Stark gekürzter Festvortrag über »Tue Gutes und rede darüber« anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Dankort am 28.10.2003 in den v. Bodelschwingschen Anstalten Bethel, Bielefeld

»Tue Gutes und rede darüber.« – Vom Reden ist die Rede, nicht vom Schreiben. Das macht offenbar einen Unterschied. – Dazu der Mann aus Nazareth. Man kann über ihn nur staunen. Er sei der »Weg, die Wahrheit und das Leben«, sagt er und schreibt es nicht nieder, keine Lehrsätze oder Paragraphen, keine theologische Erörterung, keinen Katalog von Weisheiten, keine Sprüche. Und einer, der Stürmen gebietet und 5000 Hungrige speist, dem soll es doch möglich sein, ein Buch zu schreiben. Und was für eines!

Mit unabweisbarer Logik und gewinnender Weisheit, klar und gültig wie kein anderes je zuvor und je danach. Und wer dafür sorgen kann, dass die Pfingstrede des Petrus von allen Völkern verstanden wird, der kann sie auch gleich noch übersetzen, in alle Sprachen der Erde, die damaligen und die künftigen. Und sie zugleich vervielfältigen. Jede Generation würde sie in ihrer Qumranhöhle finden. Und so wäre sichergestellt, dass seine Botschaft unverfälscht und für alle Zeit erhalten bliebe.

Fehlanzeige! An dieser Art Sicherheit scheint ihm nicht zu liegen. Im Gegenteil. Er warnt vor der Tödlichkeit der Buchstaben, wenn sie der Geist nicht lebendig macht. Was tut er? Er geht auf die Leute zu, persönlich und ungeschützt und erzählt ihnen Geschichten, einfache, aus ihrer eigenen Erlebniswelt, unbekümmert, ob die Schriftgelehrten ihm folgen können. Die einfachen Leute können es. Und was jenen als naiver Leichtsinn erscheint, ist diesen der Weisheit letzter Schluss, denn Geschichten kann man leicht behalten und weiter erzählen. Man kann sie sogar ausschmücken und variieren, ohne ihren Gehalt zu verderben.

Da setzt einer bedingungslos auf die Kraft des Wortes und zugleich auf seine Flüchtigkeit. Flüchtig nicht im Sinne von »oberflächlich« oder »vorübergehend«, sondern ätherisch, feinstofflich, osmotisch. Es dringt durch, es sickert ein, es erweist die Supra-Leitfähigkeit des Geistes und die Durchlässigkeit des menschlichen Widerstandes. Und es setzt auf die leibhaftige Anwesenheit des Sprechers. Sie verleiht den Worten Gewicht.

Und so erzeugen diese auch kein abfragbares Wissen, keine vorzeigbare Bildung, setzen auch beides nicht voraus. Sie erzeugen etwas anderes: eine persönliche Beziehung, und die ist ein viel tieferer Erkenntnisprozess als es ein Lehrbuch leisten könnte. Sie bietet lebenslange Entwicklungschancen. Sie übersteht Zweifel und Krisen. Sie kann halten, über den Tod hinaus.

Zwanzig Jahre später gibt es noch immer kein dickes Buch, keinen Katechismus, keine theologische Summa. Stattdessen nur ein paar Briefe mit allem, was Briefe so sympathisch macht: Individuell, leidenschaftlich, persönlich. Gerichtet an Leute mit Adresse und Lebensumständen und geschrieben von einem Menschen in Sorge oder Begeisterung, einem Mann, der rastlos durch das Imperium rennt, um mitzuteilen, im unmittelbaren Sinn des Wortes, was ihn selbst verändert hat, so gründlich, damals vor Damaskus, ihm so radikal die Augen öffnete, dass er glaubte erblindet zu sein.

Und wieder zwanzig Jahre später. Endlich gibt es ein Buch, aber kein ordentliches Lehr- und Regelwerk des neuen Glaubens. Stattdessen erscheinen nach und nach vier »frohe Botschaften«, voller Varianten, Ungereimtheiten, Widersprüche, nicht von Gott in die Feder der Evangelisten diktiert, um das Versäumnis des schreibfaulen Sohnes zu reparieren, sondern ein lebendiges Glaubensbuch, das die atemberaubende Erfahrung einer neuen »Beziehungskiste« widerspiegelt und kreativ gestaltet.

Das ist ein Affront für alle Dogmatiker, ein Schnippchen des Heiligen Geistes für alle Regelwerker. Gott scheint sie nicht ernst zu nehmen, die Tüftler und Geradeausdenker. Oder er nimmt sie ernst. Er nimmt sie so ernst, dass er ihnen gleich zu Anfang ein Vexierbild anbietet, um sie für alle Zeiten zu beschäftigen. Immer wieder versuchen sie, die Schriften zu »harmonisieren«, damit man endlich wisse, woran man ist. Und immer wieder scheitern sie.

Welch ein Segen für die christliche Kultur, dass sie scheitern, dass am Anfang eben keine Lehre, sondern ein Leben steht. – Welche Mühe haben andere Kulturen, mit einem Buch zu leben, das man ihnen als das persönlich diktierte Wort Gottes verkauft hat.

Ich gebe zu: als Hobbytheologe habe ich mich bis jetzt schon gefährlich weit vorgewagt. Aber es sticht mich, noch einen Schritt weiter zu gehen. Mir kann man ja nicht die »missio canonica« entziehen oder mich einem kurialen »Lehrverfahren« unterwerfen!

Der redende Heiler aus Nazareth wollte uns vielleicht gar nicht das hinterlassen, was wir unter der »reinen« Wahrheit verstehen. Er wusste, wie gefährlich sie in unseren Händen ist. Und sie lässt sich nicht besitzen und beherrschen, schon gar nicht, wenn man damit andere besitzen und beherrschen will.

Die reine Wahrheit war bisher immer der Irrtum ihrer Verkünder. Und mit Verlaub: Ist die höchste Gotteserkenntnis eines Menschen nicht bestenfalls eine Art höheres Missverständnis? – Wie sympathisch und weise, dass er sie selbst schon eingekapselt hat. »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Eine Wahrheit ist weniger gefährlich, wenn sie der Weg und das Leben in die Mitte nehmen.

»Es gilt das gesprochene Wort«, steht auf den Einladungen. Erst also, wenn es einer gesagt hat, hat es Geltung und Gewicht. Luthers legendärer Satz in Worms (wenn er erfunden ist, ist er gut erfunden) hätte nicht halb so viel Wucht, wenn er ihn nur geschrieben hätte: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders.« Und man möchte fortfahren: »Gott helfe euch!«

Bis zur Erfindung der Schrift, also in 99,99% der Menschheitsgeschichte, galt nur das gesprochene Wort. Wir können die Autorität einer mythischen Erzählung nicht begreifen, wenn wir sie uns nicht als mündlich vorgetragene oder gar gesungene Vergegenwärtigung am Lagerfeuer eines Hirten- oder Kriegervolkes vorstellen.

Da hatte niemand seinen »Gustav Schwab« zur Hand und las daraus vor, sondern er sprach aus dem Innersten seiner Erfahrungen und Traditionen und stand persönlich dafür ein. Noch bis ins hohe Mittelalter konnte man auch Bücher nur laut lesen. Das leise Lesen war noch nicht erfunden. Es gibt den Brief eines Abtes, der ein Buch zurückschickt, das er sich vom Nachbarkloster ausgeliehen hat. »Leider konnte ich das Buch nicht lesen«, schreibt er da, »ich war heiser.«

Der Satz bedeutet mehr als man ahnt. Hinter dem gesprochenen Wort steht immer ein Mensch, eine Person, deren Glaubwürdigkeit und Gewicht das Gesagte glaubwürdig und gewichtig macht. Eine Rede ereignet sich jetzt und hier. Sie ist immer der Ernstfall, setzt alles auf eine Karte. Und manchmal springt der Funke über.

Es ist erstaunlich, dass auch in der modernen Medien- und Konservengesellschaft gelegentlich doch die Rede eines Einzelnen enorme Wirkung hat. Ich denke an die des Martin Luther King auf den Stufen des Capitols. Ich denke sogar an einige Momente im deutschen Bundestag, wo die Kunst der Rede allerdings nicht mehr viele Meister hat.

Ein seinerzeit nicht sehr bekannter Hinterbänkler namens Ernst Benda gelangte mit seiner Rede zur Verjährungsdebatte

in die vorderste Reihe der Politik. Ein anderer stürzte mit seiner missgedeuteten Rede zum 9. November ins Nichts, während Richard von Weizsäcker mit der seinigen zum lebenden Denkmal wurde.

»Tue Gutes und rede darüber.« – Der Satz wird mir immer merkwürdiger. Das Sprechen eines Menschen ist nicht nur die Artikulation seiner Gedanken. Heinrich von Kleist schrieb einen spannenden Essay »über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Sprechen«.

Wenn die Forscher zu Recht vermuten, dass 7% unserer Hirntätigkeit der Aufnahme neuer Eindrücke dient, 93% aber dazu, das Aufgenommene zu verarbeiten, zu sortieren, zu bewerten und zu verknüpfen, dann ist unser Dasein vor allem ein ungeheures Selbstgespräch, ohne das wir im Chaos der Eindrücke und Informationen versinken würden.

Am liebsten arbeitet unser Hirn nachts, wenn wir zu schlafen glauben. Wir ahnen nicht, was es alles treibt. Es bedient sich ganz anderer Methoden und Kategorien als wir sie in der Schule lernen. Träume sind eine Art Blick durchs Schlüsselloch seiner Werkstatt.

Manchmal stelle ich mir so das nächtliche Treiben in einer Bibliothek vor. Die Bücher strecken unsichtbare Tentakeln aus, besuchen einander, zeigen sich ihre noch unentdeckten »Stellen«, wispern, tuscheln miteinander, und erst am Morgen, wenn der Bibliothekar den Schlüssel dreht, husch, stehen sie wieder in Reih und Glied und tun so als ob nichts wäre.

Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wollen, was wir tun, und auch die Sprache spricht uns vielmehr, als dass wir Sprache sprechen. Das Reden erzeugt eine Wirklichkeit, die vorher nicht existierte, auch nicht in Gedanken. Und Gutes sprechen erzeugt eine gute Wirklichkeit. Ich variiere unseren Satz: »Wenn du redest, sieh zu, dass du damit Gutes tust!«

Das ist beileibe nicht selbstverständlich. Geredet wird viel. In Parlamentsdebatten und Talkshows, an Stammtischen und auf Marktplätzen, hinter vorgehaltener Hand und gern auch hinter dem Rücken der anderen. Am liebsten über Fehler und Schwächen, negative Sensationen und spektakuläre Verbrechen.

Eine ungeheure Wörterflut quillt aus den Häusern, Kneipen und Betrieben. Es regnet Wörter, eine von Menschen geschaffene Sintflut, und weit und breit keine Arche, in die man flüchten könnte. Im Zug brüllt jemand in sein Handy, er sei gerade im Zug.

»Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich gesagt habe, was ich meine«, ist das Motto der Dauertalker. Jeder ist jederzeit auf Sendung. Aus allen Kanälen strömt es auf uns ein. Dieter Hildebrandt seufzte es auf den Punkt: »Man kann gar nicht so viel abschalten, wie man nicht sehen möchte.«

Hinter dem Zauber des Redens steht auch immer die Dämonie des Zerredens. Wörter können verletzen, zerstückeln, platt machen. Sie können ablenken, verschleiern, lügen. Wörter werden zu Unwörtern. Sie vergilben und verschalen. Es müsste einen Duden geben zur Entsorgung von Sprach- und Wortmüll!

Da ist die wachsende Komplexität unserer Welt. Der hohe Grad an Zerfall und Spezialisierung erzeugt ja auch massenhafte Inkompetenz, worauf die Spezialisten und Zergliederer eilfertig die Komplexität vergrößern. Manchmal macht uns ein Künstler vor seinem Bild oder ein begnadeter Erzähler in seiner Geschichte wieder zum Kind. Dann nimmt er uns bei der Hand wie Gäste von einem fremden Stern. Höflich und freundlich begrüßt er uns und versucht, uns seine Welt zu erklären, nicht in Formeln und Analysen, sondern in Märchen und Mythen, und sorgsam achtet er darauf, es immer wieder mit den gleichen Worten zu tun. Magie und Beschwörung bedürfen der genauen Wiederholung.

Einmal im Jahr lädt der Abt der Benediktinerabtei Königsmünster in Meschede Journalisten aller Couleur und Medien auf ein Wochenende in sein Kloster. Die aufgeregte Meute der Sensationssucher, Textverarbeiter und Schnellschreiber trifft auf Mönche, die lange hinhören, bevor sie etwas sagen und offenbar minutenlang und ohne Narkose – schweigen können.

Ein Schockerlebnis für beide Seiten, aber eines auch, das den Kreislauf anregt, den Stoffwechsel fördert, die Peristaltik des Denkens zu überraschenden Ausscheidungen veranlasst. Nicht auszudenken, wie sich das Programm meines Senders verändern würde, wenn sich Autoren, Redakteure und Regisseure alle zwei Stunden in der Hauskapelle versammeln würden, um einen Psalm zu beten und einen gregorianischen Choral zu singen.

Worte haben einen Körper und eine Seele. Und sie haben eine fast unheimliche Kraft. Muss man nicht erschrecken, dass die Völker für das Gleiche verschiedene Wörter haben. Und sollte einer die fremde Sprache perfekt beherrschen, er wäre doch nicht fähig, in der fremden Sprache zu schweigen.

»Ein falsches Wort«, schrieb Max Frisch, »und man hat Macht über einen Menschen.« Manchmal erschrickt man bei dem Gedanken, wo die Worte überall waren, in welchen Mündern, auf welchen Zungen. Sind sie nicht bis zur Unkenntlichkeit vernarbt von den Höllenwanderungen, die sie erlebt haben? Sie führen eine geheimnisvolle Doppelexistenz.

Jedes ist in uns gefangen, zusammengepresst und verschnürt, aber gleichzeitig sind wir in ihm und ebenfalls zusammengepresst und verschnürt. Nur so erklärt sich ihr Eigenleben.

»Tue Gutes und rede darüber!« Nun hab ich schon Freude an dem Satz, der doch erstaunliche Schichten enthält. – Auch über das Böse kann man auf eine Weise reden, die es verringert, die es beschwört und besänftigt, am Ende gar auflöst und es in sein Gegenteil verwandelt.

Kürzlich war in Aachen das Weltfriedensgebet, zu dem sich 500 hochrangige Vertreter der großen Weltreligionen eingefunden hatten. Vor 3.500 Gästen sprachen sie nicht über einander, sondern mit einander über gemeinsame Nöte und Hoffnungen. Unter ihnen der ehemalige Oberrabbiner Meir Lau von Jerusalem.

In seinem Eröffnungsstatement erinnerte er an die erstaunliche Tatsache, dass die Passagiere in Noahs Arche offenbar auf engstem Raum gedeihlich miteinander auskamen. Der Löwe lag neben dem Lamm und unterdrückte seinen Heißhunger. Der Habicht übte sich in Null-Diät, während Mäuse und Kaninchen vor ihm spielten. Katze und Hund sahen in die andere Richtung, wenn sie einander begegneten.

Sie alle hatten einen guten Grund für ihr abartiges Verhalten: Es war der gemeinsame Feind, die Flut. Wenn das Wasser steigt, werden die Nichtschwimmer friedlich. Wer sich im Konflikt nur als Opfer sieht, muss mit dem Gegner reden, damit er sich auch als Täter erkennt.

Ihn habe immer erschüttert, fuhr der Rabbiner fort, dass Kain und Abel nicht mit einander geredet haben. So konnte die Sache nur übel ausgehen. – In Westfalen bringt man das auf eine prägnante Formel: »Er sagte nichts, sie sagte nichts, und schon war der Krach zugange.«

Es gibt eine Zeit zu reden, und es gibt eine Zeit zu schweigen. Es gibt die Kunst des Erinnerns, aber auch eine Kunst des Vergessens. Wer die Erinnerung meidet, ist dazu verflucht, die schrecklichsten Erfahrungen der Geschichte immer wieder aufs Neue zu erleiden. Wer sich nicht in der Kunst des Vergessens übt, dem schlagen die Dämonen der Vergangenheit die Gegenwart aus der Hand.

Alte Institutionen spüren es, wie wenig Zukunft in ihrer Gegenwart ist. Ganze Völker und Religionen zerfallen an den Phantomschmerzen ihrer Vergangenheit. Man muss sich das einmal vor Augen halten: Die Balkankatastrophe der vergangenen Jahre hatte auch damit zu tun, dass serbische Nationalisten überzeugt waren, seit der Schlacht auf dem Amselfeld vor 600 Jahren stünden immer noch Rechnungen offen.

Auch ein schönes und heiliges Land wie Palästina hat zu wenig Geografie für zuviel Geschichte. Man kann keinen Schritt mehr tun, ohne über irgendeine Vergangenheit zu stolpern, und da man sich selbst gern für deren Opfer hält, verdrängt man schnell, wie sehr man auch ihr Täter ist.

Irgendwo las ich: Nach jedem Krieg sollten die Völker ihren Namen wechseln. Dann würde man wenigstens bald den Faden verlieren. Jemand hat gesiegt, aber man weiß nicht mehr, wer es war.

Andererseits, wenn Böses geschah, ist es gut, darüber zu reden. Eine Schuld verdünnt sich, wenn man darüber spricht. Die Kunst des Vergessens heißt ja nicht, sich mit Schlussstrich-Parolen aus der Verantwortung zu stehlen, sondern Schuld in das zu verwandeln, was wir der Zukunft schulden: aus der Erfahrung der Vergangenheit verantwortlich für die Zukunft zu handeln.

Wenn man die Opfer der Kriege und jeglicher Gewalt fragen könnte, wozu ihr schreckliches Schicksal dienen solle, würde vermutlich niemand etwas so Läppisches wie Rache wollen, sondern mindestens doch Versöhnung und Hoffnung für eine lebenswerte Zukunft.

Reden auch die Verstummten? Ist gutes Reden eine Variante des Schweigens, so wie gute Musik eine Form der Stille ist? Da ist Wahrheit dann nicht Erfahrung, sondern Erinnerung. Und religiöse Menschen ahnen das längst: Der Tod löscht nichts. Er frischt die Erinnerung auf, an eine Wahrheit, die wir alle längst in uns haben und die uns auf Grund einer Gedächtnistrübung namens »Leben« nicht erinnerlich ist.

»Versucht nicht auch die Philosophie«, so fragte Sloterdijk in einem Gespräch, »den Menschen von der schädlichsten seiner Neigungen zu heilen: Erfahrungen zu machen? – Das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes.«

Und da fällt das Wort, auf das es offenbar ankommt. Eingangs sprach ich schon von den Briefen, die wir alle erhalten haben, geschrieben von dem Mann, der seit seinem Damaskusschock rastlos durch das Imperium rannte. »Wenn ich mit Engelszungen redete«, steht da, »hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich tönendes Erz und klingende Schelle.«

Ohne die Liebe ist demnach alles nichts. Ohne sie ist auch das Gute nicht gut, das wir tun und ist es nicht gut, darüber zu reden, denn ohne die Liebe setzen sich tausend Wahrheiten zu einer einzigen Lüge zusammen. Mit ihr aber entsteht aus tausend kleinen Lügen eine einzige große Wahrheit.

Das muss ich hier niemandem erzählen, und jener Brief liegt auch im Postfach der Rundfunkanstalt. Wenn deren Programm nicht den Menschen meint, den ganzen, mit seinen Ideen und Kräften, mit seinen Schwächen und Umständlichkeiten, wenn es nicht den Stummen eine Stimme gibt, die Schüchternen ermutigt, die Entfernten zusammenführt, auf die Langsamen wartet und die Voreiligen dämpft, wenn es nicht die Bedrohten schützt und den Mächtigen wehrt, wenn es nicht sorgsam beobachtet, genau analysiert und abgewogen urteilt, wenn es niedermacht statt aufzurichten, dann ist es tönendes Erz und klingende Schelle.

In einem unserer Kulturmagazine gab es einen Beitrag, der mir nicht aus dem Kopf will. Eine Privatklinik für geistig Behinderte in Wiesbaden wurde aufgegeben und sollte abgebrochen werden. Ein paar Tage, bevor Abrissbirne und Presslufthammer anrückten, überließ man das Haus einem Künstler für eine Aktion, die er sich ausgedacht hatte. Er besprühte die Innenwände mit einer Silikonmasse, wie man sie für Formabgüsse verwendet.

»Diese Wände«, so sagte er, »haben Unsägliches gesehen und gehört, Schreie der Not und der Befreiung, das Lallen und Stammeln verworrenen Bewusstseins, furchtbarer Albträume oder die Jauchzer eines unartikulierten Glücks. Das kann nicht spurlos verhallen«, meinte er, »davon müssen Abdrücke zurückbleiben, Narben, Risse, Abschürfungen im Putz der Wände.«

Und dann packte er die Kunststoffschicht an einer Stelle und zog sie langsam ab wie eine Innenhaut. Die Anwesenden schauten fasziniert zu, mit tiefem Ernst und heimlichem Grausen. Sie ahnten plötzlich, dass kein Wort jemals verloren geht, dass sie alle gesammelt sind und aufbewahrt für alle Zeit.

Ich habe mir den Jüngsten Tag immer anders vorgestellt als die Apokalyptiker und Pyromanen mit dem Radau ihrer Schreckensbilder. Vielleicht, so dachte ich, betritt der letzte Mensch am Tag der Posaune einen riesigen, leeren Saal. Nur da vorne sitzt ein uralter Greis, fast zur Mumie vertrocknet, denn im Lauf der Jahrmillionen ist er so geworden, wie ihn sich seine Geschöpfe vorstellten. Er hatte es kommen gesehen, und deshalb hatte er alles getan, die Evolution und vor allem den Menschen zu verzögern, denn der, das ahnte er, würde ihn eines Tages vernichten. Und nun ist es der letzte Tag, und vor ihm steht der letzte Missetäter. Alle anderen hat er schon hinab verwiesen, und auch diesen wird sein Urteil treffen.

Aber da wagt der Mensch ein Widerwort. »Ich könnte dir Geschichten erzählen«, sagt er.

»Oho!« spottet der Alte, »was könntest du mir erzählen? Ich bin der Schöpfer der Welt!«

Aber da ist dann doch noch ein Rest von Neugier, oder imponiert ihm die Frechheit des Angeklagten? »Na schön«, sagt er, »erzähle! – Einen Tag sollst du Aufschub haben, – wenn du mich nicht langweilst.«

»Gut«, sagt der Mensch, »darf ich mich setzen?«

Und dann erzählt er, erst stockend, aber bald immer flüssiger, berichtet unglaubliche Geschichten aus dem verworrenen Leben der Menschen, über ihre Nöte und Freuden, ihre Hoffnungen und Verzweiflung. Er spricht von unscheinbaren Erfolgen und grandiosem Misslingen. Er spricht von der tiefen Zerrissenheit der menschlichen Seele, ihrer ausgespannten Arme zwischen dem Nichts und dem All. Er spricht von der Mühsal des Alltags, der Einsamkeit, der Unruhe und Unbeständigkeit. Er spricht von Jubel und Trauer, Verzagtheit und Tapferkeit. Und er spricht von den kleinen Triumphen über die Erdenschwere, von den Momenten der Liebe und des Geistes und des Glücks.

Mit großen Augen hört der Alte zu. »Ach«, sagt er zuweilen, und die Zeit vergeht wie im Fluge. Plötzlich unterbricht sich der Erzähler.

»Der Tag ist zu Ende. Nun muss ich wohl hinab – zu den anderen.«

Der Alte rutscht unruhig auf seinem Thron. Er ist begierig auf den Fortgang der Geschichte. So gewährt er Aufschub. – Einen Tag.

Und eine Geschichte folgt der anderen. Jede geht unmerklich aus der vorigen hervor und enthält schon den Keim der nächsten. Wie ein Strom aus unzähligen Bächen, wie ein Teppich mit unzähligen Fäden entrollt sich das Dasein der Menschen, geheimnisvoll verknüpft und verschlungen. Tausend und eine Nacht sind längst vorüber, und noch immer schwillt er an, der Strom der Gestalten, der Gesichter und Geschichten. Unergründlich ist der Abgrund des Leids und der Freude, unentwirrbar das Geflecht von Verirrung und Schuld, unerschöpflich die Kraft der liebenden Vergebung. Und Abend für Abend bricht er ab, blickt auf und sagt sein »Nun muss ich wohl hinab«. Und Abend für Abend sagt Gott »Erzähle weiter!« Und – o Wunder – seine Gestalt belebt sich und richtet sich auf. Ein deutliches Rosa huscht über seine Wangen, die Falten glätten sich, die Augen leuchten. Gelegentlich springt er auf und macht erregte Schritte. »Ach!« sagt er dann wieder und schüttelt ungläubig den Kopf.

Und Abend für Abend sieht er sich verlockt, verführt, gezwungen, eine Seele aus der Verdammnis zu entlassen. Jede Geschichte lässt einen der Verworfenen in einem neuen Licht erscheinen. Langsam füllt sich der Saal mit schweigenden Gestalten. Die Sucher aller Epochen tauchen auf, die Inhaber furchtbarer Irrtümer, die Feuerköpfe und Schwärmer, die Eiferer und Querköpfe, die Widersacher und Versucher. Aber auch die Kleinmütigen und Ängstlichen, die Statistiker, Lottospieler und Heftchenleser. Sie stehen da und staunen. Sie hören und schauen zu. Die Aufschneider und Lumpen, die Seitenspringer und Rechtsüberholer, die Steuerhinterzieher und schwarzen Kassierer, die Redakteure und Filmemacher, die Pressesprecher und Dolmetscher. Sogar Bischöfe und Präsides stehen wieder da und geben sich verstohlen ein Zeichen des Friedens.

Nach tausend und abertausend Jahren schließlich schweigt der Erzähler.

»Was ist?« fragt Gott, denn es ist noch nicht Abend.

»Nichts ist«, sagt er, »das war’s. – Mehr weiß ich nicht. Nun kannst du mich zur Hölle schicken.«

Gott sieht ihn lange schweigend an.

»Wozu?« sagt er dann. »Die Hölle ist leer!«

Da brandet ringsum gewaltiger Jubel auf. Die Seelen fallen sich selig in die Arme. Sie singen, schreien und tanzen. Die Portale des Saales springen auf. »Ruach«, die Geistin, stürmt herein und bringt die Frisuren durcheinander. Feuerzungen senken sich aus der Höhe. Der riesige Bau erbebt. Die Erzengel müssen einschreiten, um für ein Minimum an Ordnung zu sorgen. Nur langsam gelingt es den himmlischen Heerscharen, sich zu Chören aufzustellen. Johann Sebastian Bach eilt an die Orgel. Anton Bruckner verteilt die Noten. Mozart gibt den Einsatz, und Beethoven zückt sein Hörrohr, und dann singen sie das »Te Deum« des Meisters von St. Florian, in strahlendem C-dur.

Gott breitet segnend die Arme aus. »Die Partitur hat er mir gewidmet!« sagt er zu Sophia, die hinter ihm steht. Sie lächelt weise.

Männer sind ja so leicht glücklich zu machen.

 

 

Über die Autorin / den Autor:

F. P., geboren 1938, seit 1963 beim Westdeutschen Rundfunk, nach 1970 ARD-Korrespondent in Moskau, Ostberlin, Washington und New York, danach Chefredakteur Fernsehen, Direktor Hörfunk und seit 1995 Intendant des WDR in Köln.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 5/2004

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.