5. Polemik gegen Religionsfreiheit

Besonders erschreckend ist Ziegerts Polemik gegen Religionsfreiheit. Was in Art. 4 GG und noch deutlicher in Art. 18 der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 verbrieft ist, wird in dem Aufsatz zu einem Ausdruck der »neue(n) Staats-Ideologie« (S. 294, Sp. 1) der USA mit der Absicht, amerikanische Sekten nach Europa zu exportieren. Somit erscheint jeder, der für Religionsfreiheit eintritt, als ein Agent der US-Verschwörung.

Natürlich dürfen wir als Vertreter der Landeskirchen über separatistische Gruppen aufklären und vor Sekten warnen; das ist Teil unserer Mitgliederbetreuung und in gewisser Hinsicht auch eine missionarische Strategie, die die staatlich eingeräumte Religionsfreiheit gar nicht tangiert. Nur sollten wir uns davor hüten, die Regierung zum Verbot bestimmter religiöser Gruppen aufzufordern. Wenn man wie in Westdeutschland 1949 die BürgerInnen in die Mündigkeit entlässt und auf eine Staatskirche bewusst verzichtet, dann muss man damit rechnen, dass Menschen eine privatisierte Religiosität ausleben und sich seltsamen Gruppierungen anschließen. Über das Verbot von Sekten kann nicht die Abstrusität ihrer Lehre aus schlaggebend sein, sondern nur deren eventuelle Bedrohung für die demokratische Gesellschaft. Islamische Moscheevereine sind aus rechtlicher Sicht nicht anders zu behandeln als amerikanische Sekten oder evangelikale Extremgruppen.

Die LeserInnen des Aufsatzes gewinnen den Eindruck, dass die Religionsfreiheit für Ziegert kein besonders hohes Gut darstellt. Er muss sich die Frage gefallen lassen, ob er Verhältnisse wie in der Volksrepublik China bevorzugen würde: Dort gibt es eine Reihe staatlich genehmigter Kirchen und Religionsgemeinschaften; alle, die als Gemeinschaft eigene religiöse Wege gehen, müssen jedoch mit Haftstrafen oder Schlimmeren rechnen. In einem Europa, das sich im vergangenen Jahrtausend mit Kreuzzügen und Inquisition hervorgetan hat, derartig gegen Religionsfreiheit zu votieren, zeugt von einem mangelnden Geschichtsbewusstsein.

6. Weitere Fehleinschätzungen

Auch Ziegerts Äußerungen über die Deutsche Evangelische Allianz (DEA) sind nicht in allem korrekt und fair. Dass deutsche Organisationen wie die DEA in der schwierigen Nachkriegszeit Unterstützung bei ähnlich strukturierten Werken in den USA gesucht haben, ist legitimer Ausdruck einer gewissen Hilfsbedürftigkeit und hat mit US-amerikanischen Unterwanderungsabsichten nichts zu tun. Die Zitate aus der Dissertation von S. Holthaus10 sind z.T. aus dem Kontext gerissen und führen daher in Ziegerts Aufsatz zu Missverständnissen. Richtig ist, dass die DEA nach 1945 mit eindringenden Positionen des US-Fundamentalismus rang. Ziegert verschweigt jedoch, dass die DEA dem Fundamentalismus nie erlegen ist. Ein Beobachter stellte 1966 fest: »In einem dramatischen Kampf wurde stellvertretend für die Kirche im Raum des Pietismus [wozu man auch die DEA zählte, Anm. G.G.] der stürmisch von Amerika eindringende Fundamentalismus abgeriegelt.«11 Die Glaubensbasis der DEA ist bis heute ›nur‹ evangelikal, nicht fundamentalistisch, was sich daran zeigt, dass die biblische Autorität und Inspiration auf die »Fragen des Glaubens und der Lebensführung« reduziert werden.12 ›Richtige‹ Fundamentalisten, die an der Exaktheit der Natur und Wissenschaft betreffenden Aussagen der Schrift festhalten, verweigern deshalb in den letzten Jahren zunehmend die Zusammenarbeit mit der DEA.

Gegen Ende seines Aufsatzes kommt der Verfasser zu dem Schluss, dass im Evangelikalismus »politische Motive die Oberhand über die großen christlichen Grundwahrheiten gewonnen« haben (S. 295, Sp.2). Dieser Eindruck kann nur entstehen, wenn man in evangelikalen Veröffentlichungen gezielt und selektiv nach politischen Äußerungen sucht. Wer auch nur kurze Zeit evangelikales Gemeindeleben kennen lernt, wird dagegen sehr schnell den Primat der klassischen Glaubenswahrheiten registrieren. Ziegerts Vorwurf lässt an Mt 7, 1–5 denken, die Sache mit dem Splitter und dem Balken: Er soll einmal die Predigten in den zentralen Gottesdiensten unserer Kirchentage, einschließlich des ökumenischen in Berlin, analysieren und fragen, was hier die Oberhand gewonnen hat. Es ist Doppelmoral, wenn wir den Evangelikalen Dinge vorwerfen, die wir selber tun.

Im gleichen Abschnitt wirft der Autor den Evangelikalen indirekt vor, sie würden die Botschaft von Bibel und Bekenntnis nicht verstanden haben, wonach kein Gläubiger im alleinigen Besitz der Wahrheit sei, sondern zur Toleranz bereit sein müsse (S. 295, Sp. 2). Nun kann man vielen Evangelikalen durchaus Wahrheitsabsolutismus und Intoleranz vorwerfen, aber das als Ausdruck der biblischen und kirchlich-traditionellen Lehre begreifen zu wollen, ist theologischer und historischer Unsinn. Weder Jesus noch Paulus waren gegenüber anders Denkenden besonders tolerant; und auch die altkirchlichen Bekenntnisse wurden dazu verwandt, Ketzer zu erkennen und zu eliminieren. Toleranz und Wahrheitsrelativismus sind keine Errungenschaft von Bibel und Bekenntnis, sondern eine Folge ›aufklärerischer‹ Entwicklungen im neuzeitlichen Geistesleben.

Ziegerts Ausführungen enthalten auch einige Widersprüche, die den Text als nicht sauber erarbeitet erscheinen lassen: Einerseits spricht er von einer wachsenden Fundamentalisierung des Evangelikalismus, andererseits sieht er Tendenzen des »Liberalismus« (S. 293, Sp. 1). Beides schließt sich gegenseitig aus. Einerseits wirft er den Evangelikalen ein ›Feindbild Islam‹ vor (ebd.), andererseits warnt er vor den Gefahren einer US-evangelikalen Verschwörung und verbreitet damit ein antiamerikanisches Feindbild. Auf der einen Seite konstatiert er bei den Evangelikalen einen Primat der Politik, auf der anderen Seite beklagt er, dass es ihnen nur um den »persönlichen Nutzen« (S. 295, Sp. 2) des Glaubens gehe. Wie passt das zusammen? Politisches Engagement blickt doch immer auch auf ein gemeinschaftliches, öffentliches Ziel. Und warum liegt keine »wirklich religiöse Haltung« (S. 295, Sp. 3) vor, wenn man sich seine Denomination nach dem Nutzen wählt? Seit Bestehen der Religionen sind Eigennutz und Glaube eine Verbindung eingegangen. Man kann einem theologischen Gegner vielleicht seine Rechtgläubigkeit, jedoch nicht seine Religiosität absprechen.

Es kommt noch schlimmer, wenn Ziegert den Gemeinden im Zuge der kirchlichen Ökonomisierung – und die Evangelikalen haben sich seiner Meinung nach schon dem Markt ausgeliefert – generell »religiöse Geschäftemacherei« unterstellt, »in der von vornherein ... mit unmoralischen Praktiken und kriminellen Vorgehen der Führungspersonen zu rechnen ist« (S. 295, Sp. 3). Ziegert sagt nicht, dass Skandale und Straftaten auftreten können, nein, er behauptet, dass damit von vornherein zu rechnen sei. Um eine solche Aussage treffen zu können, müsste eine repräsentative Auswahl evangelikaler Gruppen auf ihre Finanzierungspraxis hin untersucht werden, und wenn bei der Mehrheit in der Vergangenheit kriminelle Delikte vorgefallen sind, dann kann man ungefähr angeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit solche in der Zukunft erneut auftreten. Der Weltanschauungsbeauftragte zitiert aber keine derartige Untersuchung; es ist sein bloßer Eindruck, dass der »neoevangelikale Spuk ... sein begrenztes Publikum noch lange ... . ausbeuten« wird (S. 296, Sp. 1). Über andere Frömmigkeitsformen ohne die Nennung von Fakten derart herzuziehen, ist nichts anderes als eine Verleumdung.

Ein weiterer Widerspruch findet sich am Schluss des Aufsatzes: Um am Ende nach all den Unterwanderungsszenarien noch ein paar tröstende Sätze zu formulieren, räumt Ziegert ein, dass der Evangelikalismus doch nicht so weit verbreitet sei, wie es vielleicht den Anschein habe. Diese Schlussworte lassen manches am Text fraglich erscheinen, denn je geringer die Verbreitung des Evangelikalismus, desto geringer ist auch die Gefahr, die von dieser Bewegung ausgeht.

7. Plädoyer für einen fairen Umgang mit dem Evangelikalismus

Meine Auseinandersetzung mit Ziegerts Aufsatz impliziert keineswegs die Forderung, man dürfe Evangelikale nicht mehr kritisieren. Man kann einzelnen Personen und Gruppen dieser Ausrichtung so manches vorwerfen: Kritik an der politisierten Kirche bei gleichzeitig eigenen politischen Ambitionen; mangelnde Differenzierung zwischen friedfertigen und gewaltbereiten Muslimen; naive Apokalyptik, die den Antichristen stets mit dem jeweiligen Hauptfeind der USA identifiziert; das oft verbohrte Sendungsbewusstsein gerade amerikanischer Evangelikaler; der nicht evangeliumsgemäße Extrem-Patriotismus vieler US-Evangelikaler; fehlendes Interesse am Geschick der Palästinenser; autoritäre Machtmenschen, die ihre Gruppenangehörigen in psychischer Abhängigkeit halten und so weiter.

Solche berechtigte Kritik sollte jedoch nur auf eine faire und korrekte Art und Weise geschehen, die sich an Fakten hält und Phänomene einander sachgemäß zuordnet. Das heißt z.B., dass singuläre Aussagen und einzelne Ungeheuerlichkeiten nicht als repräsentativ für die gesamte Bewegung ausgegeben werden können. Ziegert verweist zu Recht auf die skandalöse Praxis gewisser Spendenprediger, die mit Segensverheißungen und Fluchandrohungen den Zehnten eintreiben. Dieser Missbrauch der Gutgläubigkeit schlichter Christenmenschen darf jedoch nicht zum Anlass genommen werden, den Evangelikalismus als Ganzes zu verunglimpfen. Die Art, wie die meisten evangelikalen Gemeinden in Deutschland zu Geld kommen, ist in keinster Weise verwerflicher als die Finanzierungslösungen der Großkirchen.

Jahrzehntelang hat man an den Evangelikalen getadelt, sie würden nur den individuellen Glauben predigen und keine politisch-gesellschaftliche Verantwortung tragen wollen. Jetzt, wo sie sich zunehmend politisch engagieren, macht ihnen Ziegert gerade dies zum Vorwurf, weil sie sich eben – in den Augen des Kritikers – nicht für die ›richtige‹ Politik einsetzen. Eine Demokratie lebt von dem Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition, progressiv und konservativ. Sie hat sich nur gegenüber solchen Entartungen zur Wehr zu setzen, welche Grundgesetz und Menschenrechte außer Kraft setzen wollen. Die meisten (nicht alle) Evangelikalen verfolgen eine konservative, vielfach an CDU/CSU ausgerichtete Politik, wozu sie in einem freiheitlichen Staat auch das moralische Recht besitzen; nur vor dezidiert fundamentalistisch-totalitären Ansprüchen müssen wir warnen. Die von Ziegert heraufbeschwörte Partei Bibeltreuer Christen, deren »theokratische Tendenzen« (S. 293, Sp. 1 ) erst einmal belegt werden müssten, ist aufgrund ihres geringen Wahlerfolges für den Evangelikalismus nicht repräsentativ.

Letztendlich ist Ziegerts Panikmache eine bösartige Verunglimpfung der Evangelikalen gerade auch in Deutschland. Der unbedarfte Leser wird künftig den Vertretern der evangelikalen Bewegung mit unberechtigtem Misstrauen begegnen und an ähnliche Horrorszenarien denken wie jemand, der in jeder deutschen Döner-Bude eine Al-Qaida-Zelle vermutet.

Eine destruktive Pauschalkritik am Evangelikalismus, wie sie uns hier vorliegt, kann auch nicht im Interesse der Landeskirchen sein, denn die so Kritisierten werden im Kern ihrer Identität getroffen, was sie zu einer Generalabwehr zwingt und ihnen jede Chance auf die Korrektur von fehlerhaften Entwicklungen verbaut. Für einen ›wahrhaftigen‹ Fundamentalisten muss der Text sogar als Empfehlungsschreiben gelten, weil er verdeutlicht, wie gefährlich er ist. Wenn ein Fundamentalist schon nicht geliebt wird, dann will er wenigstens gehasst und gefürchtet sein. Ziegerts Aufsatz fördert also nur den radikal-konservativen Evangelikalismus = Fundamentalismus. Man kann auch nicht den islamistischen Terror besiegen, indem man gegen jeden Moscheeverein polemisiert. Evangelikalen Monopolansprüchen kann begegnet werden, ohne dass man dem Evangelikalismus jegliche Existenzberechtigung raubt.

Anmerkungen

1 Richard Ziegert; Die EKD-Kirchen angesichts der Globalisierung, in: DtPfrBl 103 (Heft 6/Juni 2003) 291–297.

2 Erich Geldbach; Art. Evangelikale Bewegung, in: EKL3 1 (1986) Sp. 1187.

3 Vgl. die Rede von der »evangelikale(n) Bewegung« in H. Kittel; Art. England, in: RGG2 2 (1928) Sp 150. – Der englische Ausdruck evangelical war einst gleichbedeutend mit evangelisch, ist seit der Aufklärung jedoch den theologisch konservativeren Kreisen vorbehalten. Hinsichtlich der Gesamtheit der reformatorischen Kirchen spricht man dagegen von protestant.

4 Vgl. Fritz Laubach; Aufbruch der Evangelikalen, Wuppertal 1972.

5 So Erich Geldbach (1986) Sp. 1188f. – Fritz Laubach und Helge Stadelmann (Hg.); Was Evangelikale glauben. Die Glaubensbasis der Evangelischen Allianz erklärt, Wuppertal 1989.

6 So Wilfried Joest; Art. Fundamentalismus, in: TRE 11 (1983) 732. – Historisch entstand der Fundamentalismus-Begriff im Gefolge der Schriftenreihe The Fundamentals (1910–1915), welche die traditionellen Glaubensinhalte gegenüber der modernen Theologie verteidigte. Vgl. dazu Erich Geldbach; Der frühe Fundamentalismus. Einige Aspekte und Thesen, in: L.E. Träder (Hg.); Fundamentalismus. Glaube – Angst – Gewißheit, Frankfurt a.M. (1996) 11–39. – Vgl. auch James Barr; Art. Fundamentalismus, in: EKL3 1 (1986) Sp. 1404–1406. – Der Fundamentalismus hat seine theologische Grundlage 1979 in den sog. Chicago-Declarations veröffentlicht, bei der Erarbeitung des Textes war aus dem deutschsprachigen Europa nur der Schweizer Samuel Külling anwesend. Vgl. dazu Thomas Schirrmacher (Hg.); Bibeltreue in der Offensive. Die drei Chicago-Erklärungen zur biblischen Irrtumslosigkeit, Hermeneutik und Anwendung, Bonn 1993.

7 Christian J. Jäggi; Fundamentalismus heute – eine vielschichtige Erscheinung, in: Ders. und David Krieger; Fundamentalismus. Ein Phänomen der Gegenwart, Zürich Wiesbaden (1991) 20.

8 Zwei Zitate: Sven Grosse; Die Bibel als Grundlage der SMD-Arbeit, in: Rechenschaft geben von unserer Hoffnung. Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Studentenmission in Deutschland, Marburg (1999) 130f.

9 Manfred Josuttis; »Unsere Volkskirche« und die Gemeinde der Heiligen. Erinnerungen an die Zukunft der Kirche, Gütersloh (1997) 102.

10 Stephan Holthaus; Fundamentalismus in Deutschland. Der Kampf um die Bibel im Protestantismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Bonn 1993.

11 Hellmuth Frey in einem Vortrag. Zitiert nach Holthaus (1993) 316. Ein Zitat, das uns Ziegert vorenthält, obwohl er diese Seite nachweislich gelesen hat (vgl. seine Anm. 41).

12 Laubach und Stadelmann (1989) 15.

 

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfr. z.A. G. G. ist Doktorand der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und beschäftigt sich mit einem Thema der kirchlichen Zeitgeschichte.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 9/2003

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