Wovon Jesus redet

Die Parabel vom liebenden Vater rechtfertigt den Vorwurf an Jesu Lebenspraxis, dass er Sünder annimmt und mit ihnen speist (V. 2). Von dem liebenden Vater aus betrachtet ist der Text mit beiden Söhnen seit Jesu Erzählung eine Einheit und nur als Ganzes zu verstehen. Ohne explizit von Gott zu reden, nimmt Gott für uns in der Vaterfigur Gestalt an. Die von dem Establishment kritisierte Tischgemeinschaftspraxis Jesu mit Sündern führt auch in der Parabel zum Eklat.

 

1. Akt

 

Der Vater zahlt dem jüngeren Sohn ohne Widerstand sein ihm (nach jüdischem Recht) zustehendes Erbteil aus und lässt ihn ohne Vorwürfe seine Wege ziehen. Der jüngere Sohn will sich in weiser Voraussicht in der Fremde eine eigene Existenz aufbauen und sein Glück suchen. Doch die gewonnene Freiheit beinhaltet das Risiko des Scheiterns. Wie ein Lottogewinner gerät der jüngere Sohn in den Rausch des Geldes, das schneller verbraucht ist, als er es gewinnbringend anlegen konnte. In seinem sozialen Abstieg gerät er auch in religiöser Hinsicht aus der Bahn. Er verrichtet heidnische Arbeit und gibt seine religiösen Grundsätze und Rituale auf. Was bleibt, ist am Ende einzig die Erinnerung an das Zuhause (Erziehung, Tradition, Religion), die ihn ermutigt, sich auf den Weg zu seinem Vater zu machen, wo es ihm selbst als Tagelöhner besser ergehen wird.

 

 

2. Akt

 

Der Vater sieht den heimkehrenden Sohn schon in weiter Ferne. Er hat offensichtlich nie daran gezweifelt, dass sein Sohn wieder zurückkommen wird! Des Vaters seelische Befindlichkeit wird mit dem Wort »esplangchnistä» wieder gegeben (V. 20). Man könnte übersetzen: »Es rührte ihm die Gedärme um (vor Freude)» – und man versteht, wie heftig sein »Bauchgehirn» auf diesen glückhaften Moment reagiert. Ohne einen Wimpernschlag zu zögern, fällt er dem Zurückkommenden um den Hals und küsst ihn. Mit diesem Kuss hat er das darauffolgende Bekenntnis seines Sohnes (V. 21) vorauseilend beantwortet: »Du bist und bleibst mein Sohn!» Fünf imperative Anweisungen (V. 22f) bekräftigen die Güte und Freude des Vaters über den »wiedergefundenen» Sohn, der mit den Insignien der Sohnschaft ausgestattet wird.

 

 

3. Akt

 

Der ältere Sohn ist in seinem Element: bei der Arbeit auf dem Feld. Als er nach Hause kommt, widerfährt ihm nicht der gleiche Empfang, der gerade seinem jüngeren Bruder zuteil geworden ist. Er hört Musik und Tanz und erfährt vom Festtagsbraten, der zur Freude über die Heimkehr seines Bruders aufgetischt wird. Die Zornesröte steigt ihm ins Gesicht: Der alles verprasst hat, wird auch noch belohnt. Hätte er das nicht all die Jahre verdient gehabt, der rechtschaffen, fleißig, ordentlich, gewissenhaft, zuverlässig seine Arbeit zuhause verrichtet hat?! Der auf »Fun» verzichtet und durch Leistung unermüdlich des Vaters Anerkennung und damit seine eigene Bestätigung gesucht hat.

Der Vater geht hinaus zu dem draußen Verharrenden und bittet ihn gegen dessen Einwände (V. 29f) hereinzukommen und mitzufeiern. Wie weit der ältere – zuhause gebliebene - Sohn sich von zu Hause entfernt hat, verdeutlicht seine Wortwahl. Die

Formulierung »... da dieser dein Sohn gekommen ist ...» verweigert dem Heimgekehrten das Brudersein. Der Vater sucht diese Beziehungsschieflage wieder zurechtzurücken: 1. indem er den Älteren mit »mein Sohn» anredet und ihn mit sich (rechtlich) gleichstellt. Und 2. indem er ihn ermutigt mitzufeiern, weil »dein Bruder» wiedergefunden ist.

 

 

4. Akt

 

Der ungewisse Ausgang der Geschichte reicht in unser Leben hinein. Mit welchem der beiden Söhne identifizieren wir uns? Mit dem Jüngeren, der die Normen und Werte in Frage stellt, der auszieht, um seine Freiheit zu leben, der den Mut hat, Fehler zu machen und dafür gerade zu stehen, der nicht zu stolz ist, um Vergebung zu bitten? Oder mit dem Älteren, der die vorhandene Ordnung anerkennt, der zuhause bleibt, weil er das Vertraute dem Unbekannten vorzieht, der Angst hat, es nicht gut genug zu machen, der ja nichts falsch machen möchte, um nicht sich und anderen seine Fehler einzugestehen? Vielleicht

haben wir auch von Beiden mehr oder weniger etwas in unserer Seele? Der jüngere Sohn hat seine Freiheit überzogen, der ältere hat sie nie genutzt. Der eine wurde zum Casanova, der andere blieb ein Genussbanause. Der Heimkehrer hat seinen Stolz in der Fremde gelassen, der Daheimgebliebene konnte ihn noch nicht überwinden.

Und was neidet einer dem Anderen oder stellt durch unseliges Vergleichen mit dem

Anderen seine Beziehung in Frage? »Dieser dein Sohn», aber nicht mein Bruder! Bin ich nicht der Bessere von uns Beiden? Sich selbst mit guten Eigenschaften darstellen, während uns bei anderen eher die schlechten einfallen, kennzeichnet unsere Rivalität, die uns auch hinter der Maske unserer Frömmigkeit zu eigennützigem Verhalten verleitet. Muss man erst ausziehen wie der Jüngere, um zurückzufinden? Muss man erst die Fremde kennenlernen, um Toleranz zu gewinnen? Muss einem erst der liebende Vater entgegenlaufen, um Vergebung zu seinem eigenen Lebensprinzip zu machen? Vielleicht täte es dem Älteren gut, seine Sachen zu packen und selbst ein paar Jahre aushäusig zu verbringen. Klärungsprozesse brauchen ja bekanntlich ihre Zeit. Und Abstand nehmen, Distanz gewinnen, tut gut.

 

Wovon wir leben

Der liebende Vater urteilt nicht über seine beiden Söhne. Er zieht nicht den Einen dem Anderen vor. Den Einen lässt er ziehen, den Anderen zwingt er nicht zuhause zu bleiben. Dem Einen läuft er entgegen, zu dem Anderen geht er hinaus. Dem Einen schenkt er ein Freudenfest, dem Anderen sagt er: »Alles, was mein ist, ist auch dein.» Beiden macht er deutlich: Ihr lebt von dem, was ich euch schenke: Freiheit und Güte. Darüber könnt ihr euch allezeit ungetrübt freuen. Daraus könnt ihr immerfort guten Mut für euer Leben schöpfen. Davon könnt ihr glücklich leben.

 

Wovon die Predigt spricht

Eine (allzu) bekannte Geschichte hat es schwer, neu gehört zu werden. Eine fiktive Übertragung in eine ausgedacht konkrete Situation: »Vor Jahren hat sich in NN. zugetragen ...« könnte die Sinne der ZuhörerInnen »fesseln» und die Parabel vom liebenden Vater neu zur Sprache bringen. Wo im Erzählen die beteiligten Figuren konturiert auftreten, wird den HörerInnen die Möglichkeit zur Identifikation und Abgrenzung gegeben. Sie finden sich sozusagen im erzählten Geschehen wieder und erleben das Erzählte »hautnah».

Thematische Facetten könnten u.a. Themen wie Gerechtigkeitsverständnis, Geschwisterkonflikt, Wertekoordinaten, Vergebungsfähigkeit, Erbangelegenheiten, Jesu Gottesbild, Erziehung, religiöse Prägung, menschlichen Umgang, elterliche Wertschätzung sein.

 

Lieder:

EG 610 (EKHN), 620 (EKHN), 638 (EKHN).

 

Kurt Rainer Klein

 

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 5/2003

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