Es gibt Begriffe, die einem Stern gleichen, der am Horizont aufgeht und heller und heller zu leuchten beginnt. »Spiritualität« scheint mir gegenwärtig so ein Begriff zu sein. Je dunkler eine funktional verwaltete und zielorientiert verplante Welt wird, desto heller leuchtet das Hoffnungswort »Spiritualität«. Es weckt Sehnsucht nach einer Welt, die sich funktional nicht in den Griff kriegen lässt, weil sie zwecklos ist und gerade deshalb das Leben lebenswert macht.

Es gibt freilich auch Begriffe, die einem Stern gleichen, dessen Licht mehr und mehr verblasst und seinen Glanz verliert. »Frömmigkeit« scheint mir gegenwärtig so ein Begriff zu sein, der einmal Glanz hatte, als er soziale Tugend, Sinn für Gerechtigkeit und Ehrfurcht vor Gott in sich vereinigte. Da konnte sogar von Gott gesungen werden: »O Gott, du frommer Gott, du Brunnquell guter Gaben«. Ein »frommer« Gott schenkt einen gesunden Leib, eine unverletzte Seele und ein reines Gewissen (vgl. EG 495). Aber dann verblasste dieses Wort, seit es pietistisch verinnerlicht wurde »Lieber Gott, mach’ mich fromm, dass ich in den Himmel komm’!« Und wenn gar unter Pferdehändlern von einem »frommen Pferd« die Rede ist, so geht es um einen lahmen Gaul. Es gibt Begriffe, die so verblasst sind, dass man von ihrem Glanz nur noch ahnen kann. Solche Begriffe müssen eine Weile ruhen, ehe sie vielleicht in neuem Glanz erstrahlen.

 

Evangelische Spiritualität

Als die fünfte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi 1975 eine Botschaft an die Christen der Ökumene verabschiedete, in der es programmatisch heißt: »Wir sehnen uns nach einer neuen Spiritualität, die unser Planen, Denken und Handeln durchdringt«, griff auch die Evangelische Kirche in Deutschland den Begriff »Spiritualität« offiziell auf und setzte eine Arbeitsgruppe ein, die Überlegungen und Anstöße zur Neuorientierung für eine evangelische Spiritualität erarbeiten sollte. Das Ergebnis dieser Arbeitsgruppe wurde 1979 unter dem Titel »Evangelische Spiritualität« veröffentlicht und machte deutlich, dass Spiritualität »Glaube, Frömmigkeitsübung und Lebensgestaltung zusammenschließt«. Knapper und prägnanter hat die Communauté von Taizé den Begriff »Spiritualität« gefüllt: »Kampf und Kontemplation«. Es geht um eine von innen nach außen gehende Bewegung des Kampfes für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, wie um eine von außen nach innen gehende Bewegung der Kontemplation, ohne die der Kampf keinen Atem und keine Ausdauer hätte. Diese doppelte Bewegung macht den Begriff der Spiritualität so spannend, weil er ebenso handlungsorientiert wie meditativ, ebenso innerlich wie äußerlich ist. Dem Begriff »Spiritualität« eignet eine ökumenische, interreligiöse und interdisziplinäre Weite zu anderen Konfessionen, Religionen und Wissenschaften. Diese Weite gibt dem Begriff seinen Glanz und seine Attraktivität. Sie macht ihn freilich auch so diffus und verschwommen, dass er nach Präzision ruft. Auf dem großen Markt der Spiritualitäten hat nur Bestand, wer genau sagen kann, für welche Art von Spiritualität er wirbt. Ich werbe für eine reformatorische Spiritualität, deren Eigenart es ist, dass sie nicht von einer Sehnsucht nach dem Außerordentlichen, Überirdischen, Energetischem, Ekstatischem, Esoterischem geprägt ist, sondern von einer Begeisterung für das Alltägliche.

 

Wein, Weib und Gesang

Am schönsten kann man sich diese Spiritualität an der Szene verdeutlichen, wie Martin Luther mit seinen Freunden und Studenten bei Tische sitzt, Mahlzeit hält, Wein trinkt, musiziert und lange Tischreden austauscht, die irgendwann auch einmal aufgeschrieben wurden, so dass dicke Folianten dieser Tischreden erhalten blieben. Geht man sie durch, so findet man das bunte, vielfältige, alltägliche Leben darin ebenso wie tiefsinnige Reflexionen der Gottesgelehrtheit. Irgendwann kehrt dann aber das Gespräch wieder zu den kleinen, banalen Dingen zurück, weil es von einer tiefen Begeisterung für das Alltägliche erfüllt ist. Wenn etwa Doktor Justus Jonas ganz poetisch erklärt, dass er einen Zweig mit Kirschen über seinem Arbeitstisch hängen habe, »damit ich beim Betrachten den Artikel von der göttlichen Schöpfung lerne«, so gibt Luther ihm zur Antwort: »Warum lernet ihr’s nicht täglich an euern Kindern und euerer Leibesfrucht, die jeden Tag vor euch stehen und viel mehr sind als alle Früchte der Bäume? Hier möget ihr Gottes Vorsehung sehen, der sie aus nichts erschaffen hat. Er hat ihnen in einem halben Jahr Leib und Leben und alle Glieder gegeben und will sie auch ernähren. Und dennoch gehen wir daran vorbei, als sollten wir blind und geizig werden über jene Gaben, wie es meistens geschieht, dass die Menschen, wenn ihnen Nachkommenschaft gegeben wird, schlechter und geiziger werden …« (MA 224f).

Solche Tischgespräche spielen sich in einem Wittenberger Haus ab, das früher selbst ein Kloster war, in welchem nach der Regel »ora et labora« Spiritualität unter besonderen und außerordentlichen Bedingungen monastischen Zusammenlebens eingeübt wurde. Dass an demselben Ort nun Kinder spielen, ein munteres Familienleben blüht, Freunde und Studierende ein- und ausgehen, gegessen, getrunken und musiziert wird, setzt die monastische Regel »ora et labora« keineswegs außer Kraft, sondern nur in einen neuen, alltäglichen Zusammenhang ein, weil sich das Beten und Arbeiten nunmehr in Ehe und Familie, im Beruf, im Alltag und in der Gesellschaft ereignet. Hier gewinnt das Normale und Alltägliche einen neuen Glanz und eine neue Würde. Hier wissen alle, wie sie vor Gott und mit ihrem Nächsten zusammen gehören, denn alle leben aus der Gewissheit ihres Heils, das ihnen im Glauben widerfährt.

Die Frage ist freilich, ob diese Art von Spiritualität nicht auf ein sehr bequemes Christentum hinausläuft, auf das also, was damals schon von altgläubiger wie von radikalgläubiger Seite »das sanfte Fleisch von Wittenberg« genannt wurde. Wo bleibt hier die weltweite Dimension des Glaubens? Wie kommt es hier zu »Kampf und Kontemplation«? Ist das nicht ein »Pantoffel-Christentum«, das es sich mit »billiger Gnade« allzu bequem macht?

 

Die Flucht vor dem Alltag in das Besondere

Auf solche und ähnliche Fragen ging Luther in seinem »Sermon von den guten Werken« (1520) ein, der so etwas wie ein Manifest reformatorischer Spiritualität darstellt. Der Reformator attackiert in dieser Schrift eine sich besonders geistlich dünkende Flucht vor dem Alltäglichen und Normalen in das Besondere und Außerordentliche. Am Beispiel der Sorge von Eltern für ihre Kinder wird Luthers Anliegen besonders deutlich: »Eltern, auch wenn sie sonst nichts zu tun hätten, können an ihren eigenen Kindern die Seligkeit erlangen. An ihnen haben sie, wenn sie sie zu Gottes Dienst recht erziehen, fürwahr beide Hände voll guter Werke vor sich. Denn was sind hier die Hungrigen, Durstigen, Nackten, Gefangenen, Kranken, Fremdlinge anderes als die Seelen deiner eigenen Kinder, mit denen dir Gott aus deinem Haus ein Spital macht und dich ihnen zum Spittelmeister einsetzt? Da sollst du sie pflegen, sie speisen und tränken mit guten Worten und Werken, damit sie lernen Gott vertrauen, an ihn glauben und ihn fürchten und ihre Hoffnung auf ihn setzen ...« Und weiter fragt Luther, ob der Alltag nicht schon genug zu tun gebe, und ob nicht bei den alltäglichen Pflichten »eine rechte Kirche, ein auserwähltes Kloster, ja ein ‚Paradies’ zu finden sei, in dem man die Seligkeit erlangen könne. Die Sehnsucht nach dem Besonderen, Außerordentlichen, Spektakulären, verkennt die Seligkeit des Alltäglichen und flüchtet sich in die scheinbar höhere Spiritualität. So eine Flucht bringt Luther zu den zornigen Worten: »Es hat keinen Heiligenschein, darum gilt es nichts. Da läuft der nach St. Jakob, gelobt diese sich unserer Lieben Frau. Niemand gelobt, dass er, Gott zu ehren, sich und sein Kind wohl regiere und lehre. Er lässt die sitzen, die Gott ihm an Leib und Seele zu bewahren befohlen hatte, und will Gott an einem andern Ort dienen, was ihm nicht befohlen ist. Solch verkehrtes Treiben verwehrt kein Bischof, straft kein Prediger; ja, aus Habgier bestätigen sie es und erdenken täglich nur noch mehr Wallfahrten, Heiligenerhebung, Ablassjahrmärkte: Gott erbarme sich über solche Blindheit!« (IL I, 117)

Den Grund für diese Blindheit sieht Luther in der allgemein verbreiteten Unsicherheit angesichts der Frage, was denn eigentlich gute Werke seien und was nicht. Die Antwort, die er im Sermon von den guten Werken an den Zehn Geboten entfaltet, ist klipp und klar: Im Glauben an das von Gott Gebotene wird alles gut, das Große ebenso wie das Kleine, das Kurze ebenso wie das Lange. Wo aber die Zuversicht zu Gott fehlt und die Schlange im Gewissen zu zischeln beginnt: »Sollte Gott das wirklich gesagt haben?«, da beginne die große Unsicherheit, was nun wirklich gut oder böse sei, und ob das Alltägliche, Normale wirklich noch genügen könne. »Wer mit Gott nicht eins ist oder daran zweifelt, der fängt an, sucht und sorgt, wie er doch noch genug tun und Gott mit vielen Werken bewegen wolle. Er läuft nach St. Jakob, nach Rom, nach Jerusalem, hierhin und dahin, betet die St.-Brigitten-Gebete und dies und das, fastet an dem und diesem Tag, beichtet hier, beichtet da, fragt diesen und jenen und findet doch keine Ruhe und tut das alles unter großer Beschwer, Verzweiflung und Unlust des Herzens« (IL I, 46). Der Glaube aber, der aus dem Hören auf Gottes Wort lebt, gleicht einem Baum, der an den Wasserbächen gepflanzt ist und seine Früchte bringt zu seiner Zeit (vgl. Psalm 1, 3).

 

»Sündige kräftig, aber glaube noch kräftiger«

So eindeutig diese Ausrichtung einer reformatorischen Spiritualität zu sein scheint, muss sie aber doch immer wieder durch Feuerproben hindurch. Als etwa Luther auf der Wartburg in der Schutzhaft seines Kurfürsten saß und die Autorität des Reformators in Wittenberg fehlte, begannen sich rasch die kleinen Geister zu regen, die das Sagen übernehmen wollten. Nunmehr kam es auf Philipp Melanchthon an, den reformatorischen Kurs zu halten. In den tausend Entscheidungen des Alltags fiel ihm das oft schwer genug, und er wandte sich brieflich immer wieder an Luther, um seinen Rat einzuholen. Melanchthon muss ein skrupulöser Mensch gewesen sein, der alles sehr genau nahm und keine Fehler duldete, schon gar nicht bei sich selbst. Das brachte ihn in den turbulenten Zeiten von Luthers Abwesenheit in immer größere Verzweiflung, wie sie auch aus seinen Briefen zur Wartburg (1521/22) und später zur Coburg (1530) spricht. Schließlich weiß Luther dieser Verzweiflung nur noch zu wehren, indem er am 1. August 1521 an Melanchthon schreibt: »Wenn du ein Prediger der Gnade bist, so predige eine wahre und keine erdichtete Gnade, wenn es wahre Gnade ist, wahrhaftig, dann trage keine erdichtete Sünde vor. Gott heilt nicht erdichtete Sünder. Sei ein wahrhaftiger Sünder und sündige kräftig, aber glaube noch kräftiger und freue dich in Christus, der ein Sieger über Sünde, Tod und Welt ist. Bete kräftig, auch als der kräftigste Sünder.«

Normalerweise werden diese Sätze auf zwei lateinische Worte verkürzt: »pecca fortiter« und in dieser Verkürzung kolportiert. Sie meinen dann so viel wie: »Hau’ mal richtig auf die Pauke! Besauf dich sinnlos! Mach’, was du willst, aber lass’ dich nicht erwischen!« So wird Luther zum Vater von Laxheit, Willkür und Gleichgültigkeit gemacht.

Hört man das »pecca fortiter« jedoch in seinem ursprünglichen Zusammenhang, wird es zum Inbegriff einer reformatorischen Spiritualität, die die Sünde im Lichte der Vergebung groß macht, um einen Skrupulanten wie Melanchthon dazu zu bringen, in die Grenzen seines Menschseins vor Gott einzukehren, seine Existenz als Fragment anzunehmen und vor seinem Schuldigwerden nicht davon zu laufen und noch schuldiger zu werden. Vergebung der Sünde heißt ja nicht, dass damit alle Schuld verschwunden wäre. Es heißt vielmehr, dass der Fluch der Sünde im Licht der Gnade Jesu Christi beseitigt wird, so dass nunmehr die Schuld ans Tageslicht kommt, mit der ein Mensch umgehen, an der er arbeiten und zu der er ein Verhältnis gewinnen kann. Vergeben ist ein aktives Geben. Einem Menschen wird seine Schuld so gegeben, dass er an ihr nicht mehr verkümmert, sondern wächst. Die Beichte ist dann nicht mehr eine zerknirschende, sondern den Menschen im Licht der Wahrheit aufrichtende Sache. Luther kann die Beichte gar nicht oft genug begehren und anderen Mut zur Beichte machen, weil sie dazu hilft, in die Grenzen des Menschseins zurückzukehren und die Begeisterung für das Alltägliche wiederzugewinnen (Vgl. ausführlicher Ch. Möller, Der heilsame Riss).

 

Tiefe Diesseitigkeit

Wie sieht diese reformatorische Spiritualität in ihrer Begeisterung für das Alltägliche aus, wenn sie im 20. oder 21. Jahrhundert gelebt wird? Ein Gedankenexperiment mag es verdeutlichen, das Dietrich Bonhoeffer in einem Brief aus der Haftzelle in Tegel seinem Freund Eberhard Bethge mitteilt: »Ich erinnere mich eines Gespräches, das ich vor dreizehn Jahren in Amerika mit einem französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: Ich möchte ein Heiliger werden (– und ich halte für möglich, dass er es geworden ist –); das beeindruckte mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: Ich möchte glauben lernen. Lange Zeit habe ich die Tiefe dieses Gegensatzes nicht verstanden. Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte. Als das Ende dieses Weges schrieb ich wohl die ›Nachfolge‹. Heute sehe ich die Gefahren dieses Buches, zu dem ich allerdings nach wie vor stehe, deutlich. Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine so genannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben –, dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist Metanoia; und so wird man ein Mensch, ein Christ.«

Diese Zeilen haben um so mehr Gewicht, als sie am 21. Juli 1944, also einen Tag nach dem gescheiterten Attentat gegen Hitler geschrieben sind, und von diesem Scheitern hatte Bonhoeffer wohl bereits etwas vernommen. Wie nahe hätte es gelegen, in dieser außerordentlichen Zeit sich in eine außerordentliche, besondere Spiritualität hineinzusteigern, eine Begegnung mit der rettenden Kraft des Heiligen zu suchen und sich danach zu sehnen, in Weltflucht selbst ein Heiliger zu werden. Auf diesem Wege hatte ja Bonhoeffer selbst schon mit dem kommunitären Experiment von Finkenwalde und seinen beiden Schriften »Gemeinsames Leben« und »Nachfolge« begonnen, erste Schritte zu gehen, die in eine rigorose Richtung führten. In dieser Zeit fielen solche Begriffe wie »billige und teure Gnade«, auf die sich alle »Nachfolger« bis heute gern berufen.

Bonhoeffer selbst aber begann in der Haftzeit die Gefahren dieses Weges zu sehen, den er mit seiner Schrift »Nachfolge« eingeschlagen hat. Es war der Weg in eine heilige Lebensführung, an dessen Ende das herauskommen sollte, was der junge französische Pfarrer mit seinem Leben erreichen wollte: ein Heiliger zu werden. Instinktiv widersprach Bonhoeffer schon Jahre zuvor. Nun aber, in der Haftzeit, verzichtete er bewusst auf alle Selbststilisierungen einer monastischen, pietistischen, esoterischen oder sonstwie gearteten Spiritualität zum heiligen, bekehrten Sünder. Er will nur noch in der Diesseitigkeit glauben lernen und das heißt, in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, sich Gott ganz in die Arme werfen, das Leiden Gottes in der Welt ernst nehmen, mit Christus in Gethsemane wachen, und so ein Mensch, ein Christ zu werden.

 

Beten und Tun des Gerechten

Treffender lässt sich kaum ins 20. Jahrhundert übersetzen, was reformatorische Spiritualität als Begeisterung für das Alltägliche meint. Es ist eine tiefe Diesseitigkeit des Christentums, die es zu entdecken gilt. Bonhoeffer unterscheidet sie von der »platten und banalen Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven«, die einfach so in den Tag hinein leben, sich in den Tagesbetrieb stürzen, die Termine abhaken oder einfach alles auf sich zukommen lassen. Dagegen ist die tiefe Diesseitigkeit für Bonhoeffer voller Zucht. Die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung ist ihm immer gegenwärtig. Zu dieser Zucht gehört für ihn die Freude an der täglichen Losung und die ständige Rückkehr zu den »schönen Paul-Gerhardt-Liedern«.

Es ist nicht zufällig, dass in diesem Zusammenhang der Satz fällt: »Ich glaube, dass Luther in dieser Diesseitigkeit gelebt hat« (ebd. 541). In der Tat gibt es in der Sache ganz ähnliche Äußerungen Luthers, in denen der »liebe Jüngste Tag« mit der Freude an den täglichen Gaben Gottes zusammengebracht werden. Es ist nicht zufällig, dass das bis heute noch nicht identifizierte Wort vom Pflanzen eines Apfelbäumchens angesichts des Untergangs der Welt Luther zugeschrieben wird.

Reformatorische Spiritualität als Begeisterung für das Alltägliche – abschließend sei ausdrücklich betont, dass der Alltag als solcher kein Grund zur Begeisterung sein muss. Es ist mit dem Alltag ähnlich wie mit der Normalität, die Hans Magnus Enzensberger gegen ihre Anbeter scharfsinnig in Schutz nimmt: »Der Versuch, die Normalität zu glorifizieren, ist nicht nur ein logischer Nonsens, weil jeder Heiligenschein seinen Sinn verliert, wenn er zur normalen Kopfbedeckung wird; er ist auch eine politische Lüge mit ungewöhnlich kurzen Beinen« (Kursbuch 1984). Normal sei eben nicht nur die Frühstückssemmel, sondern auch der Ehekrieg; normal sei nicht nur der Hausschuh, sondern auch das Massaker im Fernsehen; normal sei nicht nur die Zimmerlinde, sondern auch das Fließband, nicht nur die Gemütlichkeit, sondern auch Furcht und Zittern. Der Alltag als solcher muss keineswegs begeistern, sondern kann unendlich langweilig sein.

Die Spiritualität, die den Alltag auf das Alltägliche begrenzt und sich an alltäglichen Dingen zu freuen vermag, kommt aus der schöpferischen Kraft des Wortes Gottes, das alle Dinge zu heiligen vermag. Dann werden die Lilien auf dem Felde ebenso wie die Spatzen auf dem Dach zu Gleichnissen des Reiches Gottes. Der Glaube, der aus der schöpferischen Kraft von Gottes Wort lebt, setzt eine Spiritualität frei, die sich in dieser Weise, wie es Jesus angefangen hat, für das Alltägliche zu begeistern vermag. So ein Glaube geht nicht im Einerlei des Alltags unter, sondern begrenzt ihn in der Bitte um das tägliche Brot auf den heutigen Tag mit seinen Besorgungen, seinen Nöten und seinen Schönheiten. So ein Glaube muss aber auch nicht aus dem Alltag flüchten in ein heiliges Sonderdasein, in irgendwelche höhere Welten oder Energien, weil er in der tiefen Diesseitigkeit lebt und an Gottes Leiden in der Welt teilhat. Nun wird die ganze Welt ein Kloster, so dass das benediktinische Motto »ora et labora« bei Dietrich Bonhoeffer zu einem Vermächtnis wird, mit dem er seinen Patensohn in die Welt sendet: »Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.« (DBW 435)

Verwendete Literatur

Bonhoeffer, Dietrich: »Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft«, in: Gremmels, Ch. U. a. (Hg.): Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW) 8, Gütersloh 1998.

EKiD (Hg.): Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße zur Neuorientierung, Gütersloh 1979.

Luther, Martin: Von den guten Werken. 1520, in: Ausgewählte Schriften, herausgegeben von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Frankfurt, 1982 (IL).

Luther, Martin: Tischreden, In: Ausgewählte Werke, Ergänzungsreihe, herausgegeben von Georg Merz, München, 1963 (MA).

Möller, Christian: Der heilsame Riss. Impulse reformatorischer Spiritualität, Stuttgart 2003.

 

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Ch. M., Jahrgang 1940, promovierte 1968 in Marburg bei Ernst Fuchs und Alfred Niebergall über »Von der Predigt zum Text«, war von 1968–72 Pfarrer in Wolfhagen (Kurhessen-Waldeck). 1972 Nachfolger von Rudolf Bohren an der Kirchl. Hochschule in Wuppertal, 1988 Ruf der Universität Heidelberg, Lehrstuhl für Praktische Theologie mit Schwerpunkten Predigtlehre und Gemeindeaufbau.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 6/2004

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.