1.1 Der Anstoß

Menetekel überm Wartestand. Menetekel, zu deutsch: gezählt. Dem Bibelleser ist dieses aus dem Daniel Buch Kapitel 5 stammende Wort wohlvertraut. »Finger wie von eines Menschenhand schrieben auf die getünchte Wand im königlichen Saal« die verhängnisvollen Worte: Deine Tage sind gezählt. Die Worte kündigten das Ende der Gewaltherrschaft des Königs Belsazars an: Deine Tage sind gezählt.

Menetekel – die Tage des Rechtsinstituts Wartestand sind gezählt. Zu diesem Ergebnis kommt die vorliegende Schrift. Sie hat die Bestimmungen der Württembergischen Landeskirche über den Wartestand an biblischen, reformatorischen und juristischen Maßstäben gemessen und auch die Gravamina in der Handhabung durch die Kirchenverwaltung dabei im Blick gehabt.

Menetekel ist eine kühne Behauptung zu einem Zeitpunkt, da eine öffentliche Diskussion in der Landeskirche erst langsam in Gang kommt. Viele Jahrzehnte war dieses Instrument der Kirchenverwaltung unumstritten. Es fand, soweit es der Verfasser sieht, weder bei seiner Einführung in der Nazizeit noch bei seinen zahlreichen Anreicherungen im Laufe von 60 Jahren eine theologische oder juristische Reflexion statt. Das ist nicht leicht nachzuvollziehen, wenn man bedenkt, welche tiefgreifenden, negativen Auswirkungen die Versetzung in den Wartestand für den Pfarrer, seine Familie, die betroffene Gemeinde und das Ansehen der Landeskirche insgesamt hat. Noch unverständlicher ist es, wenn man Ernst damit macht, dass sich die Landeskirche allein der biblischen Botschaft und dem Zeugnis der Reformation verpflichtet weiß2 und dass aus diesem Grund alles kirchliche Recht an diesen Maßstäben gemessen werden muss.

 

Was sind die Gründe für diesen Mangel an Bewusstsein?

Die Einführung des Wartestandes in der Nazizeit wurde in Württemberg mit dem Unbehagen der Verwaltung über die vorher geltende Zwangspensionierung begründet. Mit dem Wartestand sollte dieser abrupte Wechsel »abgefedert« werden. Dem Pfarrer blieben damit noch einmal ein paar Jahre Zeit, sich eine neue Existenz aufzubauen. 3 Da der Wartestand aber die Zwangspensionierung als Strafmaßnahme ablöste, war damit zugleich eine erhebliche Rufschädigung und Diskriminierung verbunden und erfüllte somit zugleich die Funktion der Disziplinierung der Pfarrerschaft in einer politisch unruhigen und brisanten Zeit. 4 Eine juristische Überprüfung konnte sich die Kirche ersparen, da sie in ihrem Bereich eigenes Recht setzen durfte. Das war ihr in der Weimarer Verfassung zugebilligt. Da der Wartestand wegen seiner diskriminierenden Wirkung in der Pfarrerschaft stark tabuisiert war, gab es auch hier keinerlei Diskussionen über seine theologische Berechtigung. Synode und Kirchenverwaltung brauchten keinen Widerstand zu fürchten. Weltliche Gerichte wiesen Klagen mit dem Hinweis auf die so genannte Statusfrage zurück. Erst in den letzten zehn Jahren ist hier etwas in Bewegung geraten. Eine Vielzahl von Klagen in vielen Landeskirchen wurden und werden vor kirchlichen und weltlichen Verwaltungsgerichten verhandelt. Erste Klagen sind beim Bundesverfassungsgericht anhängig.

Die vorliegenden Ausführungen kommen zu dem Schluss: Menetekel überm Wartestand, deine Tage sind gezählt.

 

1.2 Die rechtlichen Bestimmungen

Der Wartestand ist eine Rechtskonstruktion sui generis, die es nur im kirchlichen Recht gegenüber Pfarrern und Pfarrerinnen gibt. Vergleichbare Maßnahmen kennt das staatliche Recht bei Beamten nicht. In den einzelnen Landeskirchen ist er verschieden ausgestaltet und wird auch unterschiedlich gehandhabt. 5 In zahlreichen Einzelbestimmungen des Württembergischen Pfarrergesetzes, des Pfarrerbesoldungsgesetzes, des Pfarrerversorgungsgesetzes, der Lehrbeanstandungsordnung und des Disziplinargesetzes der Evangelischen Kirchen in Deutschland wird der Wartestand geregelt. 6

Das Gesetz sieht vor, dass die Kirchenverwaltung einen Pfarrer seines Pfarramtes entheben kann. Mit der Amtsenthebung verbunden sind eine Reihe von Maßnahmen, die faktisch einer Bestrafung ohne Schuldnachweis gleichkommen wie z.B. Gehaltskürzung, gegebenenfalls auch Pensionskürzung, Verlust der Dienstwohnung. Die Geistlichen haben während der Zeit des Wartestandes kein Mitspracherecht bei ihrer dienstlichen Verwendung. Auf die Familie wird keine Rücksicht genommen. Nur mit Zustimmung des Oberkirchenrates dürfen sie sich bewerben, eine Handhabung, die allerdings durch das Gesetz nicht gedeckt ist. Finden sie nicht innerhalb von fünf Jahren, in manchen Landeskirchen schon nach zwei oder drei Jahren, eine neue Stelle, wird der Ruhestand verfügt. Alles in allem Maßnahmen, die in ihren Konsequenzen oft weit über Sanktionen des Disziplinarrechts hinausgehen. Obwohl Oberkirchenrat und Sprecher der Landessynode betonen, der Wartestand sei keine Disziplinarmaßnahme7 hat sich bis heute nichts geändert.

Hinzu kommt, dass zahlreichen Bestimmungen über den Wartestand »Kann-Vorschriften« sind oder unscharfe Begriffe enthalten wie zum Beispiel »erscheint«. Die Verwaltung hat damit in der Handhabung des Wartestandes einen großen Ermessensspielraum. Für die Betroffenen sind die Entscheidungen mit einem hohen Maß an Rechtsunsicherheit verbunden. und wirken deshalb oft willkürlich.

In der Württembergischen Landeskirche gibt es außerhalb des Disziplinarrechts eine Vielzahl von Gründen, die zum Wartestand führen können. Der häufigste Fall ist ein Konflikt zwischen Pfarrer und Kirchengemeinderat. Weiterhin können zum Wartestand führen: Übernahme eines politischen Mandats, z.B. Gemeinderat oder Ortschaftsrat, Heirat ohne Erlaubnis oder nach Beendigung eines Erziehungsurlaubs. 8

Sehr schwer wiegt die mit dem Wartestand verbundene Rufschädigung. Historisch gesehen ersetzte der Wartestand bei seiner Einführung 1942 die Zwangspensionierung als Strafmaßnahme. 9 Heute wird der Wartestand auch verhängt, wenn dienstliche oder strafrechtliche Verfehlungen vorliegen. Damit gerät bei Kollegen und Gemeindeglieder jeder Pfarrer im Wartestand in die Nähe eines Straftäters. Die mit dem Wartestand verbundenen Strafmaßnahmen tragen weiterhin zur Schädigung des Rufes bei. Synode und Oberkirchenrat ist dies durchaus bekannt. Trotz entsprechender Anfragen und Eingaben hat sich nichts geändert. Die aus allen diesen Gründen gut zu verstehende Tabuisierung des Themas in der Pfarrerschaft trägt ein übriges zur Rufschädigung bei.

 

2. Biblisch-theologische Gründe gegen den Wartestand

 

2.1 Das Messen an biblischen Maßstäben

Aus der Fülle biblischer Aussagen zu der Frage des rechten Umgangs von Christen miteinander seien hier herausgegriffen: Gottebenbildlichkeit des Menschen, Nächstenliebe, das geschwisterliche Gespräch und der Wille zur Versöhnung.

Von seiner Schöpfung her ist der Mensch durch seine Gottebenbildlichkeit (Genesis 1, 28) mit einer unableitbaren, allein in Gottes Gnade begründeten Würde ausgestattet. Gottebenbildlich bedeutet, dass auf jedes Menschen Antlitz ein Glanz von Gottes Glanze liegt. In der Würde des Menschen sind die Menschenrechte angelegt, wie sie z.B. im Grundgesetz der Bundesrepublik verankert sind. Diese Würde gebietet es, respektvoll mit Leben, Seele und Ruf des Mitmenschen umzugehen.

Im Doppelgebot der Liebe (Lukas 10, 12) konkretisiert Jesus diese Haltung, wobei die Liebe zum Nächsten zurückgebunden wird an die Liebe zu Gott. Noch einmal macht Jesus diese Haltung in der Goldenen Regel konkret: »Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.« ( Matthäus 7, 12.)

Menschliches Miteinander ist geprägt von Interessengegensätzen und Meinungsverschiedenheiten. Das wird ernst genommen in der Ermahnung zum geschwisterlichen Gespräch. Unübertreffbar ist das Beispiel von Abraham und Lot.

Genesis 13: Es gibt Streit wegen unterschiedlicher Interessen. Als Lösung wird eine Trennung vereinbart, ohne dass es zum Bruch zwischen den beiden kommt. Einer lässt dem anderen die Wahl im Vertrauen darauf, dass Gott ihn recht führen wird und für ihn sorgt.

Oder die Auseinandersetzung zwischen Petrus und Paulus, als es um die Frage der Heidenmission ging: Apostelgeschichte Kapitel 15; und aus der Sicht des Paulus Galater Kapitel 2. Auch hier wird im gemeinsamen Gespräch so lange gerungen, bis man zu einer christlichen Lösung kommt.

Menschliches Miteinander wird oft gestört durch Schuld. Durch Gespräche unter vier Augen oder im Beisein von Zeugen muss dann versucht werden, Schuld anzusprechen und wenn es geht zu beseitigen: Matthäus 18,15–20 die so genannte Gemeinderegel.

Wo Schuld geschieht, muss der Wille zur Versöhnung da sein, um den gestörten Frieden wieder herzustellen: »Lasst die Sonne über euren Zorn nicht untergehen.« (Epheser 4, 26.) Oder: »Und seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens.« (Epheser 4,3)

Alle diese Mahnungen sind gerichtet an Christen in der Gemeinde. Die Gemeinde ist der Ort, wo Glauben und Gehorsam gelebt werden und sich bewähren müssen. Die Gemeinde wird umschrieben mit dem Bild vom Leibe Christi: 1. Korinther 12. Alle Christen gehören in diesem einen Leib Christi zusammen. Von daher ist das Ergehen der anderen Christen nicht gleichgültig. »Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.« (1. Korinther 12, 26)

 

2.2 Reformatorische Einsichten

 

2.2.1 Zuordnung von Amt und Gemeinde

Die evangelischen Landeskirchen wissen sich allein der biblischen Botschaft und dem reformatorischen Bekenntnis verpflichtet. Diesen biblischen Grundlagen entspricht die reformatorische Zuordnung von Amt und Gemeinde. Verkündigung und Weitersagen der frohen Botschaft ist jedem Glaubenden aufgetragen. Die Verkündigung entfaltet sich in mancherlei Formen und Diensten. Die unterschiedlichen Dienste, in denen sich der Gesamtauftrag der Gemeinde entfaltet, sind nicht Ausdruck menschlicher Unzulänglichkeit nach dem Motto: Keiner kann alles, sondern sie werden als Gaben des heiligen Geistes verstanden, die in der Gemeinde und für die Gemeinde und für ihren Dienst an der Welt wirksam werden sollen. Innerhalb des Priestertums aller Gläubigen schafft sich nach reformatorischen Lehre die Kirche ein öffentliches Amt der Verkündigung, das der Pfarrer inne hat. »Denn, was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, daß er schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei, obwohl es nicht einem jeglichen ziemt, solch Amt auszuüben. Denn weil wir alle gleichermaßen Priester sind, darf sich niemand selbst hervortun und sich unterwinden, ohne unser Bewilligen und Erwählen das zu tun, wozu wir alle gleiche Gewalt haben. Denn was allgemein ist, kann niemand ohne der Gemeinde Willen und Befehl an sich nehmen.« 10

Im Augsburgischen Bekenntnis von 1530 Artikel 5 lesen wir dazu: Vom Predigtamt:

»Um zu diesem Glauben zu gelangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, das Evangelium und die Sakramente gegeben, durch die er als Mittel des Heiligen Geist gibt, den Glauben, wo und wann er will, in denen, die das Evangelium hören, wirkt, das da lehrt, dass wir durch Christi Verdienst, nicht durch unser Verdienst, einen gnädigen Gott haben, wenn wir das glauben.« 11

Das Wort Amt hebt das Tun des Pfarrers, der Pfarrerin aus der Sphäre des Privaten, Beliebigen, Zufälligen heraus. Obwohl alle Glaubenden zur Weitergabe des Evangeliums berufen sind, ist das Recht zur öffentlichen Verkündigung an die Ordination gebunden. 12 »Vom kirchlichen Amt13 wird gelehrt, dass niemand in der Kirche öffentlich lehren oder predigen oder die Sakramente reichen soll, ohne ordnungsgemäße Berufung«14. Keiner kann sich selber zum Pfarrer machen. Das Wort »öffentlich« ist nicht im heutigen Sinne von journalistischer Öffentlichkeit gemeint. Es bedeutet vielmehr: Die kirchliche Lehre und Verkündigung im Unterschied zur theologischen Privatmeinung. Öffentliche Verkündung ist also die von keinem allein, sondern von allen Gläubigen gemeinsam verantwortete Lehre des Evangeliums.

Dem reformatorischen Grundsatz der Zuordnung von Amt und Gemeinde entspricht das Ordinationsversprechen des Pfarrers, der Pfarrerin und die Amtsverpflichtung der Kirchengemeinderäte bei der Übernahme ihres Amtes. Das Ja-Wort des Ordinierten bedeutet, dass er oder sie bereit ist, den erteilten Auftrag der Verkündigung anzunehmen und sich damit zu identifizieren. Die in das Amt Berufenen dürfen wissen, dass sie rechtmäßig von dieser christlichen Gemeinde und von Gott selbst zu diesem Amt berufen sind. Die Berufung dient der Vergewisserung, wie sie für andere Berufe in dieser Intensität nicht erforderlich ist.

Das Ja-Wort der Gemeinde bzw. des Kirchengemeinderates bedeutet, dass sie diesen Pfarrer, diese Pfarrerin in den Dienst ruft und bereit ist, ihre Arbeit zu unterstützen. Im Akt der Berufung bekennt sich die Gemeinde zu der Person, die ihr im Amt begegnen soll. Sie erkennt die Gabe an, die dem Berufenen gewährt ist, und bekundet zugleich den Willen, in Gemeinschaft mit dem Amtsträger zu wirken. Vergleicht man Ordinationsgelübde und Amtsversprechen der Kirchengemeinderäte miteinander, so stimmen sie weitgehend wörtlich überein und sie sind nach dem gleichen Schema aufgebaut.

 

Ordinationsversprechen des Pfarrers der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, zugleich Versprechen bei jeder Amtsinvestitur:

Im Aufsehen auf Jesus Christus, den alleinigen Herrn der Kirche, bin ich bereit, mein Amt als Diener des göttlichen Wortes zu führen und mitzuhelfen, dass das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und in den Bekenntnissen der Reformation bezeugt ist, aller Welt verkündigt wird.

Ich will in meinem Teil dafür Sorge tragen, dass die Kirche in Verkündigung, Lehre und Leben auf den Grund des Evangeliums gebaut werde, und will darauf achthaben, dass falscher Lehre, der Unordnung und dem Ärgernis der Kirche gewehrt werden.

Ich will meinen pfarramtlichen Dienst im Gehorsam gegen Jesus Christus nach der Ordnung unserer Landeskirche tun und das Beichtgeheimnis wahren (§ 2 Abs. 4 Einführungsordnung).15

 

Die Amtsverpflichtung eines Kirchengemeinderates bei der Einsetzung lautet:

»Im Aufsehen auf Jesus Christus, den alleinigen Herrn der Kirche, bin ich bereit, mein Amt als Kirchengemeinderat zu führen und dabei mitzuhelfen, dass das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und in den Bekenntnissen der Reformation bezeugt ist, aller Welt verkündigt wird.

Ich will meinen Teil dafür Sorge tragen, dass die Kirche in Verkündigung, Lehre und Leben auf den Grund des Evangeliums gebaut wird, und will darauf achthaben, dass falscher Lehre, der Unordnung und dem Ärgernis gewehrt wird.

Ich will meinen Dienst im Gehorsam gegen Jesus Christus nach der Ordnung unserer Landeskirche tun.«16

2.2.2 Luther und Spener zur Frage einer Amtsenthebung eines Pfarrers

Für Luther gab es nur einen Grund, einen Pfarrer von seiner Stelle abzulösen: Wenn er falsche Lehre verkündigte. Er äußerte sich zu diesem Thema in einer Schrift aus dem Jahre 1523. Im Kurfürstentum Sachsen war ein Streit um die Besetzung einer Pfarrstelle ausgebrochen. Luther wurde um Rat gefragt. Er antwortete auf die Problematik mit einer kleinen Schrift mit einem langen Titel, die aber bis heute aktuell wirkt. »Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen.« 17 Schon vorher hatte der Reformator jedem Christ das Recht zugestanden, Gottes Wort zu predigen. Aber wo Gemeindeleben ist, da wird dieses Recht von der Gemeinde an Einzelpersonen d.h. an Pfarrer übertragen. Deshalb stand nach Luther einer Christengemeinde auch ein Doppeltes zu: Die Macht, eigene Lehrer sogar notfalls gegen den Willen eines Bischofs zu berufen, und das Recht, diese, sofern sie Irrlehren verbreiten, auch wieder abzuwählen. 18 Nur – und das ist entscheidend, kein Recht räumte Luther der Christengemeinde ein, ihren Pfarrer auch aus anderen Gründen abzuwählen, wie z.B. Zerrüttung. Schließlich ahnte auch er, dass es sie allezeit geben würde, jene »Unchristen, die unter dem Namen der christlichen Gemeinde menschliche Vorhaben treiben.« 19 »Denn Ehre und Glimpf (guter Name) ist bald genommen, aber nicht bald wiedergeben«, so Luther in seiner Auslegung zum 8. Gebot im Großen Katechismus. 20

Noch deutlicher äußerte sich Spener zu der Frage, ob eine Gemeinde ihren Pfarrer einfach wegschicken kann. Offensichtlich lagen ihm genügend Erfahrungen vor, wo Gemeinden ihren Pfarrer aus nichtigen Gründen – heute würde man sagen aus höchstpersönlichen Gründen – los werden wollten. Eindringlich warnte er: »Es sei zu verhüten, daß nicht, welches leichtlich geschehen würde, durch dergleichen Exempel die Zuhörer verwöhnt werden und sich dem Prediger widersetzen und sie auf allerlei Art zu reizen begännen, dass sie ihrer gerne los wären.« 21 Er sah jedoch auch realistisch, dass das Verhältnis zwischen Pfarrer und Gemeinde problematisch werden kann, so dass ein Wechsel unumgänglich ist. Ein solcher Wechsel darf ihn aber finanziell nicht benachteiligen und noch nicht einmal den Anschein einer Bestrafung haben: »Wo aber das Vertrauen und Liebe zwischen Prediger und der Gemeinde oder deren größten Theile gefallen wäre, man auch sähe, dass mit allem angewandten Fleiß (dazu man denn verbunden ist) die Gemüther nicht in eine solche Harmonie gebracht werden könnten, dass die Erbauung deswegen nicht Noth litte, daß man wartete, biß eine andere der vorigen gleich oder bessere Stelle vacant würde, die alsdann dem Prediger ohne dem Schein einer Strafe, gegeben würde.« 22

 

3. Juristische Gründe gegen den Wartestand

 

3.1 Das der Kirche eigene Recht und seine Grenzen

Die Kirche darf nach dem Grundgesetz eigenes Recht erlassen, muss aber dabei »das für alle geltende Gesetz« achten, mit anderen Worten, sie kann es nicht unbeschränkt und willkürlich. »So weit dieses Pfarrerdienstrecht weltliche Belange berührt, wird es vom Staat auf Grund der öffentlich-rechtlichen Körperschaftsgarantie und der darin enthaltenen Dienstherrenfähigkeit der Kirchen als öffentliches Dienstrecht anerkannt – u.a. mit der Folge, dass Pfarrer nicht dem Arbeits- und Sozialrecht unterliegen.« 23

Das hat zur Folge, dass es die Pfarrer schwer haben, gegen Maßnahmen des Kirchenverwaltung vor weltlichen Verwaltungsgerichten zu klagen. Die Rechtsprechung ist hier uneinheitlich. Oft werden sie mit dem Hinweis auf die so genannte Statusfrage abgewiesen. Ob es sich hier der Staat zu einfach macht, wird in der juristischen Literatur zunehmend diskutiert. Vor dem Bundesverfassungsgericht sind seit Jahren etliche Verfahren anhängig.

 

3.2 Keine Prüfung der Schuldfrage

Das Wartestandsverfahren sieht keine Prüfung der Schuldfrage vor. Für den Dienstgeber genügt es, die Zerrüttung festzustellen. Die Versetzung in den Wartestand wird vom OKR verfügt, ohne dass dem/der Pfarrer/in ein schuldhaftes Verhalten oder gar ein dienstliches Versagen nachgewiesen werden muss. Peter von Tiling hält es für bedenklich, dass im Rahmen der Abberufung eines Pfarrers wegen nicht gedeihlichen Wirkens kein Erhebungsverfahren stattfindet und überhaupt keine Gründe für die Abberufung erforderlich sind. 24 Zweifelhaft ist, ob so weit reichende Folgen wie sie der Wartestand mit sich bringt, ohne Schuldfeststellung getroffen werden können. Denn die Folgen des Wartestandes gehen oft über die des Disziplinarrechts hinaus.

 

3.3 Das Wartestandsgesetz hält den Vergleich mit dem Beamtenrecht nicht stand

Das Pfarrerdienstrecht ist dem Beamtenrecht nachgebildet und unterliegt damit dem so genannten Typenzwang. Er bedeutet, dass die Autonomie des kirchlichen Gesetzgebers nicht unumschränkt gilt, sondern prinzipiell an die vom Staat ausgebildeten Arbeitsrechtverhältnisse gebunden ist, es sei denn dass begründete kirchliche Glaubensüberzeugungen dagegen stehen. Den Nachweis, dass Wartestandbestimmungen Ausdruck von Glaubensüberzeugungen sind, bleibt die Kirche bis heute schuldig. Für das kirchliche Recht bedeutet dies, dass eine Bestrafung ohne Schuldnachweis, wie sie der Wartestand darstellt, untragbar ist. Weiterhin ist eine automatische Versetzung in den Ruhestand nach 3–5 Jahren Wartestand mit dem Beamtenrecht unvereinbar. Dort kann man zwangsweise nur wegen Krankheit oder aus disziplinarischen Gründen in den Ruhestand versetzt werden.

 

3.4 Verfassungsrechtliche Bedenken

Am schwersten wiegen jedoch die verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Frage stellt sich, ob manche Bestimmungen des Wartestands noch innerhalb des für alle geltenden Rechtes stehen.

Kritik wird dort laut, dass der Wartestand automatisch in den Ruhestand mündet, wenn ein Pfarrer nach fünf Jahren keine neue Stelle antreten kann, zumal allein der OKR darüber entscheidet, ob seine Bewerbung überhaupt berücksichtigt wird. Arno Schilberg z.B. wendet gegen diese Bestimmungen des Wartestandsgesetzes ein, es würde überkommenen Grundprinzipien des kirchlichen Rechts, des gemeinen Kirchenrechts, die seiner Meinung grundgesetzliche Wirkungen entfalten, widersprechen, einen Pfarrer, der dienstfähig ist und nichts Verkehrtes gemacht hat, in den Ruhestand zu versetzen.25 Dieser Automatismus widerspricht dem Geist des Berufsbeamtentums, dem das Pfarrerdienstrecht nachgebildet ist.

Im Beamtenrecht gibt es nur Gründe wie schwere Amtspflichtverletzungen oder Dienstunfähigkeit, die zur Entfernung aus dem Dienst führen. Wenn sich die Kirche so weit von den Grundsätzen des Berufsbeamtentums entfernt, könnte »staatlicherseits man die Notwendigkeit sehen, zu prüfen, ob die Befreiung des kirchlichen Dienstes von der Rentenversicherung und von der Zuständigkeit der Arbeitsgericht noch aufrechterhalten werden kann. Dies wäre eine gefährliche Sache«26 (sc. für die Kirche, Anm. des Verfassers). Auch an das Kirchenrecht werden Mindestanforderungen hinsichtlich rechtsstaatlicher Anforderungen gestellt. »Zu den rechtsstaatlichen Mindesterfordernissen gehört weiterhin ein besonderes Feststellungs- oder Erhebungsverfahren, das wesentlich besser als ein normales kirchliches Verwaltungsverfahren Offenheit und Objektivität gewährleistet, Möglichkeiten für eine argumentative Auseinandersetzung schafft und einem kirchlichen Gericht bessere Chancen der Nachprüfung eröffnet. … Als weiteres rechtsstaatliches Mindesterfordernis ist schließlich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten: Eine Versetzung mangels gedeihlichen Wirkens darf nur dann erfolgen, wenn andere Maßnahmen der Dienstaufsicht gegen über dem betroffenen Pfarrer oder gegenüber der Gemeinde oder die geistliche Begleitung der beteiligten Personen keinen Erfolg versprechen.« 27

 

3.5 Vorzeitige Versetzung in den Ruhestand kommt in manchen Fällen einem Berufsverbot gleich

Problematisch sind die vermögensrechtlichen Folgen des Wartestandes hinsichtlich der Besoldungs- und Versorgungsbezüge. 28 Manche Juristen halten die gekürzten Bezüge für Pfarrer im Wartestand sogar für verfassungswidrig. So Fachanwalt für Verwaltungsrecht Ralf M. Krüger in Würzburg. Für die Kürzung der Bezüge gebe es keine tragfähigen theologischen oder dogmatischen Gründe. Daher sei die Kirche an die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Beamtenrechts gebunden. Sie ließen keine einseitige »Teilaufkündigung« der Fürsorgepflicht zu. 29

Eine weitere Bestimmung verschärft die Situation noch. Nach kirchlichem Recht kann ein Pfarrer, der vor dem 65. Lebensjahr in den Ruhestand versetzt wird, jederzeit zu Diensten herangezogen werden. Hinzu kommt, dass er für die Ausübung einer Nebentätigkeit die Genehmigung des Kirchenverwaltung braucht, die in der Regel nur befristet, wenn überhaupt erteilt wird. Unter diesen beiden Prämissen ist es aber kaum möglich, einer geordneten Nebentätigkeit nachzugehen, um seine Minipension aufzubessern und seine Familie zu unterhalten, ohne auf Sozialhilfe angewiesen sein zu müssen.

 

 

Über die Autorin / den Autor:

H.-E. D., Jgg. 1943, Studium der Theologie 1964–1970 in Tübingen, Heidelberg und Zürich. 30 Jahre Gemeindepfarrer. Seit zwei Jahren Pfarrer im Religionsunterricht mit Lehrauftrag in Gymnasium und Realschule. Mitarbeit in der »Interessengemeinschaft Rechtsschutz für Pfarrer und Pfarrerinnen und Gewaltenteilung in der Kirche« in Württemberg.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 6/2004

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