Pfarrerinnen und Pfarrer üben einen der schönsten und anspruchsvollsten Berufe aus. Doch das Wissen um die Komplexität und Differenziertheit dieses Berufes und die Lust, ihn engagiert und identifiziert mit der Sache auszuüben, wurde in den letzten Jahrzehnten durch verschiedene Entwicklungen nicht unerheblich strapaziert – zum einen durch empfindliche Kürzungen in der Besoldung und Versorgung, durch den Zwang zu halben und dreiviertel Stellen und einem Trend in den Synoden, die Pfarrerschaft vor allem als Kostenfaktor zu betrachten. Zum andern aber auch – und das scheint mir noch gravierender zu sein im Hinblick auf die Verunsicherung der Pfarrerschaft als der finanzielle Aspekt – durch die ständige Selbstthematisierung des Pfarrberufs und seine vielfach diagnostizierte Reformbedürftigkeit. Die allenthalben geführte Diskussion über das Pfarrerbild und die Kirchenreformpapiere vieler Landeskirchen, die eine grundlegende Revision des Pfarrberufs als dringlich und unabwendbar für die Zukunftsfähigkeit der Kirche halten, zeigen dies überdeutlich.

Der Pfarrberuf scheint sich nicht mehr von selbst zu verstehen. Das Amt, wie es ehedem verstanden wurde, das Amt, das die Person des Pfarrers und der Pfarrerin trägt und von der Achtung und dem Vertrauen der Menschen lebt, dieses verstaubt und antiquiert wirkende Amt soll nun professionalisiert und modernisiert werden. Das neue Vokabular, das die entsprechenden Reformpapiere dem Kontext und der Semantik des Wirtschaftssystems entnommen haben, verrät den Trend zu einer solchen Professionalisierung nur allzu deutlich: Wie in der Managementführung von Unternehmen wird nun aller Orten von Personalentwicklung und Personalführung geredet. Pfarrerinnen und Pfarrer sollen über Jahresdienstgespräche oder detaillierte Dienstvereinbarungen stärker beobachtet, angeleitet und kontrolliert werden in ihrem Tun. Dabei sollen konkrete Ziele, Strategien und Maßnahmen abgesprochen werden, die bis zum nächsten Gespräch zu erreichen bzw. umzusetzen sind. Durch Maßnahmen dieser Art soll zur Qualitätsförderung und zur Qualitätssicherung und zu mehr Effektivität im Amt beigetragen werden, wie es z.B. im westfälischen Reformprogramm »Kirche mit Zukunft« heißt.

Die Bemühungen der verschiedenen Landeskirchen, Pfarrerinnen und Pfarrer stärker in die Pflicht zu nehmen, sind zunächst einmal zu würdigen und in gewisser Hinsicht auch notwendig in einer Gesellschaft, die immer mehr Anspruchsindividualitäten erzeugt und immer stärker vom Markt her denkt. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass es im Gefolge der dialektisch-theologischen Ära eine Zeit gab, in der es geradezu verrufen war, sich an Fragen und Bedürfnissen von Kirchenmitgliedern zu orientieren und auf diese sensibel einzugehen. In den siebziger Jahren konnte ein Gespräch anlässlich einer Trauung, das im Eklat endete, sogar als besonderer Erfolg gewertet werden. So überlegte Kurt Marti, konventionelle Kirchenmitglieder zum Kirchenaustritt zu ermutigen und ihnen von Amtshandlungen abzuraten: »Die wenigen Fälle, in denen es mir gelang, Brautleute zum Verzicht auf die kirchliche Trauung zu bewegen, zähle ich zu meinen geglücktesten Traugesprächen – die Wirkung war jedesmal befreiend für beide Seiten, selbst in einem Fall, wo das Brautpaar das Gespräch empört abbrach.«1 Im Gefolge der Seelsorgebewegung haben sich wiederum viele Pfarrerinnen und Pfarrer nur an sich selbst, ihren eigenen Gefühlen und Wünschen orientiert. Auch das hat zu Verwerfungen und Enttäuschungen bei den Gemeindegliedern geführt. Beide Haltungen stehen in Spannung zu einem Beruf, in dem es viele berechtigte Erwartungen von Seiten der Kirchenmitglieder als auch von Seiten der Kirchenleitung an ihr professionelles Personal gibt.

Auf der anderen Seite gerät die Kirche mit einer unreflektierten Mitgliederorientierung, mit einer unmittelbaren Orientierung am Markt, seiner Sprache, seinen Mechanismen und seiner Logik (»der Kunde ist König«) in Spannung zu ihrer Botschaft und damit auch zur Professionalität des Pfarrberufs. Aus professionssoziologischer Perspektive zeigt sich nämlich, dass die momentan angestrebte Professionalisierung paradoxerweise die Professionalität des Pfarrberufs nicht in jedem Fall fördert, sondern ihr in mancher Hinsicht sogar abträglich ist und ungewollt zur Deprofessionalisierung des Pfarrberufs beiträgt. Es gibt insofern nicht nur theologisch-dogmatische Gründe, die eine gewisse Skepsis gegenüber manchen der angestrebten Reformen nahe legen, sondern auch professionstheoretische.

Diese These will ich im Folgenden erläutern und ausführen. Zuerst stelle ich dazu die Typik der Professionen vor, wie sie aus professionstheoretischer Perspektive zu beschreiben ist. Der Begriff Professionalität bekommt auf diesem Hintergrund eine andere Bedeutung als der geläufige und aus der Wirtschaft (re)importierte. Dann führe ich in Auseinandersetzung mit den in der Kirche diskutierten Professionalisierungsmaßnahmen vor, was dies konkret bedeutet.

1. Was heißt Professionalität in den Professionsberufen?

Der Pfarrberuf wird professionssoziologisch einer bestimmten Berufsgruppe zugerechnet, der Berufsgruppe der Professionen. Die Professionen sind durch eine spezielle Typik geprägt, die sie nur partiell mit anderen Berufen vergleichbar macht. Zu den klassischen Professionen gehören Ärzte, Pfarrerinnen und Richter, in gewisser Hinsicht auch Lehrerinnen und Lehrer. Die Professionsberufe zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich an einer zentralen Sachthematik orientieren: Es geht in ihnen um die Vermittlung von Gesundheit, Recht und Seelenheil bzw. Glauben.

Weil Krankheit, Schuld oder im Pfarrberuf die Erfahrung der Trauer oder die Suche nach dem Sinn des Lebens für die jeweils Betroffenen eine außeralltägliche und identitätsrelevante Bedeutung haben, setzt ihre Bearbeitung eine persönliche Form der Kommunikation voraus. Die Kommunikation unter körperlich Anwesenden besitzt deshalb einen außerordentlich hohen Stellenwert in den Professionsberufen und in den Funktionssystemen (Recht, Religion und Gesundheit), die sie repräsentieren. Dies ist in der Mediengesellschaft, in der andere Formen der Kommunikation drastisch zugenommen und an Bedeutung gewonnen haben, besonders bemerkenswert. Der Inhalt, der den Pfarrberuf bestimmt, prägt mithin wesentlich die Form seiner Kommunikation. Das schließt nicht aus, dass elektronische Medien auch für den Pfarrberuf zunehmend an Bedeutung gewinnen, aber sie können die interaktive, direkte Kommunikation unter anwesenden Personen nur in den wenigsten Fällen ersetzen bzw. münden in der Regel in sie ein wie bei der Vorbereitung der Predigt oder des Konfirmandenunterrichts z.B.

Die interaktive Kommunikation, also die direkte Kommunikation unter körperlich Anwesenden,2 hat besondere Vorzüge und Schwächen. Für unseren Argumentationszusammenhang ist besonders wichtig hervorzuheben, dass interaktive Kommunikation eine unmittelbare wechselseitige Wahrnehmung ermöglicht. Das heißt, das Bild, das ich mir von der Gesprächspartnerin mache, ist verhältnismäßig realistisch. Es ist nicht manipulierbar wie in den elektronischen Medien oder auch in den Printmedien, die notwendig oder auch gezielt mit selektiven und gelenkten Bildausschnitten operieren. Es ist auch kein virtuelles Gegenüber wie im Chattroom des Internet. Die Gesprächspartnerin ist in kleinen Interaktionssystemen – im Gottesdienst, im Konfirmandenunterricht und im Seelsorgegespräch – vielmehr direkt körperlich greifbar, riechbar, hörbar und beobachtbar und damit als reale Person identifizierbar. Das macht die interaktive Kommunikation so authentisch, so verletzlich, so komplex und informationsreich und deshalb auch so wertvoll.

Interaktive Kommunikation ist authentische Kommunikation. Mit Authentizität meine ich dabei nicht, dass Gefühle unmittelbar und wahrhaftig kommuniziert würden, sondern dass die Bedingungen der Kommunikation direkt überprüft und wahrgenommen werden können. Deshalb will der Richter im Gerichtssaal alle Zeugen und Beschuldigten selbst sehen und wahrnehmen und akzeptiert nur in besonders heiklen Fällen – und äußerst widerwillig – ein Video. Deshalb besteht eine verantwortungsbewusste Ärztin darauf, dass der Patient in die Praxis kommt und nicht per Telefon diagnostiziert wird, es sei denn, der Fall ist ihr bekannt und insofern klar. Deshalb sucht eine verantwortungsvolle Pfarrerin im Kasualienfall die Betroffenen persönlich auf, obwohl es immer wieder um den gleichen Kasus, um eine Beerdigung, Taufe oder Trauung geht.

Weil sie Leibhaftigkeit voraussetzt, ist interaktive Kommunikation in der Regel eindrücklicher, nachhaltiger und anschaulicher als massenmediale Kommunikation. Identitätsvorschläge, Haltungen und Einstellungen können bei der Kommunikation unter Anwesenden an leibhaften Personen überprüft und abgelesen werden und auf diese Weise die Glaubwürdigkeit der kommunizierten Inhalte verstärken oder umgekehrt auch in Frage stellen. Dies ist im Hinblick auf den Pfarrer bzw. die Pfarrerin von hoher Bedeutung, nicht zuletzt in der funktional differenzierten Gesellschaft, in der die meisten Informationen nur noch massenmedial gewonnen werden und kaum noch individuell überprüft oder durch eigene Erfahrungen bestätigt werden können. Pfarrer und Pfarrerinnen symbolisieren das christliche Programm konkret an ihrem Leib. Sie stellen körperlich und wahrnehmbar Religion und Kirche dar.

Die interaktive Kommunikation bildet aufgrund dieser besonderen Eigenschaften eine zentrale Basis für das Wachstum von Vertrauen. Vertrauen ist grundlegend für das soziale Leben. Ohne Vertrauen gäbe es keine Sozialität. Das persönliche Vertrauen spielt beim Arzt oder bei der Pfarrerin aber noch eine weitaus zentralere Rolle als beim Brötcheneinkauf beim Bäcker oder bei Verwaltungsaufgaben im Rathaus. Das liegt an der Existentialität der Inhalte und der Komplexität der Situationen, die in den Professionsberufen im Mittelpunkt stehen. Gesundheit, Recht und Glauben sind sehr persönliche und komplexe Sachverhalte und deshalb sehr viel schwerer »herstellbar« oder vermittelbar als Brötchen oder Pässe auf dem Rathaus. Sie verlangen ein professionsethisch sensibles Verhalten und ein individuelles Eingehen auf die jeweilige Situation des oder der Betroffenen. Sie setzen eine differenzierte Beobachtungsgabe, Sorgfalt und ein hohes Maß an Verantwortungsbereitschaft voraus. Deshalb können sich professionelle Ärztinnen und Richter, Pfarrerinnen und Lehrer nur bedingt an Standardsituationen orientieren, obwohl viele Krankheiten, Rechts- und Seelsorgepro-bleme ständig wiederkehren. Aufgrund der Existentialität und Komplexität der Thematiken und der individuell oft sehr verschiedenen Art, mit einer Krankheit oder einem Trauerfall umzugehen, verlangen professionelle Situationen ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und zugleich ein an der jeweils individuellen Lage orientiertes autonomes Handeln.

Weil die persönliche Beziehung in den Professionsberufen eine so große Rolle spielt, liegt die Gefahr des Missbrauchs von Vertrauen und Macht besonders nahe und ist der dadurch entstehende Vertrauensverlust besonders prekär. Deshalb haben die Professionen Professionsethiken entwickelt und wenden bei Übertretung derselben zum Teil scharfe disziplinarrechtliche Maßnahmen an, um weitere Imageschäden abzuwehren und die Professionellen zu disziplinieren.

Professionsethiken dienen dem Schutz des Vertrauens. Sie setzen zwar unterschiedliche Akzente in der jeweiligen Profession, sind aber alle dadurch gekennzeichnet, dass sie Bindungen für die gesamte Lebensführung erzeugen, dass sie also über den eigentlichen Arbeitskontext hinausreichen. Das heißt, es ist bei keiner Profession möglich, Person und Beruf, Arbeitszeit und Freizeit strikt und überschneidungsfrei voneinander zu trennen. Die wichtigsten Verhaltenszumutungen, die damit für den Pfarrberuf einhergehen, sind aus den Pfarrergesetzen bekannt: das Beichtgeheimnis, das die absolute Verschwiegenheit in der Seelsorge garantieren soll und die Residenzpflicht bzw. das Prinzip der Erreichbarkeit, das besonders in existentiellen Situationen, in aller Regel ist das der Trauerfall, von großer Bedeutung ist. Verantwortliche Ärztinnen, Lehrer und Pfarrerinnen und Pfarrer leben in Rufbereitschaft, weil es in ihren Berufen um existentielle Situationen und Probleme geht, nicht um ein Handwerk mit toter Materie. Dies betrifft die engagierte Lehrerin genauso wie den Kinderarzt und die Pfarrerin. Aus diesem Grund ist professionelle Arbeit auch nicht einfach zu quantifizieren und zu begrenzen: Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Gehört der Kaffee mit der netten Presbyterin noch zur Kategorie der Arbeit oder der der Geselligkeit?

Diese knappe professionsethische Skizze soll hier genügen. Entscheidend ist: Die Professionen zeichnen sich in ihrer Professionalität gerade dadurch aus, dass für sie die sensible und verständliche Vermittlung einer zentralen und existentiell bedeutsamen Thematik im Mittelpunkt steht. Im Pfarrberuf ist das die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus, auf die alle Pfarrerinnen und Pfarrer bei der Ordination verpflichtet werden. Die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus ist der Kern und die Mitte des Pfarrberufs. Dieser sachliche Kern zieht nun erhebliche Konsequenzen im Hinblick auf die Kommunikationsform und die Berufsethik des Pfarrberufs nach sich. Verschwiegenheit, Verlässlichkeit, Verantwortungsbereitschaft und Sorgfalt sind wohl die wichtigsten Kriterien, die berufsethisch die Glaubwürdigkeit und das sachliche wie persönliche Engagement des Pfarrers und der Pfarrerin verbürgen sollen. Damit ist auch die zentrale Kompetenz eines Pfarrers bzw. einer Pfarrerin benannt. Wie verhält sich diese Art Professionalität nun zu den verschiedenen Maßnahmen der von den Landeskirchen angestrebten Professionalisierung?

2. Spezialisierung und generalistische Kompetenz

In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat man die Professionalisierung des Pfarrberufs vor allem über seine Spezialisierung und Differenzierung zu steigern versucht. Es war insbesondere die Seelsorgebewegung, die tiefenpsychologisch orientierte Zusatzausbildungen für die Pfarrerinnen und Pfarrer einforderte, um deren seelsorgerliche Kompetenzen zu stärken bzw. allererst zu entwickeln. Aus der Perspektive der Pastoralpsychologie schien dabei evident, dass man nur mit pastoralpsychologischer Zusatzausbildung in der Lage ist, seelsorgerlich tätig zu sein. Aber nicht nur in der Seelsorge ist der Ruf nach Spezialisierung laut geworden. Auch in Bezug auf den Konfirmandenunterricht, selbst im Hinblick auf Gottesdienst und Predigt sollten entsprechende Differenzierungen und Spezialisierungen vorgenommen werden. Nur noch eigens fortgebildete Experten sollten das jeweilige Tätigkeitsfeld besetzen und in einem Team- oder Gruppenpfarramt zusammenarbeiten. Durch einen erheblichen Ausbau von Funktionspfarrstellen wollte man sich vom Gemeindepfarramt und der als unzeitgemäß geltenden Parochie verabschieden. Auch wenn sich wenig davon gehalten hat: Bis heute gelten Sonderpfarrämter mit speziellen Kompetenzen als Leitmodell der Professionalisierung.

Es gibt viele Gründe, warum sich diese Reformbemühungen nicht durchsetzen konnten und sich Funktionspfarrstellen weithin nur auf bestimmte Arbeitsfelder abseits des Gemeindepfarramts wie die Seelsorge in Kliniken, beim Militär, bei der Polizei, in Gefängnissen, Betrieben, Schulen und Hochschulen beziehen.3 Ich konzentriere mich auf drei. Wir hatten festgestellt, dass ein zentrales Element der Typik professionellen Handelns der direkte Kontakt, die persönliche Begegnung mit Menschen ist, die vor allem über Kontinuität Vertrauen und Erwartungssicherheit schafft und stabilisiert. Vertrauen ist die entscheidende Basis pastoralen Handelns. Dass dieselbe Pfarrerin in einer Gemeinde für unterschiedliche kirchliche Aufgabenfelder zuständig ist und man ihr in den verschiedensten sozialen Kontexten begegnet, spielt deshalb eine kaum zu überschätzende Rolle für die pastorale Tätigkeit. Die Kontinuität der Person ist auch deshalb so relevant, weil sie für einen beiläufigen, niedrigschwelligen Informationsfluss sorgt.

Es macht die Stellenteilung im Gemeindepfarramt ja gerade so mühsam und uneffektiv, dass unendlich viele Informationen umständlich miteinander geteilt und abgestimmt werden müssen, um am Ende die entscheidende, ursprünglich belanglos erscheinende Information doch noch zu vergessen und dadurch neue Missverständnisse und einen neuen Zeit- und Kraftaufwand zu provozieren. Professionelle Arbeit liegt nicht wie ein Kuchen als eine klar messbare Quantität vor. Sie ist aufgrund ihrer Komplexität – das heißt auch: aufgrund ihrer Diffusität – nur bedingt teilbar und differenzierbar.4

Damit komme ich zum zweiten Grund: Ganz entgegen einem weit verbreiteten Verständnis von Professionalisierung ist es für eine Profession gerade typisch und notwendig, die Rolle eines Generalisten, eines Allgemeinpraktikers als professionelle Kernrolle auszubilden. Es ist der Allgemeinpraktiker, der für die Sicherheit der Ansprechbarkeit sorgt. Für einen Professionslaien ist klar: In jedem Fall fühlt sich der Hausarzt zuständig, wenn ich krank werde. Dieser entscheidet dann, ob er das Problem selbst lösen kann oder ob es dazu eines Spezialisten bedarf. Das Pfarramt hat in analoger Weise die Funktion, die Sicherheit der Ansprechbarkeit in Fragen des Glaubens und der Gemeindeleitung zu garantieren. Die Reformatoren haben mit ihrem funktionalen Amtsverständnis auf diesen Aspekt der Erwartungssicherheit größten Wert gelegt und ihn mit dem Aspekt der theologischen Kompetenz verbunden: Der Pfarrer sollte von allen anderen Aufgaben freigestellt und durch das Studium der Theologie entsprechend theologisch qualifiziert sein, um, anders als anderweitig engagierte Christinnen und Christen, in jedem Fall die Zeit und die Kompetenz zu haben, erwartungssicher in religiösen Fragen ansprechbar zu sein, das Evangelium verständlich zu verkünden und die Menschen seelsorgerlich zu begleiten.

Der amerikanische Professionssoziologe Andrew Abbott hat in diesem Zusammenhang auf ein bemerkenswertes Phänomen aufmerksam gemacht: Während Professionelle innerhalb einer Profession sich höheren Status davon versprechen, wenn sie sich spezialisieren und funktional differenzieren, genießen in der Öffentlichkeit bzw. bei den betroffenen Menschen selbst die allgemeinen Praktiker das größte Ansehen, weil sie sich der gesellschaftlichen Problemumwelt am unmittelbarsten aussetzen. Allgemeinpraktiker versuchen, Ordnung mitten im Chaos zu schaffen. Sie haben keine Angst vor der Kontamination durch die Praxis und setzen sich dem direkten Kontakt in der vertrauten Umgebung der betroffenen Personen aus – beim Hausbesuch der Ärztin oder der Gemeindepfarrerin z.B. Gerade der Umgang mit schwer definierbaren, diffusen und überkomplexen Situationen, die noch nicht analytisch zerlegt und verkleinert sind, ist professionstypisch und erfordert Wissen und Charisma. Umgekehrt ist es die professionelle Aufgabe der Pfarrerin, aus der Diffusität eines Kasualgesprächs herauszuführen und die religiösen Implikationen sensibel herauszuhören und zu interpretieren.

Gefragt ist in den Gemeinden mithin weniger ein Spezialist für die Seelsorge und eine andere Spezialistin für den Konfirmandenunterricht als vielmehr eine Pfarrerin, die als theologische Allgemeinpraktikerin ansprechbar und kompetent ist, wenn es um Fragen des Glaubens, des Lebenssinns, der Trauer oder um den schwierigen Umgang mit pubertierenden Konfirmanden geht. Im Übrigen würden die Predigten von Pfarrerinnen und Pfarrern ohne entsprechende Erfahrungen in Seelsorge und Konfirmandenunterricht an Lebensnähe und Realitätssinn drastisch verlieren.

Andrew Abbott weist darauf hin, dass sich die Professionen durch ihren Rückzug von ihren heartland disorders, wie er das Kerngeschäft vor Ort nennt, erhebliche Verluste einhandeln. Zuviel Systematisierung und Ausdifferenzierung scheint den Professionen und ihrem Image eher zu schaden als es zu fördern – und zwar nicht nur ihrem Image, sondern überraschenderweise auch ihrer Effektivität. Damit komme ich zum dritten Punkt:

Entgegen der allgemeinen Annahme, dass die berufliche Kompetenz durch Zusatzausbildungen und Spezialisierungen in jedem Fall verbessert und erweitert wird, ist darauf hinzuweisen, dass Spezialisierung ganz eigene und gelegentlich sogar extreme Blindheiten erzeugen kann. Das kann man im Medizinsystem regelmäßig erleben und beobachten – mit zum Teil lebensgefährlichen Konsequenzen. Spezialisierung erzeugt durch ihren jeweils eigenen Fokus zwangsläufig bestimmte Blindheiten, die eigene Gefahren, Risiken und damit Inkompetenzen mit sich bringen. So können pastoralpsychologisch geschulte Pfarrerinnen und Pfarrer aufgrund ihrer Fortbildung dazu tendieren, ihre Berufspraxis und die Menschen, mit denen sie es zu tun haben, nur noch sehr selektiv unter psychoanalytischen Gesichtspunkten wahrzunehmen. Ganz abgesehen von den problematischen Selbstimmunisierungsstrategien psychoanalytischer Weltwahrnehmung besteht dabei die Gefahr, die Gemeinde vor allem unter therapeutischen und nicht mehr unter geistlich-religiösen Gesichtspunkten wahrzunehmen. Das führt dann wiederum zu einer Verwirrung der Gemeindeglieder, die in der Regel religiöse und keine medizinischen Erwartungen an die Pfarrerin haben. Es kann darüber hinaus aber auch im Hinblick auf das Selbstverständnis der Pfarrerin selbst zweideutig und verwirrend sein: Ist sie nun primär Therapeutin oder Geistliche?

Die Stärken des Gemeindepfarramts liegen nicht in der Spezialisierung, sondern in allgemeineren Fähigkeiten, die es erlauben, flexibel zu reagieren und das heterogene komplexe Ganze im Blick zu behalten. Dass Pfarrerinnen und Pfarrer Generalisten sind, heißt insofern keineswegs, dass sie »Mädchen für alles sind« oder »Hansdampf in allen Gassen« sein sollten. Sie sind vielmehr Generalisten im Hinblick auf ihre pastorale Kernrolle, das heißt, sie sind für einen überdurchschnittlich großen Bereich zuständig und verantwortlich und setzen dafür ihre spezifisch professionelle theologische Kompetenz ein.

3. Controlling und professionelle Autonomie

Pfarrerinnen und Pfarrer müssen in ihrem Beruf mit besonderen Verhaltenszumutungen zurecht kommen, die nicht immer leicht zu akzeptieren sind, für die Familien nicht und für die einzelnen individualisierten Pfarrerinnen und Pfarrer auch nicht. Die enge Kopplung von Person und Amt, die mangelnde Trennschärfe von Arbeitszeit und Freizeit und die Quasi-Identität von privatem und beruflichem Leben im Pfarrhaus strapazieren manchmal selbst die engagiertesten Pfarrerinnen und Pfarrer. Trotz dieser hohen Ansprüche an die Berufsethik, an die pastorale Präsenz und Erreichbarkeit und einer eher bescheidenen Besoldung sind die meisten Pfarrerinnen und Pfarrer mit ihrem Beruf ziemlich zufrieden, zumindest galt das bislang. Eine Akzentverlagerung deutet sich hier an, die ohne Zweifel im Zusammenhang der angedeuteten Veränderungsprozesse zu sehen ist. Die bislang zu konstatierende verhältnismäßig hohe Zufriedenheit der Pfarrerinnen und Pfarrer liegt an dem Privileg einer außergewöhnlich hohen Handlungsautonomie, die den Pfarrberuf wie alle Professionen kennzeichnet.

Anders als der ökonomische Markt orientieren sich Professionelle nicht unmittelbar an der subjektiven Nachfrage von Kundinnen und Kunden. Sie entscheiden vielmehr selbst, ob die an sie herangetragenen Wünsche sachgemäß sind oder nicht und ob insofern Handlungsbedarf besteht oder nicht. Es ist deshalb völlig richtig, dass das Kirchenrecht zwar bestimmte Leitlinien pastoralen Handelns vorgibt, letztlich aber viele Spielräume lässt, die die Entscheidung im Einzelfall der Pfarrerin oder dem Pfarrer überlässt. Die Komplexität der Sachthematik, mit der es Pfarrerinnen und Pfarrer zu tun haben, verlangt diese professionelle Handlungsautonomie. Um nur ein Beispiel zu nennen: In der Regel geht das Kirchenrecht davon aus, dass ein Kind, das konfessionslose Eltern hat, nicht getauft werden kann. Kommt die Pfarrerin im Seelsorgegespräch aber zu dem Schluss, dass einer Taufe im konkreten Fall keinerlei theologische Gründe im Wege stehen, steht es ihr selbstverständlich frei, die Taufe vorzunehmen. Sie ist durch ihr Gewissen dann sogar dazu verpflichtet. Niemand wird sie deshalb belangen. Das geht im Übrigen schon allein deshalb nicht, weil die Pfarrerin unter dem Beichtgeheimnis steht. Sie ist deshalb nicht rechenschaftspflichtig. Sie darf aufgrund des Beichtgeheimnisses nicht einmal über die Motivlage derjenigen Auskunft geben, mit denen sie in der Seelsorge gesprochen hat.

Der Anspruch auf die Unabhängigkeit der Professionen gründet sich auf ihre Sachthematik. Für den evangelischen Pfarrberuf gilt dies in hervorragender Weise. So sehr Martin Luther den Pfarrberuf als Dienst an der Gemeinde verstand, so sehr definierte er diesen Dienst vom Wort Gottes her – und das Wort Gottes ist, so Luther, kein Hofediener und Bauernknecht! Deshalb muss die Predigerin frei und unabhängig sein. Deshalb muss ihre Stellung stark und autonom sein, damit sie den Mut hat, den Leuten nicht nach dem Mund zu reden, sondern gegebenenfalls Erwartungen zu enttäuschen, unpopuläre Aussagen zu machen oder auch schmerzhafte Entscheidungen um des Evangeliums willen zu treffen. Die Autonomie des Predigtamtes entspricht der Würde und Autorität des Wortes Gottes. Es ist in dieser Würde und Autorität des Wortes Gottes begründet, dass Pfarrerinnen und Pfarrer nicht weisungsgebunden sind, dass sie keiner direkten Kontrolle oder Beaufsichtigung unterliegen.

Diese Freiheit der Berufsgestaltung kann missbraucht werden – ich denke an die eine oder andere Form der Pfarrherrlichkeit oder schlicht auch an Bequemlichkeit und subjektive Willkür. Wird die Autonomie im Pfarrberuf nicht verantwortlich wahrgenommen, wird der Ruf laut, stärkere Kontrollen einzuführen. In der Gegenwart spielt die Veränderung der Mentalitäten der Menschen und der große Druck, der von der Logik des Wirtschaftssystems ausgeht, aber vermutlich eine noch größere Rolle bei dem Wunsch nach stärkerem Controlling und intensiverer Personalentwicklung. Nicht nur der Pfarrberuf: Alle Professionen haben damit zu kämpfen, dass viele Professionslaien meinen, viel besser zu wissen, wie zu handeln wäre und dass sie darüber hinaus das Prinzip »der Kunde ist König« ganz selbstverständlich und naiv auf die professionellen Kontexte übertragen. Dies trifft die Ärztinnen und Ärzte in gleicher Weise wie die Lehrerinnen und Lehrer und eben auch die Pfarrerinnen und Pfarrer.5

Auf diesem Hintergrund ist verständlich, dass sich nun auch die Kirchenleitungen, die sich unter Druck fühlen, an der Semantik und den Mechanismen des ökonomischen Marktes orientieren zu müssen meinen. Bei allen Anregungen, die man von Unternehmensberatungen und vom ökonomischen Denken her gewinnen kann, ist dabei aber grundlegend, die Grenzen der Übertragbarkeit wirtschaftlicher Standards auf professionelle Kontexte zu beachten und zu reflektieren. Und diese Grenzen scheinen mir in der gegenwärtigen Debatte nicht immer realistisch wahrgenommen zu werden. Der Pfarrberuf ist als Profession eben nicht ein Beruf wie jeder andere und damit auch nicht vergleichbar mit Berufen, die dem Wirtschaftssystem zuzuordnen sind. Die spezifische Problemtypik und Komplexität pastoral-professionellen Handelns wird deshalb nicht erfasst, wenn auf der einen Seite ein hoher professionsethischer Standard gefordert wird (Kopplung von Person und Amt) und auf der anderen Seite ein Controlling eingeführt und ein Maß an Transparenz gefordert wird, das die professionelle Autonomie gefährdet und mit dem Selbstverständnis des Pfarrberufs in Widerspruch gerät.

In überkomplexen Zusammenhängen sind der Nachprüfbarkeit von Ergebnissen und Zielen prinzipiell Grenzen gesetzt. Die professionelle Arbeit von Pfarrerinnen und Pfarrern ist insofern auch nur eingeschränkt zu technisieren, zu normieren und zu standardisieren. Die Methoden eines Wirtschaftsunternehmens sind deshalb auch nicht unbesehen auf den pastoralen Berufsalltag zu übertragen. Sie mögen hier und da Impulse geben, das Timemanagement verbessern, eine bessere Öffentlichkeitsarbeit anregen und ein paar kommunikative Tricks für die Leitung einer Kirchengemeinderatssitzung vermitteln. Aber tendenziell unterschätzen und trivialisieren sie die Komplexität, auf die Pfarrerinnen und Pfarrer in Seelsorge und Verkündigung treffen. Es geht beim Pfarrberuf eben um Fragen des Glaubens, des Lebens und Sterbens, und nicht um den Verkauf von Nudeln oder Autos. Die Kirche ist kein Unternehmen, sondern folgt aufgrund ihrer Sachorientierung einer ganz anderen, eigenen Logik.

Gute und glaubwürdige Pfarrerinnen und Pfarrer orientieren sich nicht unmittelbar am »Kunden«,6 sondern wenden sich individuellen Fragen und Problemen immer auf dem Hintergrund der Inhalte zu, auf die sie verpflichtet sind und die es im persönlichen Kontakt zu vermitteln gilt. Nur wenn Pfarrerinnen und Pfarrer in der Bindung an Schrift und Evangelium genügend Distanz zur Gemeinde wahren, können sie Handlungsimpulse setzen, die die lebendige Zirkulation des Wortes Gottes fördern. Nur dann haben sie den Mut, sich nicht durch Austrittsdrohungen erpressen zu lassen und nicht der weit verbreiteten Sucht zu erliegen, überall und von jedem geliebt zu werden und auf Schritt und Tritt und um jeden Preis um Anerkennung zu buhlen.

»Man muss nicht jeden Terminwunsch erfüllen. Man muss nicht jede Kasualhandlung vollziehen. Man muss sich auch nicht jeden Vorwurf gefallen lassen.«7 Treffend beschreibt Manfred Josuttis, was passiert, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer nicht mehr gelassen und orientiert am Evangelium um ihre innere wie äußere Unabhängigkeit wissen: »Man hat zunehmend Angst vor der Ablehnung und der Abwendung der Gemeindeglieder. Man ist ständig auf der Suche nach Anerkennung und ist dankbar für jede Bejahung. Man vermeidet Konfrontationen. Man wird, in extremen Konfliktfall, erpressbar durch Austrittsdrohungen, käuflich bei Liebesentzug. Und man verfehlt den beruflichen Auftrag, weil man, wie jedermann spürt, angefüllt mit Menschenfurcht nicht Religion machen kann.«8 Die Folgen dieser pastoralen Unsicherheit und Kundenorientierung sind verheerend für die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihre Botschaft, aber auch für die Pfarrerinnen und Pfarrer selbst.

Pfarrerinnen und Pfarrer können überdies mit ihrer ungewöhnlich hohen Arbeitsbelastung nur unter der Voraussetzung fertig werden, dass sie in hohem Maß selbst entscheiden, ob, wann und wie gehandelt werden soll. Die innere wie äußere Unabhängigkeit der Pfarrerin und des Pfarrers ist nicht zuletzt im Hinblick auf die vielen und nicht selten konfligierenden Erwartungen in einer Gemeinde unabdingbar. Der Pfarrer darf nicht zum Funktionär der Gemeinde werden und das Presbyterium nicht zum Aufsichtsrat. Aufgrund der vielen Informationen, die im Pfarramt zusammenfließen, muss der Pfarrer in vielen Fällen ohnehin autonom entscheiden, ob und wie zu handeln ist. Er kann dieses Handeln aufgrund der Amtsverschwiegenheit und des Beichtgeheimnisses oft nicht einmal im Nachhinein transparent machen. Ein gewisses Maß an Intransparenz gehört insofern notwendig zu den Professionen und setzt der Teilbarkeit und Diskutierbarkeit pastoraler Arbeit enge Grenzen.

Es ist deshalb darauf zu achten, dass die Instrumente der Personalentwicklung, die nun von vielen Kirchenleitungen erprobt werden, die professionelle und sachgemäße Autonomie von Pfarrerinnen und Pfarrer nicht gefährden und damit gleichzeitig die Motivationsbasis auf Seiten der Pfarrerinnen und Pfarrer aushöhlen, den professionsethischen Verhaltenserwartungen gerecht zu werden. Geschähe dies, würde sich dies wiederum negativ auf das Image des Pfarrberufs auswirken und eine Deprofessionalisierung des Pfarrberufs befördern.

Sicherlich wird man nach Wegen suchen müssen, mit Pfarrerinnen und Pfarrern ins Gespräch über ihre Arbeit zu kommen – und zwar auch und gerade mit den nicht motivierten, die sich diesen Gesprächen besonders gern entziehen. Das alte Instrument der Visitation war dazu gedacht. Ich sehe nicht, warum dieses systemisch ansetzende Instrument nicht besser genutzt und ausgebaut werden könnte, um Pfarrerinnen und Pfarrer die Möglichkeit zu geben, ihre Arbeit ab und an kritisch zu reflektieren. Ein intensiverer Kontakt zum Superintendenten oder zur Dekanin ist darüber hinaus fraglos wünschenswert, nicht zuletzt auch im Sinne einer Kultur der Wertschätzung und Würdigung. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob dazu die anvisierten sehr aufwändigen Jahresdienstgespräche mit ihrer geplanten detailreichen Verschriftlichung und ihrem Fokus auf der Machbarkeit und Veränderbarkeit gemeindlicher Prozesse und persönlicher Verhaltensstile der geeignete Weg sind.9

Man müsste auch Gemeinden, die unter der mangelnden Kompetenz oder der Alkoholsucht eines Pfarrers entsetzlich leiden, unbedingt die Möglichkeit einräumen, ihren Pfarrer wieder los zu werden – und zwar bevor alles Vertrauen zerstört ist. Auch müssen Kirchenleitungen die Chance haben, eine Pfarrerin rasch zu versetzen, wenn ein gedeihliches Zusammenwirken in einer Gemeinde nicht mehr möglich erscheint. Aber dazu bedarf es keiner Orientierung an Marketing-Konzepten. Diese Maßnahmen sind mehr oder weniger lautlos möglich, ohne die prinzipielle Basis des Pfarrberufs, die die enge Kopplung von Berufsethik und professioneller Autonomie darstellt, zu gefährden.

4. Die Orientierung an Einzelkompetenzen und das Problem der Überkomplexität

Im Zusammenhang einer stärkeren Überwachung und Professionalisierung des Pfarrberufs stehen auch die Konzepte der Landeskirchen, die als Leitziel für die Aus- und Fortbildung eine ganze Liste von Einzelkompetenzen vorlegen. Da ist von theologischer, spiritueller, seelsorgerlicher, pädagogischer, sozialer, kommunikativer, diakonischer, ökumenischer, kybernetischer und nicht zuletzt von Management-Kompetenz die Rede. So wünschenswert diese Kompetenzen im Pfarrberuf sind, so fragwürdig ist der Fokus, der damit eingenommen wird.

Erstens vermittelt diese Listen den Eindruck, dass nur der Pfarrer bzw. die Pfarrerin kompetent ist, der oder die alle diese Einzelkompetenzen in sich vereinigt. Nur die wenigsten werden das ehrlicherweise von sich behaupten können. Sind sie deshalb keine kompetenten Pfarrerinnen und Pfarrer? Zweitens suggeriert die Liste, dass all diese Einzelkompetenzen unproblematisch und spannungsfrei miteinander addiert werden können. Dies ist aber keineswegs der Fall. Hat eine Pfarrerin z.B. gute Führungsqualitäten, heißt das, dass sie den Mut hat, auch unangenehme Gespräche mit unzuverlässigen Mitarbeiterinnen zu führen. Sie wird von den betroffenen Mitarbeitern und deren »Klientel« dann kaum mehr als seelsorgerlich kompetent wahrgenommen werden.

Das führt zum dritten Punkt: Die Liste vernachlässigt die äußerst spannende Frage, wer denn nun eigentlich sachgemäß beurteilen können soll, ob ein Pfarrer oder eine Pfarrerin diese oder jene Einzelkompetenz hat oder nicht. Sie vernachlässigt mithin die starke Perspektivität und Subjektivität der Wahrnehmung. So kann ein Pfarrer in den Augen der Gemeindeglieder, die im Kasualienfall von ihm betreut wurden, als seelsorgerlich außerordentlich kompetent eingeschätzt werden, während die Senioren gerade in Sachen Seelsorge vom selben Pfarrer enttäuscht sind, weil er nicht so lange beim Geburtstagsbesuch verweilt wie sein Vorgänger oder keinen Sekt mit ihnen trinkt. Genauso können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Enttäuschung kommunizieren, weil die Pfarrerin sich nicht mit ihnen duzt und eine gewisse professionelle Distanz wahrt, die als unterkühlt wahrgenommen wird. Selbst im Hinblick auf das Kerngeschäft des Predigens wird das Urteil selten eindeutig sein: Die einen genießen die theologische Kompetenz der Pfarrerin und deren intellektuellen Predigtstil, während die anderen plötzlich gar nicht mehr kommen, weil ihnen der warme Erbauungsstil fehlt.

Dasselbe gilt im Übrigen auch im Hinblick auf den Vorgesetzten, der ebenfalls recht subjektive Vorstellungen davon hat, welches Handeln welche Kompetenz impliziert. Ist der Dekan reflektiert, macht er sich immerhin nicht unmittelbar selbst zum Dreh- und Angelpunkt der Beurteilung, sondern versucht differenziert wahrzunehmen und den fremden Stil des Kollegen zu würdigen. Aber, wie wir wissen, kann eine solch differenzierte Betrachtungsweise keinesfalls immer vorausgesetzt werden, zumal menschliche Schwächen und persönliche Kränkungen auch bei Führungspersonen den Blick erheblich verstellen können. Gerade die Kirche sollte für die Schwächen und Ambivalenzen von Personen eine realistischere Sensibilität haben als die vom olympischen Menschenbild geprägte zeitgeistige Kultur.

Die entscheidenden Kompetenzen im Pfarrberuf sind aufgrund der engen Kopplung von Person und Amt nur bedingt erlernbar und überprüfbar. Das ist in vielen anderen Berufen anders. So wichtig wissenschaftliche Bildung ist und so anregend Fortbildungen für den Pfarrberuf sein können, so sehr muss deshalb betont werden, dass jede Form von Wissen nur begrenzt Orientierung und Sicherheit für den Pfarrberuf bieten kann. Das liegt an der Überkomplexität vieler professionstypischer Situationen und Probleme. Keine verantwortungsvolle Ärztin kann einem Patienten versprechen, dass er in jedem Fall gesund werden wird. Keine Lehrerin kann sich sicher sein, dass ihre Unterrichtsmethoden in jedem Fall zum gewünschten Lernerfolg führen. Auch ein erfahrener Pfarrer, der schon viele Seelsorgegespräche geführt hat, wird in jedem Seelsorgegespräch neu zu erahnen versuchen, ob ein Gebet zu sprechen angebracht wäre oder nicht. Professionelle Begegnungssituationen sind deshalb nur sehr bedingt zu standardisieren und in ihrem Verlauf vorher zu sehen. Die Orientierung an Einzelkompetenzen setzt demgegenüber zuviel Standardisierungsmöglichkeiten voraus und suggeriert, dass man, wäre man tatsächlich so vielfältig kompetent, die berufliche Komplexität in den Griff bekommen könnte. Das mag in anderen Berufen vielfach der Fall sein, nicht aber im Pfarrberuf. Auch wenn es viele Kunstregeln für den pastoralen Berufsalltag gibt – aufgrund der Überkomplexität der Thematiken und der Individualität der Betroffenen bleibt ein gewisses Maß an Unsicherheit immer bestehen.

Auf diesem Hintergrund wird noch einmal besonders deutlich, warum das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit der Ärztin, des Pfarrers und der Lehrerin von so ausschlaggebender Bedeutung für die Professionen ist. Die entscheidende Orientierung inmitten von überkomplexen Situationen ist nur durch Vertrauen möglich. Vertrauen wiederum ist ganz wesentlich für den Erfolg – das gilt für die medizinische Behandlung ebenso wie für den Schulunterricht und die Seelsorge. Vertrauen kann dabei manch persönliche Schwäche ausgleichen. Wirkt ein Pfarrer glaubwürdig, verlässlich und engagiert, kann dadurch mangelnder Charme in erstaunlich hohem Maß kompensiert werden. Der beste Pfarrer ist deshalb nicht immer der kommunikativste. Es ist deshalb auch fragwürdig, die pastorale Kompetenz mit trivialisierenden Detailprüfungen nach Art eines Assessment-Center in künstlichen Settings bewerten zu wollen.

Pastorale Kompetenz ist nicht in Einzelkompetenzen dekomponierbar, sie ist vielmehr eine generalistische Kompetenz, die auf berufsethische Sorgfalt und Verlässlichkeit ebenso Wert legt wie auf sachliche Kompetenz und inhaltliches Engagement. Eine professionelle Pfarrerin weiß deshalb um die Grenzen individueller Steuerungsmöglichkeiten und sie hat gelernt, das Gefühl der Mehrdeutigkeit und des Zweifels in ihrem Beruf als Normalität zu akzeptieren.

Person und Amt sind im Pfarrberuf, wie in den Professionen überhaupt, eng miteinander gekoppelt. Bei der vielfach angestrebten Art der Professionalisierung droht diese Verbindung nach Maßgabe der ökonomischen Berufe immer mehr entkoppelt zu werden. Damit wird die wesentliche Basis des Pfarrberufs als Profession, seine professionelle Autonomie und sein hoher professionsethischer Standard, gefährdet. Die geplanten Professionalisierungsmaßnahmen könnten sich deshalb als Instrument erweisen, das paradoxerweise und ungewollt zur Deprofessionalisierung des Pfarrberufs beiträgt. Sie könnten neben manchen Gewinnen viele Verluste mit sich bringen – vor allem im Hinblick auf das Image und das Vertrauen, das Pfarrerinnen und Pfarrer in der Öffentlichkeit genießen. Soll die Professionalität von Pfarrerinnen und Pfarrern gefördert werden, ist deshalb behutsam und reflektiert vorzugehen und vor allem die besondere Typik des Pfarrberufs als Profession zu beachten.

Anmerkungen

Der Vortrag wurde in variierter Form auf dem Pfarrertag in Naumburg, auf der Superintendentenkonferenz der westfälischen Kirche in Norderney, auf dem Pfarrkonvent in Stuttgart-Zuffenhausen, vor den vereinigten Pfarrkonventen im Gestaltungsraum Münster in Ladbergen und auf dem Pfarrertag in Berlin gehalten.

 

1 K. Marti, Guerillataktik und Parteilichkeit: Überlegungen eines Gemeindepfarrers, in: Kirchliches Amt im Umbruch, (Hg.) H.-D. Bastian, München 1971, 110.

2 Vgl. zu diesem Begriff von Interaktion: N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bände, Frankfurt a.M. 1997, 812ff.

3 Funktionspfarrämter sind vor allem dort sinnvoll, wo Menschen zeitlich begrenzt voll in eine Organisation inkludiert sind und kaum die Möglichkeit haben, »normal« am gesellschaftlichen Leben (und damit auch an religiöser Kommunikation) teilzunehmen bzw. stark durch das Leben in einer Institution bestimmt und in ihrem sozialen Radius beschnitten werden. Die besonderen Chancen der Funktionspfarrämter liegen in den Kontaktmöglichkeiten zu Nicht-Kirchenmitgliedern bzw. zu Kirchenmitgliedern in existentiell bedeutsamen Lebenssituationen, die über die Parochie nicht oder kaum zu erreichen sind. Aufgrund ihrer tendenziellen Gemeindelosigkeit ist ihre Reichweite zugleich nicht zu überschätzen. Vgl. ausführlich: I. Karle, Der Pfarrberuf als Profession. Eine Berufstheorie im Kontext der modernen Gesellschaft, Gütersloh 22001, 243ff u. 262ff.

4 Zur Problematik der Stellenteilung im Gemeindepfarramt, insbesondere im Hinblick auf Ehepaare, vgl. ausführlich: I. Karle, Stellenteilung im Gemeindepfarramt – ein Modell der Zukunft?, in: Lernort Gemeinde 20, Heft 1 (2002), 26–34.

5 Zugleich werden in allen professionellen Kontexten durch die unmittelbare Orientierung am »Kunden« mehr Probleme geschaffen als gelöst, weil die Glaubwürdigkeit durch die Kundenorientierung leidet. Medizinern wird deshalb inzwischen schon wieder anempfohlen, keine rein partnerschaftliche Rolle im Verhältnis zum Patienten einzunehmen, sondern mit einem »sanften Paternalismus« Verantwortungsbereitschaft und Fürsorge zu signalisieren. Ähnliches dürfte im Übrigen auch im Blick auf das viel geschmähte Hirtenbild im Pfarrberuf gelten.

6 Ein problematisches Maß an Mitgliederorientierung verrät »Kirche mit Zukunft«: In dem Papier wird ein Pfarrer kritisiert, der sich von dem Wunsch eines Elternpaares, ihr Kind am Samstagnachmittag in der Krabbelgruppe statt im Gottesdienst am Sonntagmorgen taufen zu lassen, aus guten Gründen distanzierte. Vgl. a.a.O., 30f.

7 M. Josuttis, Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität, Gütersloh 1996, 164f.

8 A.a.O., 166.

9 In Westfalen wird sogar darüber nachgedacht, die Entwicklung der Spiritualität des einzelnen Mitarbeiters bzw. der einzelnen Pfarrerin zum Gegenstand von Personalentwicklung zu machen.

 

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. I. K., geb. 1963, Professorin für Praktische Theologie an der evangelisch-theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2003

1 Kommentar zu diesem Artikel
11.10.2023 Ein Kommentar von Ralf Krüger Auch wenn schon über 20 Jahre alt: Spitze! Leider haben es Kirchenleitungen nicht für nötig befunden, sich mit der Profession im Pfarramt professionell unter professionsethischen Gesichtspunkten auseinander zu setzen. Der Vortrag von Prof. Dr. Rainer Schützeichel, Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld, beim Generalkonvent 2017 zum Thema rief bei den Verantwortlichen Stirnrunzeln hervor. Jetzt (2023) ist das Schlagwort "Terminstundenerfassung" - ein freier Beruf wird kaputt gemacht!
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