zum Leben erweckte. Nun aber ist er ein »wounded healer«, ein Heiler, der selbst der Heilung bedarf.

»Steh auf und iß!« Ein Engel berührt den Daliegenden. Eine – wenn es sein muß, auch einmal energische- Anrede von außen, eine fürsorgliche Berührung, ein Krug mit frischem Wasser, geröstetes Brot, und dann wieder schlafen dürfen – es sind die elementaren Dinge, die wichtig sind für einen Menschen, der am Ende ist. Daß zur Seelsorge auch die Leibsorge gehört, wird in der Bibel oft gezeigt. Wie anrührend auch, daß der Engel den Verzweifelten noch einmal schlafen läßt! Kein »Auf, auf! Marsch, Marsch!«, sondern himmlische Geduld. Dem andern Zeit geben, warten können, darauf kommt es an. Druck hat der Gequälte schon genug.

Aber all das ist noch nicht die Heilung, es bereitet ihr erst den Boden. Die Heilung kommt in Gang, wenn man sich wieder in Bewegung setzt. Für jemand, der schon so tief eingedrungen war in die »Todesschattenschlucht«, wie Elia, ist es ein langer Weg zurück ins Leben. Vierzig Tage und vierzig Nächte ist der Prophet unterwegs. Psychologisch gesehen ist das eine Zeitspanne, in der sich in der Seele etwas ändern kann. Mit Sicherheit war dieser Weg des Elia auch eine Reise ins Innere, denn am Ende dieses Weges wird er seinem Gott begegnen. Die Erfahrung mit Menschen, die durch eine schwere Lebenskrise gehen, lehrt, daß körperliche Bewegung, vor allem das Wandern oder besser noch: das Pilgern, ein vorzügliches Heilmittel für den inneren Menschen ist. In früheren Zeiten war es durchaus üblich, daß sich jemand, den eine schwere Erschütterung getroffen hat, auf eine Pilgerreise begab – an deren Ende er oder sie gefestigter im Leben stand als je zuvor. Vielleicht ist diese alte Weisheit auch eine verborgene Triebfeder für die erstaunliche Renaissance, die das Pilgern auf dem Jakobsweg und anderen alten, heiligen Routen heute erfährt. Jedenfalls brauchen Menschen, die in eine Lebenskrise geraten sind, eine Auszeit. In schwierigen Zeiten wird es für uns besonders wichtig, einen geschützten, bergenden Raum zu finden, in den wir uns leiblich und an dem wir uns dann auch seelisch zurückziehen (regredieren) können, eine »Höhle« wie jene, in der Elia am Horeb Schutz sucht (1. Könige 19, 9). Besser freilich als eine Höhle aus Stein oder eine Bettdecke, die man übers Gesicht ziehen kann, ist die bergende Gemeinschaft wohlmeinender Menschen. Und es wird wichtig, zur Ruhe zu kommen, den Aktivismus aufzugeben, eine Zeitlang gar nichts mehr zu wollen und zu tun. Nur sein, der oder die man jetzt ist. Hinfühlen an den Schmerz. Sich ihm stellen, und auch der Wut darüber, daß es einem so ergeht. Alles zulassen, was ist. Verzweiflung, Angst und Hoffnungslosigkeit, aber auch Aggression, Enttäuschung und Bitterkeit.

Erika Schuchardt, die unter dem Titel »Warum gerade ich? Leben lernen in Krisen« (Göttingen 19969) ein Standardwerk zum Verständnis vom Krisenprozessen geschrieben hat, betont, daß gerade der Phase der Aggression bei der Krisenbewältigung eine Schlüsselfunktion zukommt. Die aufflammende Aggression hat kathartische Wirkung. Ihre Energie bricht die Erstarrung auf, man wird wieder lebendig, kommt in Kontakt mit sich, Gefühle werden wieder gespürt. Das Unterdrücken, Verleugnen oder Überspringen der Aggression kann den Stillstand der gesamten Krisenverarbeitung bedeuten, die Betroffenen bleiben dann in ihrer Lähmung hängen oder driften ab in eine maskenhafte Pseudoidentität. Beides führt letztlich zu ihrer sozialen Isolation. Kann die Aggression aber zur Geltung kommen, verstärken sich die Tendenzen zur Annahme des Leidens sowie zur Wiederaufnahme des Kontakts mit der Umgebung und damit zur sozialen Integration.

Leider fällt gerade Menschen, die in einem der sogenannten »helfenden Berufe« tätig sind, der Kontakt mit ihren aggressiven Regungen oft so schwer. »Helfer«, vor allem christliche, wollen (und sollen) doch »nur Gutes« tun, Aggression gilt in unserer Gesellschaft, vor allem aber in der Kirche, nach wie vor eher als »böse«. Auch hier könnten wir wieder von der Bibel lernen. Im Buch Hiob und in den Psalmen bietet sie uns eine Fülle von Beispielen dafür, daß es den Kindern Gottes erlaubt ist, zu klagen und zu hadern, ihr Leid hinauszuschreien, ihrem Elend Luft zu machen. Was uns in der leiblichen Medizin ganz selbstverständlich ist, gilt auch im seelischen Bereich: Erst wenn der Eiter ab fließt, kann die Wunde heilen. Indem man dem Ausdruck verleiht, es »ausdrückt«, was einen bedrückt, wird der Druck allmählich geringer. Freilich geht das nicht so einfach, wenn einem das Leid den Mund verschließt. Dem anderen zu helfen, daß er sich mitteilen kann, wieder »sprachfähig« wird, gehört darum zu den besonders wichtigen Elementen einer seelsorgerlichen Begleitung. Hat aber die Aggression ihren Raum gehabt, geht es darum, zu akzeptieren, daß es nun einmal so ist, wie es ist, daß man am Boden liegt und nicht mehr kann, sich in seinem Scheitern anzunehmen. Auf eines dürfen wir vertrauen: Er, unser Schöpfer und Erlöser, wird das geknickte Rohr nicht zerbrechen.

Aber auch dies ist nur eine Übergangsphase. Wenn man ruhig geworden ist und wieder etwas atmen kann, kommt die Zeit der Bestandsaufnahme, des genauen Hinschauens. Auch dafür braucht man freilich einen Menschen, oder einen Engel, der sich einem an die Seite stellt. Zwei sehen allemal mehr als einer. Für Burnout-Betroffene kommt es nun darauf an, unter fachkundiger Begleitung zu analysieren, welche Faktoren es waren, die einem schleichend die Kräfte abgezogen haben. Liegt es an der Art der Aufgaben oder an deren Menge? An der Arbeitszeit? Am Arbeitsklima? An der Konstellation im Kollegenkreis? Am Führungsstil im Betrieb? Und dann gilt es, genau zu prüfen, welche Veränderungen möglich und nötig sind, ob vielleicht sogar ein Berufswechsel angezeigt ist. Ebenso wichtig ist die Frage: Wie lassen sich persönliche Ressourcen erschließen? Durch Fortbildung, durch ein psycho-physisches Fitnessprogramm, durch einen spirituellen Weg? Je genauer die Analyse, desto effektiver die einzelnen Maßnahmen.

Auch für Elia gibt es eine entscheidende Veränderung: Ihm wird von Gott ein Begleiter zur Seite gestellt, dem er schließlich sein Amt übertragen darf: Elisa. Gott pumpt seine Mitarbeiter nicht bis zum letzten aus. Wer angepackt hat, darf auch wieder loslassen. Wunderbar auch, wie Gott schließlich das Lebenswerk seines Propheten würdigt, indem er ihn mit einem Feuerwagen zum Himmel aufsteigen läßt. Gewürdigt zu werden in dem, was man tut, ist ein ganz elementarer Faktor bei der der Burnout-Prophylaxe, darin sind sich alle Burnout-Forscherlnnen einig.

Allerdings sind es auch beim Burnout-Syndrom nicht nur berufliche Gründe, die zur Krise führen. Wie wäre es sonst zu erklären, daß unter den gleichen Arbeitsbedingungen einige ausbrennen und andere nicht? Zur Entstehung eines Burnout-Syndroms tragen wesentlich auch innere Faktoren bei. Ganz entscheidend ist dabei, welches Selbstbild jemand hat – und welches Gottesbild. Bin ich jemand, der stets mehr geben will als nehmen? Der es möglichst allen recht machen will? Der alles, was er tut immer hunderfünfzigprozentig tun muß? Der alles selbst machen muß, nichts loslassen, nichts hergeben kann? Eigenartigerweise findet man gerade unter den Dienern Gottes immer wieder solche Personen. »Er hat keine Zeit und gibt auch nichts ab« – so lautete das Urteil einer Kirchenvorsteherin auf die Frage, was den Beruf des Pfarrers heute so schwierig mache. Dieses an sich erstaunliche Phänomen hat tiefenpsychologisch seine Ursachen wohl hauptsächlich in einem hohen Ich-Ideal, und jener gerade bei Geistlichen (aber auch ehrenamtlich im Raum der Kirche Tätigen) oft rigiden Über-Ich-Struktur mit dem daraus erwachsenden, für kirchliche Berufsgruppen mitunter so charakteristischen Gemisch aus Pflichtgefühl und Sendungsbewußtsein. Der Chor der »inneren Antreiber«, wie er eindrücklich von der transaktionsanalytischen Psychologie beschrieben wird (Sei perfekt! Streng dich an! Sei stark! Mach es allen recht! Zeig ja keine Blöße! etc.), erhebt manchmal in den christlichen Gemeinden und vor allem in Pfarrerskreisen seine Forderungen noch einmal eindringlicher als anderswo. Könnte es sein, daß dahinter, allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz, eben doch nicht der annehmende, zugewandte Gott steht, den Jesus verkündigt hat, sondern ein »gesetzlicher« Gott, ein harter, strenger Über-Vater, der fordert und straft und vor dem man sich nur ja keine Fehler erlauben darf? Daß es krankmachende Gottesbilder gibt, diese Erkenntnis hat uns jedenfalls nicht erst Tilman Moser mit seiner schrecklichen »Gottesvergiftung« gelehrt.

Hatte nicht Elia möglicherweise auch so ein »kränkendes« Gottesbild, eines immerhin, das ihn dazu gebracht hat, in blindwütigem Fanatismus 450 Männer eigenhändig zu töten? Könnte es sein, daß er heimlich, sich selbst uneingestanden, phantasierte, in seinem Eifer für Gott an dessen Allmacht teil zuhaben? Und blieb darum vielleicht gar nichts anderes übrig, als daß ihm erst das ganze falsche Identitäts- und Glaubensgebäude das er sich zurechtgezimmert hatte, zerbrechen mußte, bevor ihn Gott berühren konnte? Schon vor längerer Zeit hat die Beraterin Ingeborg Roessler die seelische Grundproblematik vieler »Gottesmänner« auf die schlüssige Formel gebracht, daß sie sich hin und her gerissen fühlen zwischen verschwiegenen »Allmachtswünschen« und immer wieder erlittenen »Ohmachtserfahrungen«. Sie weist auf eine gerade für den geistlichen Beruf typische, wechselseitige Potenzierung von zwei destruktiven Kräften hin: der »Anmaßung von Innen« und der »Zumutung von Außen«. Die »Anmaßung von Innen« äußert sich im unbewußten Streben gerade vieler Pfarrer und Pfarrerinnen, ein idealer Mensch (bzw. ein »braves Kind«) sein zu wollen. Dahinter steht jene von Heinz Kohut, Donald W. Winnicott und dann vor allem von Alice Miller beschriebene narzißtische Dynamik, daß Kinder, um sich die Zuneigung ihrer Bezugspersonen zu erhalten, mitunter ein »falsches Selbst« entwickeln, indem sie vermeintlich oder tatsächlich von diesen Bezugspersonen abgelehnte eigene Emotionen, verdrängen, vor allem solche aggressiver Natur. Die »Zumutung von Außen« besteht darin, daß viele Gemeindeglieder dazu neigen, das überhöhte Ich-Ideal der Pfarrer eben falls unbewußt – nicht selten jedoch auch absichtlich – zu stützen oder sogar noch zu verstärken. Psychologisch gesehen werden hier freilich eigene, unerfüllbare Größenphantasien auf die Person des Pfarrers projiziert.

Besonders beeindruckend ist auch unter diesem Gesichtspunkt der Höhepunkt der Eliageschichte: Dem Propheten, der Gottes Ehre mit Feuer und Schwert zu verteidigen suchte, offenbart sich Jahwe am Scheitelpunkt seines Weges auf dem Berg Horeb eben gerade nicht »in dem großen und starken Wind, der Berge zerriß und die Felsen zerbrach«, auch nicht im Erdbeben und nicht im Feuer, sondern in einem »stillen, sanften Sausen« (1. Könige 19, 11f.). Jahwe ist nicht die gewaltige, gewalttätige, eifernde Gottheit, die Elia wohl beim Schlachten der Baalspriester vor Augen hatte, kein Gott des Zorns, der Starken, des Sieges, sondern ein Gott der leisen Töne, lind, zärtlich und behutsam, wie jenes wundersame Wehen, das des Propheten Wangen umspielt. Und wie liebevoll wendet sich dieser, als strenges und forderndes Über-Ich phantasierte Gott nun seinem niedergeschlagenen Knecht zu: Kein Tadel, keine Strafe, keine »Reiß-dich-zusammen!«-Befehle. Gott überträgt Elia vielmehr die ehrenhafte Aufgabe, zwei Könige zu salben. Und er entlastet ihn, indem er ihm einen Gefährten und Gehilfen zur Seite stellt. Bezogen auf die Burnout-Thematik lassen sich hier gleich mehrere wichtige Elemente einer hilfreichen Begleitung erkennen: – In Beziehung treten zu dem Zusammengebrochenen, – ihn nicht noch mehr in die Enge treiben mit Forderungen oder Vorhaltungen, – ihn ernst nehmen und ihm dann auch wieder eine wichtige Aufgabe zutrauen, jedoch vor allem: – ihn entlasten.

Gibt es nun in diesem vorchristlichen Erzählgut der Eliageschichte auch einen Bezug zu unserem Glauben an Christus? Ich meine: Zwischen den Zeilen liegt er offen zutage. Unbestritten ist es ja eine Kernaussage unseres Glaubens, daß Christus in den Situationen unseres Scheiterns gegenwärtig ist. Jesus hat selbst in seiner Passion die Tiefen menschlichen Leidens und Scheiterns bis auf den Grund durchlitten. Aber er hat auch erfahren, daß Gott die, die nach ihm schreien, an den Pforten der Hölle und des Todes nicht fallen läßt. »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt« sagt der Erhöhte den Seinen. Daß im Glauben an ihn der Schlüssel für alle Heilung des Menschen liegt, davon waren die Christen seit den Anfängen überzeugt. War Jesus nicht vor allem gekommen, um den Kranken, Verwundeten und »Gebrochenen« ein Arzt zu sein? In der Tat nehmen die Heilungen in Jesu öffentlichem Wirken eine zentrale Stellung ein. Sie gehörten so sehr zu ihm, dass die Christenheit ihm den Ehrennamen ›Heiland‹ gab. Dieses Wort leitet sich etymologisch vom althochdeutschen Verb ›heilan‹ ab und schlägt damit eine erstaunliche Brücke zwischen Christusglauben und medizinischer Heilkunst. In diesen Rahmen verweisen auch die aus der kirchlichen Tradition zahlreich dokumentierten Zeugnisse über Jesus als Arzt oder Apotheker. Die schon vorchristliche Vorstellung, daß der Glaube an Gott gesund machen kann, wurde so in der Christus-Medicus-Tradition der frühen Christenheit und vor allem des Mittelalters zur höchsten Blüte kultiviert, besonders intensiv in der Arbeit und der Gedankenwelt der Spital-, Hospiz- und Krankenpflegeorden. Deren Angehörige wußten sich nicht nur vom Herrn der Kirche direkt zu ihrem Dienst berufen, sie waren auch fest überzeugt, daß für die Kranken der Blick auf Christus und das Gebet zu ihm das entscheidende Therapeutikum für ihre Genesung, oder zumindest zum Ertragen ihres Leides ist. So findet sich z.B. in einem Tympanon des Ospedale Santa Maria in Florenz eine Ikonographie des leidenden Christus, der seine Seitenwunde als Tor zur Heilung und zum Heil zeigt. Im Ospedale degli Innocenti (Findelhaus) in Florenz und dem von Francesco Sforza 1456 gegründete Ospedale Maggiore in Mailand öffnet sich der Krankensaal ebenso zum Hauptaltar hin wie beispielsweise in dem zur Pestzeit eröffneten Klosterspital Hôtel Dieu im französischen Beaune, wo es erstaunlicherweise kaum zu Neuerkrankungen aber zu vielen Genesungen kam. Diese Grundauffassung der Hospitalorden hat übrigens der jüngst verstorbene Nestor der deutschsprachigen Pastoralpsychologie, Hans-Joachim Thilo, zum Ausgangspunkt seiner lesenswerten Studie über »Die therapeutische Funktion des Gottesdienstes« (Kassel 1985) genommen, in der er neben kultsoziologischen Beobachtungen vor allem auf die heilsame und heilende psychologische Dimension des gottesdienstlichen Feierns eingeht.

Religiosität und Glaube können auf vielfältige Weise heilen und heilsam sein. Das ist heute nicht weniger so, wie vor fünfhundert oder zweitausend Jahren. Nur wenige Menschen wissen aber noch, wie sie ihre Religiosität für ihre Heilung fruchtbar machen könnten. Viele verlangen heute von Heilmitteln eine schnelle und sichere Wirkung. Der Glaube wirkt jedoch nicht wie eine Tablette, die man schlucken kann, und nach fünf Minuten geht es einem besser. Der therapeutische Effekt des Glaubens ist immer mit Arbeit an der eigenen Persönlichkeit verbunden. Außerdem ist die Wirkung von Mensch zu Mensch unterschiedlich: Bei einem wirkt der Glaube zur Genesung, der anderen hilft er, besser mit der Krankheit umzugehen, beides aber ist »heilsam«. Eine entscheidende Quelle der Gesundung ist das Gebet und die Meditation in ihren verschiedenen Formen. Daß die Rede vom »Gesundbeten« nicht nur eine frömmelnde Redensart ist, sondern daß Beten tatsächlich gesund erhalten oder die Genesung fördern kann, haben neben ungezählten anderen nicht nur Hildegard von Bingen und Martin Luther, Johann Christoph Blumhardt und Sebastian Kneipp gewußt, diese Erkenntnis wurde in jüngster Zeit durch verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt. Beten und singen, die Teilnahme am Gottesdienst, der Genuß des Abendmahls, die Einhaltung stiller Zeiten und andere religiöse Übungen wirken entspannend und reduzieren Stress. Es hat sich gezeigt, dass Patienten, die meditieren, nach einer Operation weniger lang bettlägerig sind und weniger Schmerzmittel brauchen. Meditation kann aber auch in der Prävention von durch Stress bewirkten Krankheiten helfen. Nicht zuletzt haben Menschen mit religiöser Überzeugung auch bessere Strategien zur Bewältigung von leidvollen Erfahrungen als nichtreligiose. Sie vertrauen auf eine liebevolle Macht, die stärker ist als menschliche Umstände. Das kann helfen, bedrängenden Erlebnissen einen Sinn abzugewinnen und sie ins Leben zu integrieren. Religion kann die mit Schicksalsschlägen verbundenen Gefühle wie Sinnlosigkeit oder Verlust von Selbstachtung positiv beeinflussen. Der Glaube an eine personale transzendente Macht ist eine Quelle des Trostes und der Hoffnung. Darüber hinaus fördert praktizierte Religiosität die sozialen Beziehungen, und diese soziale Einbindung kann vor Einsamkeit und Depression schützen. Leider haben es die christlichen Kirchen in der Vergangenheit oft nicht verstanden, diese »heilenden Potentiale« der ihnen anvertrauten Botschaft fruchtbar zu machen.

In ganz besonderer Weise aber kann der christliche Glaube bei der Prävention und Therapie des Burnoutsyndroms seine therapeutische Kraft entfalten – wenn er sich denn wirklich am Evangelium orientiert. Der Kern des Evangeliums ist ja, wie uns Jesus mit seinem ganzen Leben gezeigt hat, wie uns später Paulus eindringlich vor Augen führte und wie es schließlich Martin Luther für uns neu entdeckt hat, die Überzeugung, »daß der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.« (Römer 3, 28). »Ohne des Gesetzes Werke« – das geht direkt ins Herz aller falschen Leistungsideologie. Die wahrhaft befreiende Botschaft des Evangeliums lautet, daß uns Gott eben nicht, wie so viele unserer Mitmenschen, nach unseren Anstrengungen und Erfolgen beurteilt, sondern nach unserem Glauben, das heißt: nach unserem Vertrauen auf ihn. Möchte man diese entlastende Botschaft nicht all jenen ins Stammbuch schreiben, die meinen, sie müßten sich durch übertriebene christliche »Werkerei« den Himmel erst verdienen? Und wäre es nicht gerade in den sogenannten »helfenden Berufen« die Pflicht derer, die führen und leiten, daß sie darauf achten, daß neben der Nächstenliebe auch die von Christus gebotene Selbstliebe ausreichend Raum bekommt? Insofern gehört es zu den Kardinalaufgaben einer therapeutischen und seelsorgerlichen Begleitung vom Burnout Betroffener, sie zu verlocken, diese befreiende und erlösende Sicht bis in die Kapillargefäße ihres inneren Menschen und bis in die feinsten Äußerungen ihrer gesamten persönlichen Existenz hinein zu meditieren und durchzubuchstabieren.

Dann kann auch die Burnout-Krise, wie jede Lebenskrise, zur Chance eines neuen und vertieften Lebens werden – eines Lebens, in dem ich nicht mehr mich selbst, aber auch nicht mehr die Menschen, die mich umgeben (z.B. meine Mitarbeiter/innen, meine Gemeindeglieder, meine Schüler oder auch meine Ehefrau und meine Kinder) unter Druck setzen und überfordern muß.

Die chinesische Sprache bringt jenes tiefe Wissen, daß da wo das Alte zerbricht, Neues entstehen kann, sehr schön zum Ausdruck: Das chinesische Schriftzeichen für »Krise« birgt zugleich zwei Bedeutungen in sich, nämlich: »Gefahr« und »Chance«. Gerade dies bezeugen ja viele Menschen, die durch schwerste Krisen hindurchgehen mußten, daß die ihnen auferlegte seelische Qual sich im Nachhinein als überaus wertvoll für ihre innere Entwicklung, ihre sozialen Bezüge und auch für ihre Gottesbeziehung herausgestellt hat. Wer einmal durch das Mahlwerk einer existentiellen Krisenerfahrung getrieben wurde, wird in der Regel »weicher«, zugänglicher, aufgeschlossener und vor allem behutsamer und verständnisvoller gegenüber denen, die gerade selbst eine Krise durchleiden. Krisenerfahrungen kommen vor allem der Seelsorge zugute. Wer selbst einmal an die Grenzen geführt wurde, wird Menschen, die Grenzerfahrungen durchleiden müssen, besser verstehen und zärtlicher und einfühlsamer mit ihnen umgehen. Ein »wounded healer« kann einfach besser begleiten und heilen als einer, der noch nie Verletzungen erlitten hat. Das weiß nicht nur die uralte Weisheit der Religionen, es bestätigt sich immer wieder bis auf den heutigen Tag. Solche eigenen Erfahrungen sind gleichsam der Brunnen, aus dem die Seelsorge ihre Kraft und Empfindsamkeit schöpfen kann. Menschen, die ein Burnoutsyndrom bewältigt haben, können insofern einen entscheidenden Beitrag leisten zur Prophylaxe und zur Therapie des Burnout. Vor allem sind sie »living human documents« dafür, daß unsere Krisen uns nicht zerstören müssen, sondern lebendiger machen können.

 

 

Über die Autorin / den Autor:

Dr. A. v. H., geb. 1952 in Bad Ems, aufgewachsen in Bad Tölz. Studium der evangelischen Theologie in Neuendettelsau und München. Von 1976 bis 2001 tätig als Pfarrer in verschiedenen Gemeinden Bayerns und in der Klinikseelsorge. Seit 2001 Krankenhauspfarrer in Göppingen (Württemberg). 1992 Promotion bei Richard Riess mit einer Arbeit über die Kritische Theorie von Horkheimer und Adorno. 2003 Habilitation im Fach Praktische Theologie (Zwischen Burnout und spiritueller Erneuerung, Frankfurt 2003).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 6/2004

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