Kenner der aktuellen Sachbuchszene wissen, dass die Überschrift meines Beitrags eine Anspielung auf den Untertitel von U. Ulfkottes Enthüllungstory Der Krieg in unseren Städten darstellt (März 2003). Der Redakteur der FAZ versucht hier aufzuzeigen, »wie radikale Islamisten Deutschland unterwandern« (Untertitel) und dass die bundesrepublikanische Demokratie damit der größten Belastungsprobe seit 1949 ausgesetzt ist. Ulfkotte lässt kein Ereignis aus, das die islamistische Gefahr illustrieren könnte und nennt zahlreiche Personen und Organisationen mit Namen. Kein Wunder also, dass er sich in Rezensionen und gerichtlichen Klagen den Vorwurf gefallen lassen muss, er hätte nicht sorgfältig recherchiert und würde bestimmte Individuen und Gruppen diffamieren. Bei der Neuauflage muss der Verfasser jedenfalls etliche Änderungen vornehmen.

In einer freiheitlichen Gesellschaft ist es zwar legitim, gegen Personen oder Bewegungen zu polemisieren, doch haben die Betroffenen das Recht auf eine gerechte und korrekte Darstellung. So wie man Ulfkotte widersprochen hat, so muss sich auch R. Ziegert den Kritikern stellen. Letzterer ist promovierter Pfarrer und Landeskirchlicher Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche in der Pfalz. In der Juni-Ausgabe des Deutschen Pfarrerblattes ließ er einen Vortrag abdrucken, den er am 15.10.2002 im badischen Lahr unter dem Titel Die EKD-Kirchen angesichts der Globalisierung gehalten hatte.1 Der Vortragscharakter kann keine Entschuldigung für unsaubere Arbeit, undifferenzierte Hetze und für Fehleinschätzungen sein. Von einem Theologen ist zu erwarten, dass seine Referate auf Reflexions- und Urteilsvermögen fußen und vor der Veröffentlichung ggf. nochmals überarbeitet werden. Die folgenden Kritikpunkte sind freilich NICHT gegen Ziegert als Person gerichtet, auch nicht gegen seine sonstigen Publikationen oder seinen kirchlichen Dienst im Ganzen; ich beziehe mich ausschließlich auf den im Pfarrerblatt erschienenen Aufsatz von Juni 2003.

1. ›Axis of evil‹ = ›axis of evangelicals‹?

Wie der Titel Die EKD-Kirchen angesichts der Globalisierung nahelegt, beginnt der Aufsatz mit einem Hinweis auf die immer enger zusammenwachsende Weltgesellschaft, in der verschiedene Strömungen, auch Religionen um die Vorherrschaft wetteifern. Die Herausforderumgen dieser Globalisierung heißen Entdemokratisierung, Wachstumszwang und Gewinnorientierung in wirtschaftlicher Hinsicht sowie eine umfassende Orientierung an Kundenbedürfnissen. In der globalisierten Welt spielen, was das Christentum betrifft, die katholisch-protestantischen Differenzen eine immer geringfügigere Rolle. Vielmehr tun sich neue Gräben auf, die den kulturellen Unterschieden zwischen Mitteleuropa und den USA entsprechen. Ziegert sieht also einen clash of civilizations auf uns zukommen, nur nicht in der Weise, wie ihn S. P. Huntington 1997 prophezeit hat; der Kampf ereignet sich stattdessen zwischen europäischer und nordamerikanischer Kultur.

Bislang blieben Ziegerts Ausführungen im Allgemeinen, dann erfahren die LeserInnen, welche christliche Bewegung die amerikanische Gefahr in alle Welt trägt: das »untereinander hochgradig vernetzte evangelikale Personengeflecht« (S. 291, Sp. 2). Der Autor bedient sich, vielleicht auch ohne es zu wollen, eines apokalyptischen Schwarz-Weiß-Schemas, bei dem die europäische Volkskirchlichkeit das Gute und der evangelikale Separatismus das Böse verkörpert. Damit nähert sich der Aufsatz der Qualität einer politischen Rede von George W. Bush, nur dass – dem Inhalt, nicht der Begrifflichkeit nach – aus der axis of evil eine axis of evangelicals wird. Je intensiver die Gefährlichkeit des angeblich Bösen ausgemalt wird, desto mehr werden die Vertreter des vermeintlich Bösen dämonisiert und damit ihrer Menschlichkeit beraubt. Evangelikale werden mit ausschließlich negativen Eigenschaften charakterisiert; zu ihrer Kennzeichnung fallen allein in drei Sätzen (!) Phrasen wie »religionspolitisches Konsortium«, »Regression«, »subtil gewaltbereiter christlich-religiöser Atavismus«, »Steuerungsgewalt über die moderne Gesellschaft« sowie »zutiefst autoritäre ..., nicht mehr entfernt demokratische Vorstellung von ›reiner‹ Gesellschaft« (S. 291, Sp. 2). Wer so verteufelt wird, hat keine gerechte Beurteilung mehr zu erwarten. Die axis of evangelicals muss schonungslos bekämpft werden.

2. Antieuropäische Verschwörung der USA

Um die Durchtriebenheit der Evangelikalen zu unterstreichen, konstruiert Ziegert eine regelrechte Verschwörungstheorie: Dass diverser Enthüllungsbüchern zufolge die erzkapitalistische US-Wirtschaft »mit allen Mitteln« die »Infiltration jeder Nische des europäischen Kulturbetriebs« vorantreibe (S. 292, Sp. 2), bringt Ziegert zu der Überzeugung, dass gerade den Evangelikalen eine prominente Rolle zukommt. Bei ihrer anvisierten Kontrolle der europäischen Gesellschaft werden sie sogar von der US-Regierung unterstützt, die an dem »Export ihres ›New Evangelicalism‹ auch nach Deutschland« (S. 292, Sp.1) maßgeblich beteiligt sei. Das kürzlich gestartete Programm des Bibel-TVs ist in diesem Komplott ein wesentlicher Schritt zur US-evangelikalen Unterwanderung der deutschen Medien. Neue evangelikal charismatische Zeitschriften werden plötzlich zum »Teil einer Strategie« (S. 292, Sp.3).

Diese Redeweise impliziert, dass irgendwo in den USA mächtige ›Strategen‹ sitzen, die analog zu Film-Bösewichten gemeinnützig getarnte Projekte initiieren, die nur die Vorarbeit zur weltweiten Machtübernahme darstellen. Selbst wenn es so etwas gäbe, heißt das noch lange, dass der Evangelikalismus Teil dieses Plans ist. Das Ziegert’sche Konstrukt hat wie alle Verschwörungstheorien das Problem, dass es keine ausreichenden Beweise vorzuweisen hat und deshalb nicht verifiziert werden kann. Was nicht verifiziert werden kann, ist in der Regel auch nicht falsifizierbar, woraus Verschwörungstheoretiker ihre suggestive Überzeugungskraft gewinnen. Eine aus ideaSpektrum zitierte Einzelaussage eines Mitarbeiters von Jugend mit einer Mission kann jedenfalls genauso wenig als Indiz für eine US-evangelikale Infiltration gelten wie ein Aufruf O. Bin Ladens das Wesen des Islam kennzeichnet.

Dass viele evangelikale Pastoren aus Deutschland eine Ausbildung in den USA erfahren haben, bildet keineswegs einen Hinweis auf eine amerikanische Verschwörung. Vielmehr ist dieses Phänomen soziologisch zu erklären: Jedes Individuum mit spezifischen Überzeugungen sehnt sich nach einem Umfeld, in dem die gleichen Wertmaßstäbe gelten. Deshalb ziehen Angehörige des Evangelikalismus evangelikale Ausbildungsstätten vor, genauso wie Nichtevangelikale solche Schulen zu meiden suchen. Ein Studienaufenthalt in den USA bildet für Evangelikale immer eine interessante Option, weil dort viele Einrichtungen den rechtlichen Status einer Hochschule samt Promotionsberechtigung innehaben und finanziell besser ausgestattet sind als deutsche Pendants.

Nichtevangelikale TheologInnen können sich mit Hilfe dieser Komplott-Hypothese gegenüber jeglichem Impuls von Seiten der Evangelikalen immunisieren; deren Vorschläge z.B. zu Gemeindebau und Kirchenentwicklung brauchen gar nicht mehr diskutiert werden, da nur ein »amerikanisiertes Gehirn«, das den Glauben an den Kult der »totalen Freiheit des Marktes« ausgeliefert hat, solche Dinge ausbrüten kann (S. 292, Sp. 3).

3. Keine Differenzierung zwischen Evangelikalismus und Fundamentalismus

Ziegert bewegt sich mit seinem Aufsatz in einem Gebiet, für das es keine von vornherein klaren Begriffsbestimmungen gibt. Zwar liefert die Fachliteratur eine Reihe von Definitionen, der pfälzische Weltanschauungsbeauftragte macht seine LeserInnen jedoch nicht mit ihnen vertraut. Dass »zwischen Fundamentalismus und Evangelikalismus zu unterscheiden« ist, kann jedem theologischen Lexikon entnommen werden.2 Die Art und Weise, wie Ziegert mal diesen, mal jenen Terminus verwendet, kann unbedarfte LeserInnen zur Annahme führen, beide Begriffe seien deckungsgleich. Damit werden zumindest implizit alle Negativeigenschaften des protestantischen Fundamentalismus zugleich zu Wesensmerkmalen des gesamten Evangelikalismus erklärt.

Das deutsche Wort evangelikal ist eine Lehnbildung aus dem englischen evangelical und bezog sich ursprünglich auf die angelsächsischen revival movements seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert.3 Nach 1945 suchten Gemeinschaftsbewegung, diverse Freikirchen und andere Gruppen nach einem Dachbegriff, mit dem sie ihrer Zusammenarbeit Ausdruck verleihen konnten. Mit dem Wort Pietismus konnten sich nicht alle identifizieren, sodass spätestens in den 1960er Jahren der Ausdruck Evangelikalismus zur Bezeichnung der deutschen Verhältnisse herangezogen wurde und damit seine heute allgemein übliche Bedeutung annahm.4 Damit ging gegenüber dem englischen Äquivalent eine erhebliche Bedeutungseinschränkung einher: Personen wie W. Löhe, J. H. Wichern, Franz Delitzsch, J. K. Chr. v. Hofmann, A. Schlatter, H. Sasse u.v.a. dürften zwar als evangelical gelten, weil sie alle von der Erweckungsbewegung und den ihr nachfolgenden Impulsen geprägt sind, können aber nicht als evangelikal im jetzigen Sinne bezeichnet werden. In theologischer Hinsicht versteht man unter den Evangelikalen Christen aus Landes- und Freikirchen, die trotz Bibelkritik weiterhin an der Inspiration und Autorität der Heiligen Schrift als »einige(r) Regel und Richtschnur« (FC Epit. 0) festhalten, für die das Zentrum der christlichen Lehre im erlösenden Sühnetod Jesu Christi verankert ist, die die eigene Hinwendung zum Glauben (»Bekehrung«) und ein ethisch verantwortliches Leben (»Heiligung«) als wesentlich betonen sowie von einer leibhaftigen Wiederkunft Jesu Christi und einem sich daran anschließenden Endgericht ausgehen.5

Beim Fundamentalismus-Begriff muss man mindestens drei Definitionen vornehmen:

1. Der konservative Flügel des Evangelikalismus, der den noch unbestimmt gelassenen Glauben an die Schriftautorität auf die Lehre von der biblischen Unfehlbarkeit (infallibility) bzw. Irrtumslosigkeit (inerrancy) festschreibt.6 Daraus ergibt sich z.B. die radikale Ablehnung der Evolutionslehre.

2. Das unbeirrbare und unnachgiebige Festhalten an bestimmten Positionen, das keine Relativierungen zulässt; hier kann man auch von islamischem, jüdischem oder grünem Fundamentalismus sprechen. Gemeint sind »nicht bestimmte Inhalte einzelner Weltbilder ..., sondern die Haltung und das Verhalten gegenüber von Menschen, die andere Weltbilder vertreten.«7

3. Eine Kombination von beiden Definitionen: Fundamentalisten sind solche konservativen Evangelikalen, die keine anderen Weltbilder zulassen, sondern in dem Bewusstsein des Wahrheitsbesitzes unnachgiebig gegen sie vorgehen.

Ich plädiere für die Verwendung dieser dritten Definition anstelle der ersten, denn wenn überhaupt, dann kann nur diese dritte Gruppe eine Gefahr für unsere freiheitliche Gesellschaft und unsere plurale Volkskirche darstellen.

4. Diffamierung der SMD

Der pfälzische Weltanschauungsbeauftragte irrt sich darin, dass die Studentenmission in Deutschland (SMD) »immer fundamentalistischer« werde (S. 293, Sp. 2). Schon die Gründungsväter der SMD bekannten sich nur zur ›vollen Vertrauenswürdigkeit‹ der Bibel in Glaubensaussagen, nicht zu ihrer absoluten Irrtumslosigkeit. Zwischen beiden Verstehensweisen besteht ein großer Unterschied, denn der erstgenannte Zugang zur Heiligen Schrift rechnet mit Gottes Wort im Menschenwort, nicht mit der Absicherung der »Wahrheit jeder biblischen Aussage«. Inzwischen macht sich in der SMD eher eine Liberalisierungstendenz bemerkbar, die ›echte‹ Fundamentalisten dazu veranlasst, sich von der SMD zu distanzieren. Die Lehre von der biblischen Unfehlbarkeit wird von der SMD-Leitung kategorisch abgelehnt: »Fehler in einzelnen Sachaussagen der Bibel vermögen Gott nicht daran zu hindern, das Ziel zu erreichen, um dessentwillen er die Bibel zu seinem Wort gemacht hat.«8 Dieses Schriftverständnis ist nicht fundamentalistisch, sondern links-evangelikal.

Ziegert begründet seine Ablehnung dieser Gruppierung mit den missionarischen Absichten der so genannten ›Gebetstage für die Schule‹ der Schüler-SMD. Er fügt dem, was diese Gruppe unter Evangelisation versteht, ausnahmslos negative Attribute bei: »aggressiv-frontale Missionierung«, »verheerende soziale Folgen«, »Propaganda«, »religiös-elitäres Bewusstsein«, »Pharisäer«, »sie seelisch für ihr Leben beschädigt« (S. 293, Sp. 3). Im Kampf gegen das evangelikale Bekehrungsverständnis ist beim Autor eine größere Leidenschaft erkennbar als in den übrigen Abschnitten. Gerade hier fürchtet er um das Wesen der Kirche. Der Satz, der die Neubekehrten als elitär, pharisäerhaft sowie als ›seelisch beschädigt‹ bezeichnet, ist mit Kursivdruck hervorgehoben. Warum? Wenn ich Ziegert einmal gegenüberstehen sollte, würde ich ihn fragen, ob seine Aggressivität mit eigener Negativerfahrung zusammenhängt. Wurde er oder ein Mitglied seiner Familie einst Opfer eines aufdringlichen Konversionszwanges? Diese Frage ist legitim, denn es gibt keine objektive Theologie und unser eigenes Glaubenssystem ist immer Ausdruck unserer Biographie, unserer Wünsche und Ängste.

Natürlich ist dem Weltanschauungsbeauftragten darin Recht zu geben, dass man immer wieder verhängnisvollen Bekehrungspraktiken begegnet, bei denen mit Höllenstrafen gedroht und die Einhaltung einer spezifischen Abfolge von Schritten gefordert wird. Darüber darf man aber nicht vergessen, dass Missionstätigkeit und der (explizite oder implizite) Konversionsaufruf anthropologische Phänomene sind und deshalb jedes Individuum betreffen. Ein Friedensmarsch oder eine Anti-Globalisierungsdemonstration ist oft auch nichts anderes als eine ›aggressiv-frontale Missionierung‹', da sie mit der Suggestivkraft einer Menschenmasse unschlüssige Leute von ihren Idealen zu überzeugen suchen und auf deren ›Bekehrung‹ spekulieren sowie anders Denkenden das Gefühl moralischer Defizite vermitteln. Die evangelikale Bekehrungspraxis ist also gar nicht so exotisch-ungewöhnlich wie man vielfach meint. Um mit M. Josuttis zu sprechen: »Die Ausbreitung von Machtfeldern der Konversion ist für das Leben der Kirche wahrscheinlich wichtiger als die Ausbildung von theologischen Schulen (…) Hier kommt es gerade im Bereich von Religion zu individueller Erfahrung. Hier erfolgt die Gestaltung der Existenz bis in die Emotionalität und die Leiblichkeit hinein aus der Kraft des göttlichen Geistes. Das christliche Leben wird hier weder mit der Zugehörigkeit zu einer Organisation noch mit der Beteiligung an einem Milieu verwechselt.«9

 

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfr. z.A. G. G. ist Doktorand der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und beschäftigt sich mit einem Thema der kirchlichen Zeitgeschichte.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 9/2003

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